Programmheft zur Literaturreise nach Marseille 2013

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sanierungsbedürftigen Pensionen mit günstigen Monatstarifen, die bis heute existieren. Während der Entkolonialisierung erreicht Marseille eine zweite Welle maghrebinischer Einwanderer. Von 1954 bis zur algerischen Unabhängigkeit 1962 kommen jährlich Hunderttausende über die Metropole nach Frankreich. Insgesamt 1,5 Millionen repatriierte Franzosen und Algerier mit französischen Pässen müssen durch den Hafen und Aufnahmeeinrichtungen geschleust werden. 120 000 bleiben mangels Alternativen im Umfeld des Hafens, leben zum Teil in Wellblechsiedlungen. Es entwickelt sich eine gut laufende Logistik: Die „Pistenwärter“ nehmen die Neuankömmlinge am Hafen in Empfang und bringen sie in den Hôtels meublés in Belsunce unter, deren Betreiber wiederum den lokalen Unternehmen oft als Beschaffer von billigen Arbeitskräften dienen. Das Viertel entwickelt dadurch eine an die Bedürfnisse der Migranten angepasste Infrastruktur und sich selbst zum obligatorischen Transitraum, zum Wohnort für viele Menschen auf der Durchreise. Für manche wird Belsunce allerdings auch zum festen Wohnsitz, vor allem für jene, die ohne Familie gekommen sind, und somit kaum Anrecht auf Sozialwohnungen am Stadtrand haben. Die "Chibanis" finden in den Foyers de travailleurs Unterkunft, und der ursprünglich als begrenzt gedachte Aufenthalt in Frankreich entwickelt sich zu einem Bleiben auf unbestimmte Zeit.

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Zu Beginn der Sanierungsmaßnahmen Anfang der neunziger Jahre bestand die Bevölkerung Belsunces hauptsächlich aus Migranten, deren Großteil alleine lebte und nur ein geringes Einkommen erzielte. Zwei große Bevölkerungsgruppen koexistieren: die Neuankömmlinge, auf der Suche nach einer Unterkunft, und die immigrierten Arbeiter in Rente, die sich definitiv in den Hôtels meublés und Foyers niedergelassen haben. Die Bevölkerung Belsunces ist größtenteils „inaktiv“: etwa 85% der Haushalte empfing 1994 stattliche

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