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»MENSCHENRECHTE SIND KEINE HANDELSWARE « PLÄDOYER FÜR OFFENHEIT

IM INTERVIEW MIT ANN-CHRISTIN RINKER UND JAN JÜTTNER SPRICHT BUNDESTAGSVIZEPRÄSIDENTIN PETRA PAU (DIE LINKE), DIE AUS DEM BERLINER BEZIRK MARZAHN-HELLERSDORF STAMMT, ÜBER IHRE PERSÖNLICHE VORSTELLUNG VON HEIMAT. SIE KRITISIERT DIE FLÜCHTLINGSPOLITIK DER BUNDESREGIERUNG UND VERRÄT SCHLIESSLICH, WARUM SIE UNSERE GENERATION BENEIDET.

FRAU PAU, WAS VERBINDEN SIE MIT DEM BEGRIFF »HEIMAT«? Den Ort, wo ich mich wohlfühle, an dem ich Wurzeln schlagen kann. Einerseits mein Zuhause, Marzahn-Hellersdorf, dort, wo ich wohne, und andererseits mein Umfeld, meine Familie, Freunde und Bezugspersonen. Insofern ist es für mich ein fließender Begriff.

SIE ENGAGIEREN SICH SEHR GEGEN FREMDENHASS. KÜRZLICH WURDE EINE TERRORZELLE IN FREITAL AUSGEHOBEN. EIN SCHRITT IN DIE RICHTIGE RICHTUNG ODER NUR EIN TROPFEN AUF DEM HEISSEN STEIN? Ich bin aktuell und in der vergangenen Legislaturperiode Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss gewesen. Das Thema liegt mir sehr am Herzen. Ich habe eben getwittert: „Hört auf mit der Verharmlosung und dem Sprechen über Böller!“ Denn es waren keine einfachen Böller, sondern tödlicher Sprengstoff. Diese Zustände gibt es nicht nur in Freital. Ich habe kein Verständnis dafür, dass Kolleginnen und Kollegen dies verharmlosen und von Böllern oder besorgten Bürgern sprechen. Diese Menschen sind Schwerststraftäter, die den Tod von Menschen billigend in Kauf nehmen.

„WIR SIND DAS VOLK“: DIES RIEFEN VIELE MENSCHEN IN OSTDEUTSCHLAND AUF DEN MONTAGSDEMOS. WAS GEHT IHNEN DURCH DEN KOPF, WENN DIES PEGIDA-DEMONSTRANTEN SKANDIEREN? Die Allermeisten, die damals mit diesem Ruf auf die Straße gingen, meinten dies im emanzipatorischen Sinn, indem sie demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und geheime Wahlen einforderten. Sie standen damals für für souveräne Bürgerinnen und Bürger. Die Pegida-Demonstranten verstehen darunter vor allem, dass sie das weiße, deutsche Volk sind und sich bewusst abgrenzen wollen. Sie erhöhen sich dadurch beispielsweise über den Islam und verunglimpfen ihn. Hierbei handelt es

sich nicht um die Wahrnehmung seiner emanzipatorischen Rechte, sondern um Verunglimpfung von Religionen und Andersdenkenden. Es ist deshalb ein absoluter Missbrauch dieser Aussage.

WIE BEURTEILEN SIE DIE DEUTSCHE INTEGRATIONSPOLITIK? Unter der Überschrift „Integrationspaket“, welches gerade auf dem Tisch des Bundestages landet, verstehe ich eher ein „Abschreckungspaket“. Bis auf ein paar kleine Dinge und die sogenannten Integrations- und Sprachkurse, die ich durchaus begrüße, handelt es sich um eine Art „Ausschlusspaket“. Weil man eigentlich erst an der Stelle ansetzen will, wo völlig klar ist, dass die Betroffenen hierbleiben. Ich finde, jeder sollte Anspruch darauf haben, sobald er hier ist, auch die Sprache zu erwerben. Selbst wenn er irgendwann nicht hierbleiben kann, hat er damit diese Zeit für sich genutzt und auch Kompetenzen für sich geschaffen, um gegebenenfalls woanders wieder Wurzeln zu schlagen oder in seine Heimat zurückzukehren.

WAS KANN JEDER EINZELNE FÜR DIE ZUKUNFT EUROPAS TUN? Ich fang´ mal bei Ihnen an: Ich beneide Sie und Ihre Generation. Sie sind mit einer Selbstverständlichkeit aufgewachsen, was die offenen Grenzen betrifft. Die Möglichkeiten der Ausbildung, des sich Anschauens der Welt, bevor man sich seinen Standpunkt selbst bildet. Und das wird im Moment gerade in Frage gestellt, indem Grenzen plötzlich wieder geschlossen werden. Insofern sollten Sie sich sehr bewusst werden, in welches chancenreiche und Zukunft verheißende Europa Sie hineingeboren wurden. Sie sollten vielleicht auch überlegen, welchen Beitrag man leisten kann, dies zu verteidigen oder diese Zustände auch wieder neu herzustellen und zu verfestigen. Ich denke, der Rückzug aufs Nationale wird nicht die Lösung der Probleme auf dieser Welt bringen. Das sage ich auch denjenigen, die im Moment von Ängsten getrieben sind, und jenen, die diese Ängste ausnutzen, ob in Freital oder anderswo. Insofern ermuntere ich jeden, sich vor Ort zu engagieren, aber auch seine eigenen Anforderungen an die Gesellschaft und zum Schluss natürlich auch an die Politik zu formulieren.

ZIEHT SICH DEUTSCHLAND DURCH DAS RÜCKNAHMEABKOMMEN MIT DER TÜRKEI ZU SEHR AUS DER VERANTWORTUNG? Na zumindest verkauft man sie. Und ich finde, Menschenrechte sind keine Handelsware. Abgesehen davon warne ich auch davor, weitere Staaten, in denen keine demokratischen Verhältnisse herrschen, zu sicheren Herkunftsländern auszurufen. Durch diesen Deal bestärken wir die Machthaber in undemokratischen Ländern, ihre Praktiken weiter auszuführen. Und etwas Ähnliches erleben wir im Moment in der Türkei. Das Vorgehen gegen die Kurdinnen und Kurden genauso wie das Aussetzen der Pressefreiheit ist zu verurteilen. Erst heute Morgen hörte ich, dass eine christlich-armenische Kirche beschlagnahmt wurde. Das bedeutet, dass das Recht auf Religionsfreiheit an dieser Stelle nicht mehr gewährleistet ist. Und deswegen kritisiere ich als Mitglied der Fraktion Die Linke diesen Vertrag in aller Deutlichkeit. Es ist absolut menschenunwürdig, was dort zurzeit geschieht.

Ann-Christin Rinker 19, Münster Jan Jüttner 19, Hildesheim … sind totale Nachrichtenfreaks, vor allem in Sachen Sport und Politik.

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