VINSCHGER THEMA
Zwischen Skiliften und Kriegsrelikten Erst Hirte, dann Maurer und schließlich über 30 Jahre lang Betriebsleiter im Sommerskigebiet am Stilfser Gletscher. STILFS - „Auf diesem Foto sieht man gut, wie viel Schnee es damals am Stilfser Joch gab. Die Stützen der Skilifte steckten bis zu 7 Meter tief im Schnee. Wir mussten sie nach jedem Winter ausgraben, mit Hubzügen anheben und neu befestigen, damit die Gäste im Sommer Skifahren konnten.“ Zu jedem der Fotos, die er in seiner Stube in Stilfs auf den Tisch blättert, kann Otto Angerer eine Geschichte erzählen. Die Bilder öffnen die Türen zur Vergangenheit und schlagen auch Brücken zu Zeiten, von denen es keine Fotos gibt, die aber im Kopf von Otto Angerer noch sehr lebendig sind. So zum Beispiel die Zeit der Option. „Die Leute saßen zusammen und haben viel geredet. Die einen wollten hinaus zum Adolf, die anderen wollten nicht gehen“, erinnert sich der 89-Jährige. Man habe den Leuten viel versprochen. „Weggegangen sind vor allem arme Familien. Hier in Stilfs gab es damals kaum Arbeit.“ War das Dorf nach der Option nicht irgendwie menschenleer? Otto: „Ja, und heute ist es wieder leer.“ Die Zeiten der kinderreichen Familien seien längst vorbei. Die meisten Optanten zogen nach Nordtirol und nach Vorarlberg. „Zurückgekommen ist niemand. Ich jedenfalls kenne keine Rückkehrer.“
Otto Angerer, Martin Sölva und Oswald Ortler (v.l.) bei einer Bergtour.
„I bleib, wou i bin“ Peter Angerer, der Vater von Otto, hat die Heimat nicht verlassen. Er habe gesagt: „I bleib, wo i bin.“ Beruflich war Peter vor allem Hirte. 7 Sommer lang hütete er das Vieh auf Rasass in der Gemeinde Sent im Unterengadin. Seit über 400 Jahren treiben die Malser ihr Galtvieh jährlich über die Grenze in die Schweiz. 1943 nahm Peter Angerer seinen damals 9-jährigen Sohn Otto zum ersten Mal mit auf die Alm. Otto: „Wir packten ein paar Kleidungsstücke in
Im Bild (v.l.): Hermann Mazagg, Oswald Ortler und Otto Angerer mit den eingesackten Überresten eines österreichischen Soldaten, der 1990 am Tuckettjoch entdeckt worden ist.
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DER VINSCHGER 20/22
einen selbstgenähten Rucksack, gingen zu Fuß von Stilfs nach Mals und dann von dort zusammen mit dem Vieh auf die Alm. „Zurück ging es erst wieder im September und zunächst nur bis Mals. Erst im November gingen wir dann weiter bis nach Stilfs.“ Ein Zuckerschlecken waren diese Almsommer nicht. „Ich weiß noch gut, wie ich das Holz zum Feuermachen über die Uina-Schlucht auf die Alm getragen habe“, erinnert sich Otto. Die Kindheit und ersten Jugendjahre in Stilfs waren entbehrungsreich und vom Faschismus geprägt. Wie seine Altersgenossen musste auch Otto, geboren am 19. Oktober 1933, den italienischen Kindergarten und die italienische Volksschule besuchen. Während der Kriegszeit habe er manchmal im Haus eines Nachbarn Radio gehört: „Das war eigentlich verboten. Gehört hat man nur Propaganda aus Deutschland.“ Ein bis zwei Kühe und ein paar Ziegen Groß war die Bauerschaft der Familie Angerer nicht. Das Vieh - es waren in der Regel ein bis zwei Kühe, ein paar Ziegen und ein Schwein - versorgte in der Regel Aloisia Angerer, die Mutter von Otto. Von
Otto Angerer in seinem Keller in Stilfs, wo er viele Kriegsrelikte aufbewahrt, die er auf dem Stilfser Joch gesammelt hat.