Poetryfilm Magazin ::: Ausgabe 01

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FILME DES MONATS | FASZINATION POETRYFILM? 55

Zu Beginn sind zunächst einmal nur die Geräusche der Orgeltasten zu hören. Vom unteren Bildrand hüpfen transparent wirkende quadratische Formen in die Höhe. Sobald ein Ton erklingt, füllt sich das erste Quadrat mit Farben. Mit dem Einsetzen der Stimme ändert sich der Hintergrund. Im Verlauf bewegen sich die abstrakten Formen weiterhin sowohl zum Rhythmus und den Impulsen der Orgelklänge als auch zu den Lauten der Stimme. Farbe und Formen orientieren sich oftmals an den Zäsuren, die das Voice-over vorgibt. Eine zusätzliche Dynamisierung des Bildraums wird durch die suggerierten Kamerabewegungen erzeugt, die den Formen folgen. Die Rechttecke vervielfältigen sich und werden zu Kuben. Im zweiten Teil des Films nehmen eher Streifen, mehr Reflektionen als Körper/Objekte, die Tiefe des Raumes ein. Musikalisch dominieren jetzt lang gespielte Akkorde. Es entsteht eine subtile Mehrfarbigkeit teils auseinander driftender, teils sich überlagernder Formen. Die vertikale Bewegung wird von einer horizontalen ergänzt. Die abschließende Formation mutet wie Schrift an. Sie löst sich mit dem letzten Akkord auf. Gegenüber diesen abstrakten, audiovisuellen Synästhesien lassen die Assoziationen des Gedichts konkrete, dinghafte Bilder hervortreten. Zwischen Abstraktion und Konkretheit stiftet die Orgel ein wichtiges verbindendes Element, das sowohl als Tonspur wie auch als Metapher Bild und Text miteinander kommunizieren lässt. Jeder der drei Bereiche behält dabei seine Eigenständigkeit. Schon die Doppeldeutigkeit des Titels überblendet Orchestermusik und industrielle Stadtlandschaft. Die Fabrik wird selbst zum Orchester. Stavanger kennen wir heute als eine der Ölmetropolen Europas. Die im Untertitel genannten Jahreszahlen gelten jedoch einem älteren Industriezweig. 1873 wurde mit der Stavanger Preserving Company die erste Konservierungsfabrik für Sardinenbüchsen am Ort eröffnet,

Die Pfeifen Stavanger Konservierung 1873–1983 Da kam kein Klang Doch das Orchester war das bedeutendste seiner Art und spielte extrem präzise selbst als die Schläge der Falzmaschine aufhörten oder die Kälte in die Akkorde kroch Finger laufen über Viertelkisten wie über Tasten Leichtes Rieseln von Salz über den Fässern Schnipp schnapp von Scheren Fischköpfe schneidend ein leiser, aber gespannter Ton einer Fangschnur Doch aus den Orgelpfeifen kam kein Klang Für dieses Konzert gab es ein Bild: Verschleiernder Rauch, wo man ein Märchen erahnen sollte, von Schlot zu Schlot wehend über der Stadt

Ein weiß gestrichenes Haus, Leitungswasser frisch wie der April und das grüne Sofabett, das eines Tages zum Rasen ausgeklappt würde Bis sich das Märchen im Westen auflöste und in Schwärme von Makrelenwolken verwandelte niemand konnte sehen wurde von Menschenhand gemacht Es war dies, das war die Kunst. Übers. G. Naschert

filme des monats

Dieser Bezug begründet auch Pedersens Wahl der Bildsprache, die ihren ganz eigenen Weg geht. Die computergenerierten Formen erinnern stark an die Ästhetik der Filmavantgarde der 1920er und 1930er Jahre: Man denke an Hans Richters Rhythmus 21 (1921) oder Oskar Fischingers ›absolute Filme‹. Zugleich evozieren die Texturen und Farben in The Pipes/Pipene starke analoge, ja fast haptische Qualitäten. Durch dieses abstrakte Spiel zwischen Tonspur und Bild behandelt der Film also das Verhältnis von Industrialisierung und Kunst auf eine vom Gedicht unabhängige Weise und lässt der Wortsprache dadurch Raum.

1983 die letzte geschlossen. Die Falzmaschine für die Dosen, die Kisten, das Salz, die Makrelenschwärme – alles erinnert in diesem Gedicht an das geschäftige Treiben, das die weißen Häuser am Stavanger Hafen über mehr als ein Jahrhundert erfüllte und dessen Atmosphäre im Gedicht wie ein Märchen aus alter Zeit über der Stadt schwebt. Rimbereid, 1966 geboren, lernte die Welt dieser Fabriken noch in seiner Kindheit und Jugend kennen; heute lässt sie sich im Norwegischen Konservierungsmuseum bestaunen. Dieses befindet sich übrigens nur wenige Schritte vom Konzerthaus entfernt, zu dessen Orgeleinweihung das Gedicht geschrieben wurde. Hört man genau hin, so spielt diese Orgel also ein Requiem, ein Requiem zum Gedenken auf die alten Stavanger Fischfabriken, die einst mit ihren Schornsteinen die Hafensilhouette prägten.

Øyvind Rimbereid

hervor. Nicht so in diesem Fall. Gedicht und Film beschwören in ihrem titelgebenden Wortspiel – das sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt: »Pipene« bedeutet auf Norwegisch Orgelpfeifen, aber auch Schornsteine, Schlote – die Klänge der industriellen Massenfertigung.


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