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und Verständnisses des Seins in ein unaufhörliches Werden auflöst, aus dem sich die mikro- wie makrokosmischen Prinzipien eines, wenn man es so nennen will, „chinesischen Denkens“ zusammensetzen. Die Shan-Shui-Malerei ist gerade auf der Grundlage dieser Bezugsebenen zu einer der vier Hauptformen der chinesischen Gelehrtenmalerei geworden. Sie hat sich von der abbildenden Repräsentation in den Volkskünsten losgesagt und in ihrer Verschmelzung mit der Lyrik und Kalligraphie dem metaphorisch-assoziativen Ausdruck zugewendet. Gerade in der Verknüpfung dieser drei Gattungen visueller Kunst, in denen kalligraphisch inszenierte lyrische Texte nicht nur als Kommentar und Ergänzung zur Malerei dienen, sondern integraler Bestandteil von deren räumlichen Repräsentationsstrukturen sind, mit ihnen kommunizieren und teilweise fließend ineinander übergehen, entsteht die wesentliche und als höchst gelehrt geltende künstlerische Ausdrucksform des chinesischen Weltverständnisses wie desjenigen der einzelnen Künstler in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Die Shan-Shui-Malerei stellt darunter überhaupt die höchste Form der künstlerischen Selbst- und Weltreflexion in China seit den Umwälzungen der Song-Zeit dar, als die Abwendung von der abbildenden Repräsentation sich in der Theorie und den Konventionen der kaiserlichen Akademien durchzusetzen begann. Hinsichtlich der Malerei auf den Punkt gebracht hat dies der Songzeitliche Gelehrte Mi Fu: „Um Ochsen und Pferde wie auch Menschen oder Dinge zu malen, genügt es, sie zu kopieren, um die Ähnlichkeit zu erfassen; bei Landschaften hingegen führt die Kopie nicht zum Erfolg, mit anderen Worten: Wenn man kopiert, geschieht es nicht!“ Und in der Tat ist, wie Shitao es uns in seinen Werken eindringlich zeigt, den Bergen und Gewässern als Gegenstand der Malerei gegenüber den Menschen, den Tieren und den Blumen der Vorzug zu geben. Anders als in der europäischen Verwendung des Begriffs „Landschaft“, der immer auch ein abgegrenztes visuell wahrnehmbares Territorium in seiner räumlichen Vorstellung bezeichnet, stellt der Begriff „Shan-Shui“, „Berge-Gewässer“, bereits eine Abstraktion von der materiell erfassbaren und territorial abgegrenzten Umwelt, des Raumcontainers, dar. Entgegen der Substanz der Menschen, Tiere und Blumen, die als abgeschlossene Form immer auch mimetisch abbildbar sind, versteht sich ShanShui vor allem als ein Prinzip der inneren Or-

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ganisation und Ordnung des malenden und des wahrnehmenden Individuums sowie ihrer Gesellschaft und Kultur. Diese wird in ihren zentralen Elementen Berg und Wasser sowie in den diese beiden in sich vereinenden und zwischen beiden die Übergänge darstellenden Wolken sozusagen synekdochisch repräsentiert. Denn letzten Endes bestehen ja auch sie aus Wasser und weisen die Erscheinungsform von Bergen auf. Alle Elemente dieser Form von Malerei verweisen in ihrem Malakt wie in ihrer Repräsentationsweise immer zugleich auf die Gesamtheit des natur-/kulturellen und kosmologischen Systems wie auch auf die Innenwelt des Künstlers. Sie bieten der Wahrnehmung des Betrachters eine Welt aus virulent miteinander kommunizierenden, mit Bedeutung gefüllten Zeichen und Leerstellen, blinden Flecken, zur eigenen Aktualisierung an. Shan-Shui, Berge-Gewässer bilden die Pole der äußeren Welt, welche sich in der Wahrnehmung, künstlerischen Reproduktion und schließlich in der Kunstwahrnehmung des Bildbe-trachters umkehren. In dieser Kommunikationsbeziehung gibt die Shan-ShuiMalerei ihren abbildenden Zweck auf, der ja im naturwissenschaftlich aufbrechenden Europa jener Zeit gerade erst in seine Blütezeit kam und wird stattdessen in metonymischer Form zu einer Ausdrucksform des Menschlichen und seiner Wahrnehmungswelt. Sie wird in Form der sich in der Wahrnehmung unaufhörlich aktualisierenden Gefühlslandschaft (Qingjing) zu einem Repräsentanten der mikrokosmischen Strukturen, insbesondere im Hinblick auf die makrokosmische Gesamtordnung und Anordnung der Gesellschaft respektive Welt selbst. Vor allem dadurch, dass sie damit, zunächst zur Metapher werdend, sich als solche aber immer wieder auch an die Umwelt anknüpfend, quasi die gesamte Kultur, den Kosmos wie auch den Einzelnen in ihren Beziehungen zueinander darzustellen in der Lage ist und dabei in dem Bild selbst erzählt, den Produktionsakt des Bildes in dieses Erzählen integriert und nicht zuletzt wirkungsästhetisch über das Bild hinaus verweist, erhebt sich die Shan-Shui-Malerei in ihrer kulturellen Bedeutung noch über diejenige der Menschen, Blumen und Tiere hinaus. Folgt man in dieser Hinsicht den eingangs zitierten Thesen Olaf Breidbachs, dann finden diese sich bereits in ursprünglicher


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