VINSCHGER GESELLSCHAFT
„Wir müssen darüber reden“ Eine Tagung als Versuch, über „psychische Erkrankung & Sexualität“ zu reden. SCHLANDERS - Der ehemalige Kinosaal in der Drusus-Kaserne, jetzt Vortrags- und Versammlungsraum für „Basis Vinschgau Venosta“, war nicht überfüllt, aber gut besetzt. Der Tagungstitel „Jenseits von Tabu & Mythos“ und das Arbeitsprogramm weckten Erwartungen. Über einen Fachvortrag, über Erfahrungen von Betroffenen und eine Podiumsdiskussion sollten die Tagungsteilnehmer angeregt werden, in Workshops Erfahrungen und Vorschläge einzubringen und zu sammeln. Für den rechtlichen Rahmen und die ethischen Grundsätze waren die Primarin des psychiatrischen Dienstes der Sanitätseinheit West, Verena Perwanger, und die Volksanwältin Gabriele Morandell zuständig. Persönliche Sichtweisen und Erfahrungen trugen Kira Stecher und Albin Kapeller vor. Die medizinischen Aspekte hatte der Psychiater Patrick Kaplan über. Das Thema „Paraphilie, die Liebe abseits“ und „Sexualität im Wandel“ moderierte Philipp Kloimstein, Chefarzt der Vorarlberger Stiftung Maria Ebene. Eröffnet wurde die Tagung von der Sozialreferentin in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau und Bürgermeisterin von Taufers im Münstertal, Roselinde Gunsch. Dazu stellte sie das Interreg VProjekt „Horizont“ mit Grenzen überschreitenden Maßnahmen in den Bezirken Landeck und Vinschgau – in der sogenannten „Terra Raetica“ - vor. Sie war es, die zum ersten Mal aufforderte: „Wir müssen darüber reden!“. Die Notwendigkeit, über Sexualität und psychischer Gesundheit zu
Roselinde Gunsch
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DER VINSCHGER 23/22
Roman Altstätter
Podiumsdiskussion über „Psychische Erkrankung & Sexualität mit Patrick Kaplan, Verena Perwanger, Kira Stecher, Albin Kapeller, Gabriela Morandell und Philipp Kloimstein (v.l.)
reden, betonten dann Ko-Moderator und Organisator Roman Altstätter ebenso wie Primarin Perwanger und Moderatorin Renate Ausserbrunner. Sogar im Ein-Mann-Kabarett von Horst Saller tauchte der Satz auf. Alle Redner dankten der Direktorin der Sozialdienste, Karin Tschurtschenthaler, für ihren Einsatz als Organisatorin der Tagung. Das Bedürfnis zu reden Weltweit zur Sache ging es dann im Vortrag „Psychische Erkrankung & Sexualität“. Gastreferent Philipp Kloimstein nannte als Folgen der Tabuisierung „Stigmatisierung, Scham und Diskriminierung“. In seinen Ausführungen ging er auf die Entstehung der LGBTQIA+ Bewegung seit 1990 ein. Die einschüchternde Abkürzung bilden die Anfangsbuchstaben von „lesbian, gay, bisexual, transgender/transsexual, queer/questioning, intersex, asexual“. Das + ist ein Platzhalter für weiter Geschlechtsidentitäten. Kloimstein berichtete, dass sich 1% der Erwachsenen weltweit als „trans“ und „nicht genderkonform“ identifizieren. Es folgten
Verena Perwanger
Philipp Kloimstein
beeindruckende Statistiken zur LGBTQIA+ Orientierung. Für das Tagungspublikum besonders interessant waren die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahre 2015 zu den Folgen eines „Outens“ Jugendlicher. Am öftesten kam es zur Ablehnung durch Freunde, gefolgt von Ablehnung in der Familie, von verletzenden Bemerkungen, von Problemen in Schule und am Arbeitsplatz. Je 20 % der Befragten berichteten von Bestrafung durch Eltern oder erlitten körperliche Gewalt. Dass Reden über Sex ein weltweites Bedürfnis ist, bewies Kloimstein mit dem Google-Eintrag „let’s talk about sex“, lasst uns über Sex reden, der in 0,62 Sekunden auf 281 Millionen Ergebnisse kam. Sie stehen dazu Gespannte Aufmerksam herrschte im Saal, als Kira Stecher und Albin Kapeller frank und frei ihre persönliche Erfahrung, Anfeindung, Verdrängung und ihre Versuche, an die Öffentlichkeit zu gehen, mitteilten. Man glaube es nicht, die Südtiroler seien „ängstlich und voreingenommen“, meinte Stecher. Be-
Renate Ausserbrunner
sonders entsetzt zeigte sich die Malser Oberschülerin über die Tatsache, dass Südtirols größte Zeitung immer wieder Platz lasse für „menschenunwürdige Artikel“ eines gewissen Florian Stumfall. Moderatorin und Supervisorin Renate Ausserbrunner dankte für die ganz persönlichen und mutigen Aussagen und fand, dass man auf den Weg zu einer starken „Betroffenen-Bewegung“ in Südtirol sei. Sie stellte Albin Kapeller vor als weiterbildungsbewussten Experten und Genesungsbegleiter. „Ich habe viel Erfahrung in den Bereichen psychische Krankheit und Sexualität gemacht“. Diesem schlichten Einstieg ließ Kapeller die Schilderung eines fast nicht vorstellbaren Leidensweges folgen von der Kindheit ohne Liebe, aber voller Gewalt zur Suche nach Sex, von Depression und psychiatrischer Behandlung bis zur Erkenntnis, dass es besser sei, zur eigenen Sexualität zu stehen, anstatt vor ihr davon zu laufen. Moderatorin Ausserbrunner dankte Kapeller für das Teilhabenlassen und fragte in den Saal: Wie gehen wir damit um? GÜNTHER SCHÖPF
Kira Stecher
Albin Kapeller