EL AVISO | 12/2018
KULTUR
12
D Wo die Märchen
Für kleine und große Fans
von Mallorca lebendig werden
Schaurige Dämonen hocken im roten Licht des flackernden Fegefeuers zusammen. Mit grässlich verzerrten Fratzen starren sie in die Dunkelheit, der Raum ist erfüllt von dem Gesang klagender Stimmen. Eiskalt läuft es einem da den Rücken hinunter! Allerdings nicht den beiden Mädchen, die an diesem Vormittag auf Entdeckungstour gehen im Märchenmuseum von Artá. Hannah (6) und Linn (11) gefällt die Schreckenskammer. Fasziniert betrachten sie die schaurige Szenerie.
Warum auch nicht? Hier wird niemand gefressen. „Vor allem kleinere Kinder haben meist noch gar keine Angst“, beruhigt Maria Isabel Sancho Orell oft überfürsorgliche Eltern, die ihre Kinder tröstend in den Arm nehmen, um sie vor den düsteren Gestalten zu beschützen. Die Inhaberin des historischen Hauses in Artá hat schon Hunderte Kinder erlebt, die den Rundgang durch das Haus der Rondalles, der mallorquinischen Märchen, mit offener Neugier und großer Begeisterung absolviert haben. Offenbar haben sie die stärkeren Nerven, wenn es um Fantasiegestalten geht. Sie selbst leben beim Spielen ja jeden Tag in von ihnen erschaffenen Welten, in denen sie Abenteuer bestehen und siegen – ganz wie die Helden in Märchen und Sagen. Pere Pujol gab den Volksmärchen ein Gesicht Die liebevoll gestalteten Figuren wollen auch gar keinen Schrecken verbreiten, sondern uns aus der Realität entführen, mitten hinein in das Märchenreich Mallorcas. Lebensecht und doch eigenwillig überzeichnet, sind sie von einer ungeheuren Faszination. Glänzender Schmuck, schöne Kleider oder die Warze auf der Nase eines finsteren Gesellen vervollkommnen die Illusion, mitten in eine Geschichte geraten zu sein. Zu verdanken sind diese wunderbaren Gestalten dem Künstler Pere Ferrer Pujol (1934-2001) aus Artá, der sie aus Ton, Harz und Pappmaché erschuf. Seine Figuren sind inspiriert von der umfassenden Märchensammlung des Pfarrers Antoni Maria Alcover. Der reiste Ende des 19. Jahrhunderts durch die Dörfer der Insel, sammelte die Erzählungen, die
Die wunderbare Welt der Rondalles im Museum ArtArtá
seit Generationen mündlich überliefert wurden, und veröffentlichte mehr als 400 Märchen in 24 Bänden. Dem Talent von Pere Pujol ist es zu verdanken, dass 40 Jahre nach dem Tod des Sprachwissenschaftlers und Ethnologen viele der liebenswerten oder finsteren Charaktere unter seinen Händen Gestalt annahmen. In Mallorca sind die Feen alte, weise Frauen Dass es in der Märchenwelt nicht gerade feinfühlig zugeht, kennt jeder zur Genüge aus den Grimm’schen Geschichten. Doch die Rondalles setzen mit dem ungewöhnlichen Figurenensemble noch eins drauf. Hexen, Dämonen und Riesen treiben ihr Unwesen auf der Insel. Deren gigantische Köpfe schauen auch gleich am Beginn der Ausstellung mit furchteinflößenden Grimassen auf die Gäste
nieder. Kinder sind da wenig respektvoll, sie gucken den wüsten Gestalten lieber mal tief in die großen Nasenlöcher anstatt sich zu fürchten. Feen kommen in der mallorqinischen Märchenwelt nicht als zarte Flügelwesen, sondern als alte, weise Frauen daher. Dann gibt es da den Mann, der Kürbisse ausbrütet, Joan mit der langen Nase und einen Mohrenkönig, der eine dicke Lippe riskiert, um die schöne Catalina zu retten. Aber auch die Sonne und der Mond sind hier versammelt, die Schönheit der Welt und ein cleverer Kater. Vor jedem Raum sind auf Notenständern die Seiten der Märchen aufgeschlagen, die es darin zu bewundern gilt. Die Mutter von Hannah und Linn hat sich am Empfang eine Kladde mit der deutschen Übersetzung geben lassen und erzählt den Mädchen die Geschichten selbst. Ein Volkskundemuseum der besonderen Art Die Figuren mögen ja künstlich sein, aber Kulisse und Requisiten, zwischen denen sie in Szene gesetzt wurden, sind ganz echt. So liegt der Kürbis ausbrütende Dummkopf im frisch bezogenen Bett, auf dem Nachtschrank ein Wecker und Porzellan-Nippes. Die Großmutter sitzt im Schaukelstuhl, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Die Frau mit dem Stern auf der Stirn schaut in den Spiegel der Frisiertoilette, die mit Marmorplatte und Porzellan-Wasserkanne ausgestattet ist. Im Badezimmer, das dem Arzt Guinyot und seiner Apotheke das passende Ambiente verleiht, hängt ein blütenweißes Handtuch neben dem Waschbecken. Die Räume des Hauses sind noch immer gespickt mit den Originalmöbeln der Familie von Maria Isabel Sancho. Da hängen alte Leuchter, im Flur steht ein Grammophonschrank und weiter hinten zwei urgemütliche Sessel. Es kommt einem vor, als stünden die Figuren nur tagsüber still und würden nachts das Haus mit Leben füllen. Maria Isabel lacht. „Das wirkt tatsächlich so. Der Mann, der uns die Alarmanlage eingebaut hat, meinte auch: ‚Also ich würde hier nicht übernachten.‘ Und der Glaser hat den hinteren Raum ausgelassen, weil er den Mann im Bett nicht wecken