GESELLSCHAFT
EL AVISO | 01/2019
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Künstlerin Birgit Maertins
Mallorca war meine Rettung „Ich habe mich von den Farben der Insel heilen lassen“
Birgit Maertins
„Womit soll ich bloß anfangen?“ Birgit Maertins (58) hat sich gerade erst hingesetzt, als ihr die Frage herausplatzt. Dabei hat sie alles minutiös vorbereitet für das Interview: die zwei Stühle auf dem Balkon vor ihrem Atelier sind mit Blick über die Landschaft ausgerichtet, der Sonnenschirm wirft den Schatten an der richtigen Stelle, der Wein hat die perfekte Temperatur. So eine durchgestylte Organisation liegt einem vermutlich im Blut, wenn man vier Kinder großgezogen hat. Aber dann kommt eben doch der Punkt, wo man nicht weiter weiß. Dann greift man nach einem Strohhalm, der die Richtung vorgibt. In diesem Fall sind es die Fragen, an denen sich Birgit in unserem Gespräch entlang hangeln kann. Aber sie kennt Situationen im Leben, in denen es weit schwieriger war, trockenen Fußes aus dem Sumpf zu steigen, in dem sie versunken war. Und dieser Strohhalm war Mallorca. „Die Insel hat mir geholfen, mich selbst wieder bunt zu sehen.“
„Der Alltag ließ mir keine Zeit für Kunst“ Es begann mit einem Kurzurlaub vor 28 Jahren. Kurz nach der Wende, alles war im Umbruch und ihre Kinder noch klein, genoss sie mit ihrem Mann ein verlängertes Wochenende im Süden. Auf der Insel, von der alle schwärmten. Sonne, Wärme, Freiheit. „Beim Abschied auf dem Weg vom Hotel zum Flughafen sind mir fast die Tränen gekommen. Als wir an den Gärten und Häusern vorbeigefahren sind, hab ich mir vorgestellt, wie ich dort sitze und den Bussen hinterher gucke.“ Damals schon wurde in ihr die Sehnsucht geboren, auf Mallorca leben zu wollen. „Aber das ging ja nicht“, setzt sie gleich darauf hinzu und am Ton ist die Stimme der Vernunft zu hören, die ihr damals ins Gewissen redete. „Wir hatten Arbeit in Deutschland, ein Haus abzuzahlen und vier Kinder im Alter von 1 bis 11 Jahren.“ Bedrängt vom Alltag rückte der leichtfüßige Traum in den Hintergrund.
Für Muße und Kreativität war zu Hause sowieso nicht viel Spielraum. Die Gitarre, die Birgit früher überall hin mit begleitet hatte, kam höchstens noch für ein Gute-Nacht-Lied zum Einsatz. Ganz zu schweigen von den verpassten Möglichkeiten, sich im familiär vererbten Talent auszuprobieren. „Mein Großvater war Maler. Kein großer Name – Max Maertins. Aber in Neuenhagen bei Berlin hat er Anfang des Jahrhunderts die Familie mit seiner Kunst ernähren können. Als ich jung war, hab ich mich zwar für seine Bilder begeistert, aber hatte überhaupt keine Ambitionen, es selbst mit der Malerei zu probieren. Später dann fehlte mir die Zeit.“ Ein Leben also, wie es sich den meisten von uns darbietet: Arbeit, Familie, gemütliche Wochenenden, einmal im Jahr Urlaub. Höhen und Tiefen.
„Ich dachte, ich würde nie wieder Fuß fassen“ Und dann tat sich plötzlich ein Abgrund auf. „Mein Mann starb, als ich 45 Jahre alt war“, erzählt Birgit. „Da stand ich nun, alleinerziehend mit einem Hauskredit, den ich jetzt allein bedienen musste. Meinen Job als selbstständige Werbe-Promoterin konnte ich vergessen. Ich brauchte wieder eine feste Anstellung.“ Die fand sie auch, aber das Gehalt reichte bei weitem nicht, um alle Verbindlichkeiten zu bedienen. „Damals war ich so verzweifelt, dass ich dachte, ich würde nie wieder Fuß fassen.“ Über Jahre dauerte das Tief, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Der erste Silberschein am Horizont bot sich ihr, als sie einen Mann kennenlernte, der sich mit ihr zusammen den Herausforderungen stellte. „Es ist so wunderbar, einen neuen Partner zu haben, der hilft, über das Alte hinweg zu kommen. Plötzlich kann man Berge versetzen.“ Auch Schuldenberge. Aber die Traurigkeit, die Angst vor unerwarteten Schicksalsschlägen – all das saß tief in ihr drin. Die alte Fröhlichkeit blieb unter einer dicken Schicht von Melancholie gefangen.