perspektive21 - Heft 15

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Bassam Tibi

jektivitätsprinzips zusammengefaßt,1 der sich mit zwei Inhalten füllen lässt: Der Mensch ist erstens ein Individuum, also ein Subjekt, welches sich von religiösen und ethnischen Kollektiven getrennt hat. Und zweitens ist er als Subjekt ein erkennendes, das heißt er geht bei seiner Suche nach Wissen von dem Primat der Vernunft, nicht von Traditionen oder von der religiösen Offenbarung aus. Die zweite, institutionelle Dimension der Moderne erwächst aus der ersten, der kulturellen. Das Subjektivitätsprinzip ermöglicht dem Menschen, moderne Wissenschaft und Technologie zu entfalten und die dazugehörigen Institutionen zu bilden.2 Die kulturelle und institutionelle Moderne ist in Europa parallel zur Genesis des Westens als Zivilisation im Zeitraum von 1500 bis 1800 entstanden; auf dieser Basis hat die „militärische Revolution“ – die Erlangung der Instrumente der Weltbeherrschung – stattgefunden.3 Die Entwicklung steht in enger Verbindung mit dem Islam insofern, dieser im Rahmen der Entfaltung seiner Zivilisation das erste Welteroberungsprojekt in der Geschichte betrieben hat. Die westliche Globalisierung beendete die islamische DjihadExpansion.4 Gleich dem Islam stellt auch 1 2 3 4 5 6 7

die Religion des Christentums – wie der Westen als Zivilisation – universelle Ansprüche. Auf einer ethischen Basis können der Islam und das Christentum als Weltreligionen, die beide als abrahamitisch bezeichnet werden, friedlich zueinander finden – dies hat der Theologe Joseph Kuschel überzeugend nachgewiesen.5 Wird Religion aber mit politischen Ansprüchen verbunden und erhebt sie sich dann zum Absoluten, findet die besagte Annäherung nicht statt. Die islamische Zivilisation hatte sich in dem Wettkampf zwischen Djihad und Kreuzzug zuerst als überlegen durchgesetzt.6 Dann allerdings begann in Europa das Zeitalter der Moderne, das den Islam zum Verlierer machte. Die Muslime fingen an, sich nach dem Grund ihrer durch Rückständigkeit bedingten Unterlegenheit zu fragen. In diesem Selbstreflektionsprozeß kristallisierten sich zwei konträre Antworten heraus: Zum einen der Wahhabismus als reaktionärste Deutung des orthodoxen Islam und zum anderen die Islam-Reform von Muhammed Abduh und Djamaluldin al-Afghani.7 Nachdem beide das Dilemma nicht zu lösen vermochten, entstand nach einem kurzen säkularen Intermezzo der Fundamentalismus unserer Zeit.

Siehe Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985. Hierzu die Arbeit von Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990. Vgl. Geoffrey Parker, The Military Revolution. The Rise of the West 1500-1800, Cambridge 1988, deutsche Übersetzung: Die militärische Revolution: Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990. Hierzu B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001 mit einem Vorwort zum 11. September), Kapitel 6 und 7. Vgl. Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994. Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 4). Hierzu B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 3. erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 1987 (Neudruck 2001).

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