Schwarz HC freistil by ROLF BENZ Lookbook 2016

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Orphelia de Winter Kann man bei der BurlesqueKünsterin Orphelia de Winter von einem Leben gegen die Regeln sprechen? Dann müssten in ihrem Kopf überhaupt Regeln existieren. Doch die scheint es gar nicht zu geben. Orphelia de Winter macht nach eigenen Angaben nur, worauf sie Lust hat. Als Bühnenstar und privat. Als Orphelia und als Simone. Zu Orphelia de Winter kommt man nur auf langen, holprigen Nebenstraßen. Sie hat ihr privates Glück ungefähr 50 Kilometer östlich von Hamburg gefunden. Eine Luxemburgerin, die für Prada und Lacroix aufgetreten ist und mit ihren schwungvollen Shows sogar Drag Queens wie Mauerblümchen aussehen lässt, soll in einem Zehn-Seelen-Dorf leben? Wir glauben es erst, als wir sie mit gegurteter Wespentaille, Glockenrock und akkuratem Makeup im großen Garten entdecken. Orphelia ist eine Diva, die man sich nur schwer bei ihren Hobbies Kochen und Gartenarbeit vorstellen kann. Vermutlich würde sie die Erde vor dem Säen mit den spitzen Absätzen ihrer Schuhe aufhacken. Freund Frank dagegen trägt Army-Camouflage-Hosen und eine Narbe im Gesicht. Doch der martialische Eindruck täuscht: Kein scharfer Bullterrier, sondern Scotch-Terrier-Hündin Lucie sitzt zu seinen Füßen, die Narbe stammt von einem Tauchunfall und in der Küche zeigt Frank die in Pastelltönen selbst gestrichene Holzdecke. Brandung, Nebel und Diestel heißen die zarten Farben. Menschen, die absolut frei leben – das klingt wie eine Utopie, doch hier scheint sie verwirklicht. Dazu gehört, dass Orphelia de Winter nicht nur ihren Lebensstil, sondern auch ihren Namen frei gewählt hat: Lady de Winter aus den Drei Musketieren und Ophelia aus Hamlet sind ihre beiden Lieblingsrollen. Das „r“ kam als besonderer Akzent dazu. Geboren wurde sie als Simone Walter in Luxemburg und war das Kind einer Künstlerfamilie. Ihr Onkel Chansonnier, ihr Großvater Komponist und charmanter Filou, der heilendes Was-

Tänzerin vermuten würde. Doch tatsächlich fühlt sich die öffentliche Orphelia alles andere als machtlos oder fremdbestimmt.

ser aus der Quelle von Lourdes verkaufte. Mit so geringem finanziellen Erfolg, dass die Großmutter „ins Wasser ging“. Nicht in Lourdes-Wasser, sondern in einen Fluss. Und auch Orphelias Berufswahl erfüllte nicht die Erwartungen der Familie: Die Eltern wollten nicht, dass die Tochter Burlesque-Künstlerin wird – sondern Domina. „Du brauchst die Männer nicht anzufas-

sen und wirst reich“, soll ihre Mutter gesagt haben. Es fällt nicht ganz leicht, den Gedanken nachzuvollziehen, zumal Orphelias Mutter vom 16. bis zum 26. Lebensjahr in einem Kloster lebte und erst kurz vor dem Ewigen Gelöbnis austrat. Bei einer Domina erschien den Eltern wohl vorteilhaft, dass sie die Macht hat. Kein Objekt ist, wie man es bei einer Burlesque-

Die Show geht weiter, auch wenn die Musik stehen bleibt

Sobald sie in wunderschönen VintageKostümen auf der Bühne steht, wird sie zur selbstbewussten Diva. Sie weiß, dass sie das Theaterpublikum unterhalten kann. Und ihre Ausstrahlung ist auch dann noch die einer starken Frau, wenn sie nur noch Stiefel, Höschen und Nipple Pasties anhat. Erst nach der Vorstellung wird sie wieder zu Simone. Doch auch dann gilt, wie sie es formuliert: „I am shy but I don´t show it.“ Vielleicht liegt das professionelle Selbstvertrauen an ihren langen Lehrjahren: Die BurlesqueTänzerin blickt auf ein

fundiertes Studium und eine zuverlässige Ausbildung zurück. Die künstlerische Entkleidung ist nicht Abstieg wie bei Marianne in Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, sondern ein weiterer aufbauender Schritt nach ihrem Diplom in Bildender Kunst und der absolvierten Musical-Schule. Sie war die erste, die Burlesque-Tanzen mit Singen kombinierte. Und ist immer noch eine der wenigen, die sich berechtigterweise Burlesque-Künstlerin statt nur Burlesque-Tänzerin nennen können. Zur Zeit arbeitet sie an einem Soloprogramm, in dem sie Burlesque mit Jazzgesang und Schauspiel kombiniert. Wie sehr Orphelia eine Sache durchziehen kann, zeigte sie einmal mitten in der Vorführung eines Stücks aus „Cabaret“: Die Musik blieb hängen, der DJ fand die richtige Stelle nicht mehr und Orphelia hatte gerade einmal den Reißverschluss am Rücken ihres Kleides geöffnet. Andere hätten aufgehört, doch sie machte weiter und stampfte den Takt bewundernswert exakt mit ihren Stiefeln. Ihr ganz persönlicher Beweis für die Zeilen „Life is a cabaret, old chum, come to the cabaret!“, die sie bis zum Ende a cappella sang. Nicht ohne eine Halsab-Geste in Richtung des DJs in ihren Tanz einzubauen, als der seinen Einsatz erneut versuchte und verpatzte. Stichwort Fehlleistung: Orphelia bereut bitter, dass sie sich als ganz junges Mädchen ein Tattoo stechen ließ. Im angeblich schlechtesten Tätowierungsstudio Luxemburgs und dann auch noch von einer Piercerin, weil der Tattoo-Künstler gerade nicht da war. Zum Glück ist es nur eine winzig kleine Rose geworden, die kaum auffällt. Den späteren Plan, sich die Alphonse-Mucha-Bilder „Der Tanz“ und „Die Musik“ übereinander gelegt tätowieren zu lassen, hat sie bald wieder aufgegeben. Denn Burlesque-Tänzerinnen sehen ohne Tattoos besser aus, meint sie: nackter. Obwohl das Doppelbildnis zu ihrem Sternzeichen Zwilling gepasst hätte und der Jugendstilkünstler ihr Lieblingsmaler ist. Während wir vor dem gemütlichen Holzofen sitzen, streicht sich Orphelia immer wieder die gerade neu kleopatra-schwarzen Haare glatt und erzählt von ihrer Vorliebe für die Kleidung der 30er und 50er Jahre. Der heute übliche Unisex-

Frei wie ein Paradiesvogel

Kleidungsstil gefällt ihr gar nicht. Sie mag auch privat Nahtstrümpfe und edle Unterwäsche im Vintage-Stil. Darüber am allerliebsten weit schwingende Marlene-Dietrich-Hosen. Trotz Bekenntnis zur Weiblichkeit: Miniröcke würde sie abseits der Bühne niemals tragen. Zum Unterschied von Orphelia hat Simone nämlich Sorge, jemand könnte ihr unter den Rock gucken.

Burlesque ... kommt aus dem Italienischen („burla“: Schabernack) und war im frühen 19. Jahrhundert eine humorvolle Form des Schauspiels. Später kam Gesang mit zweideutigen Texten hinzu. Um 1880 in London auch noch Striptease, allerdings als komödiantische Nummer. Zum Beispiel liefen zwei Frauen hintereinander her, eine stolperte und zog der anderen den Rock herunter. Der scheinbare Unfall ermöglichte die eigentlich verbotene Nacktheit auf der Bühne. Seit den 1920er Jahren gab es in normalen Revuen große Bilderrahmen, in denen Frauen nackt standen – was erlaubt war, solange diese sich nicht bewegten. Burlesque ist heute entweder eine eher komödiantische oder eher glamouröse Art, sich zu entkleiden. Anders als beim Striptease (in Orphelias Worten: „Zack, zack, nackt!“) ist hier der Weg das Ziel. Und ein Höschen bleibt immer dran.

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