VINSCHGER THEMA
impfen lassen, wäre das der bisher größte Erfolg gegen das Virus und die Mutanten. Das heißt aber nicht, dass der Spuk dann vorbei sein wird. Im Gegenteil, wir werden wohl oder übel lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Es wird auch in den nächsten Jahren Massenimpfungen brauchen und die Illusion, bald schon wieder ohne Maske herumlaufen zu können, müssen wir uns abschminken. Aber wir werden sie besiegen, diese Pandemie. Vielleicht ist dieses neuartige Virus die Antwort der Natur auf unsere modernen Verhaltensweisen. Es gibt schon lange nicht mehr abgegrenzte Teil der Erde. Millionen Menschen fliegen von Kontinent zu Kontinent. Und die Viren fliegen mit. Sind die Ängste und Unsicherheiten vieler Menschen auch in Ihrer Praxis zu spüren?
Ohren fliegen, nicht mehr bewältigen und einordnen. Sie sind auch in diesem Sinn überlastet und überfordert.
arztes, der mit den Leuten redet, sich in sie hineinfühlt, sie abtastet und nicht nur ihre Krankengeschichte kennt, sondern auch ihren Charakter und ihren Familienkreis, Ist das eine Kritik an den Medien? hat sich im Lauf der Jahre sehr geändert. Wir Ja, das ist es. Man sollte die Menschen sind sozusagen eine „aussterbende Rasse“, vor nicht täglich von früh bis spät mit Todes- allem im Vinschgau. Mittlerweile verbringen und Fallzahlen „füttern“. Das wird mit der wir gezwungenermaßen viel Zeit am CompuZeit für alle unerträglich und führt zu einer ter. Die Bürokratie wird nicht weniger und die noch größeren Belastung. Darüber, was in Digitalisierung schränkt den menschlichen den sozialen Netzwerken abläuft, will ich Aspekt ein. Von Gemeinschaftspraxen halte gar nicht reden. Meiner Meinung nach wäre ich nicht besonders viel, denn auch dort hält es ausreichend, wenn einmal in der Woche eine Art Facharztschema Einzug: der eine objektiv über alle Fakten und die Entwicklung ist für das zuständig, der andere für jenes. informiert würde. Wir sind aber keine Fachärzte, wir sind Allgemeinmediziner.
Sie sind seit 1991 Gemeindearzt in Schlanders. Was hat sich in Ihrer Arbeit als Allgemeinmediziner in fast 40 Jahren verändert?
Wie lange werden Sie uns noch als Gemeindearzt erhalten bleiben?
In bin geimpft (lacht) und werde das Jahr Ja natürlich. Viele fühlen sich unsicher und Früher hatten wir mehr Zeit, mit den 2021 noch voll machen. Dann ist Schluss. können die vielen Zahlen und Informationen, Patientinnen und Patienten den direkten die ihnen täglich rund um die Uhr um die Kontakt zu pflegen. Das Urbild des Haus- INTERVIEW: SEPP LANER
„Egal was es ist, ich trage es mit“ NATURNS - Sich selbst verletzen, um mindestens etwas zu spüren und zu fühlen, auch wenn es nur der Schmerz ist. So umriss der Psychologe und Sexualberater Hartmann Raffeiner, der eine Praxis in Naturns betreibt, das komplexe Thema der Selbstverletzung. Raffeiner war kürzlich vom Jugenddienst Meran als Referent für den Online-Abend zum Thema Selbstverletzung eingeladen worden, zu dem sich über 70 Interessierte angemeldet hatten. Raffeiner stellte einleitend die vielen Formen von Selbstverletzung vor. Die Palette reicht von überzogenem Nägelbeißen bis hin zu Ritzen, Schneiden, Verbrennen und andere Methoden, die Schmerzen verursachen. Auch das bewusste Eingehen von Risiken, die möglicherweise Schmerzen zur Folge haben können, gehört im weiteren Sinne dazu. Die Selbstverletzung ist kein eigenes Krankheitsbild, sondern zumeist das Symptom tiefer liegender psychischer Schwierigkeiten oder Störungen. Die Ursachen können demnach entsprechend unterschiedlich sein: Beziehungskälte in der Familie, Stress, Frust, Einsamkeit, Überforderung, Minderwertigkeits- oder Schulgefühle.
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DER VINSCHGER 07-08/21
Der Psychologe und Sexualberater Hartmann Raffeiner beim Online-Abend
„Was alle Arten von Selbstverletzung verbindet, ist die Absicht der Betroffenen, sich wehzutun, um den Schmerz zu fühlen, weil sie sonst keine andere Möglichkeit sehen, Gefühle auszuhalten oder auszudrücken“, fasste Raffeiner zusammen. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich vor allem 12- bis 16-Jährige selbst verletzen und dass es sich bei ca. 60 Prozent davon um Mädchen handelt. Der Selbstverletzung liegt meistens die Unfähigkeit zu Grunde, mit existentiellen Problemen und negativen Gefühlen,
mit denen wir alle von Geburt auf konfrontiert werden, umzugehen. „Die Selbstverletzung ist ein Verzweiflungsversuch, etwas zu lösen, was man für unlösbar hält,“ so der Referent. Einen Schlüssel für einen Ausbruch aus diesem Kreis sieht er im Aufbau von Beziehungen: „Wir Menschen brauchen eine Beziehung zu uns selbst und wir brauchen eine Beziehung zu einem Du.“ Die Betroffenen brauchen Menschen, denen sie vertrauen und die ihnen sagen: „Egal, was passiert, ich trage es mit.“ Hartmann Raff-
einer rief die Zugeschalteten in diesem Sinn dazu auf, Selbstverletzungen ernst zu nehmen, den Mut zu haben, die Betroffenen mit Feingefühl anzusprechen, in sie hineinzuschauen und - noch besser - eine Beziehung mit ihnen aufzubauen. Bagatellisieren sei ebenso falsch wie Dramatisieren. Wenig sinnvoll sei es auch, sich sofort nur auf das Warum und Wieso zu konzentrieren: „Und wenn es tatsächlich eine ‚Wurzelbehandlung’ braucht, gibt es dafür zuständige Stellen.“ Im Rahmen der Diskussion verwiese der Referent unter anderem auch darauf, wie wichtig es ist, „sich manchmal gehen zu lassen, gemeinsam verrückte Dinge zu tun und auch mal ganz unbeschwert zu leben.“ Wie sich die Corona-Pandemie bzw. die damit verbundenen Einschränkungen auf Kinder und junge Menschen ausgewirkt haben und immer noch auswirken, umschrieb Raffeiner mit einem einzigen Wort: verheerend. Er wolle aber trotz allem optimistisch bleiben und positiv in die Zukunft schauen: „Das müssen wir derzeit alle!“ Der OnlineAbend war ein weiterer Teil der Reihe „Red mor amol driber ...“ (www.infopoint.bz). SEPP