Germanistische Forschung: Bestand, Prognose, Perspektiven

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Durch das Präsens zu Fall gebracht… offen den Fragen der Weltpresse stellte, war ohnehin ein bis zum Vortag nie dagewesenes Novum. Auch deshalb dürfe Schabowski verunsichert gewesen sein. Waren am Vortag die Journalisten noch wegen des Rücktritts der Regierung in Aufregung versetzt worden, so deutete diesmal nichts auf eine Sensation hin, oder wie es der Fernsehjournalist des Westdeutschen Rundfunks (WDR) Erhard Thomas, der Korrespondent des Ersten Deutschen Fernsehens (ARD), später formulierte: Die abendliche Pressekonferenz von Politbüromitglied Günter Schabowski plätscherte über eine Stunde so dahin, dann ganz am Ende plötzlich das Thema Flüchtlingswelle […] (Tagesschau 1989).

Riccardo Ehrman, der die italienische Nachrichtenagentur Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA) vertrat, hatte es angesprochen, doch es sah nicht so aus, als würde Schabowski zu diesem Thema konkreter werden als auf die Fragen vorher, als er erklärte: Wir wissen um diese Tendenz in der Bevölkerung, um dieses Bedürfnis der Bevölkerung, zu reisen oder die DDR zu verlassen. Und (äh) wir haben die Überlegung, daß wir alle die Dinge, […] nämlich eine komplexe Erneuerung der Gesellschaft (äh) zu bewirken und dadurch letztlich durch viele dieser Elemente (äh) zu erreichen, daß Menschen sich nicht genötigt sehen, in dieser Weise ihre persönlichen Probleme zu bewältigen. Das sind aber, wie gesagt, viele Schritte, und (äh) man kann sie nicht alle zur gleichen Zeit einleiten. Es gibt eine Abfolge von Schritten und die Chance, also durch Erweiterung von Reisemöglichkeiten, die Chance also, durch die Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise, die Menschen aus einer (äh), sagen wir mal, psychologischen Drucksituation zu befreien, – viele dieser Schritte sind ja im Grunde unüberlegt erfolgt […] (Pressekonferenz 1989).

Anschließend lamentierte er über die Probleme der BRD bei der Integration der Flüchtlinge. Dann fiel ihm aber offensichtlich ein, dass er noch nicht über die neue Verordnung gesprochen hatte, die seiner Ansicht nach wie ursprünglich geplant, nur „der stän... – wie man so schön sagt oder so unschön sagt – die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, daß sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine

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