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Viel mehr als nur Musik Musikmachen und Klanglauschen entspannen; die Musiktherapie im SPZ Nottwil öffnet Querschnittgelähmten ihr Innerstes. Diese Psychotherapie lindert Schmerzen und regt an, sie ist gut für Körper und Geist. Text: Mathias Haehl | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog
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ine grosse Musikanlage, viele CDs und ein Sortiment Klangschalen, Trommeln, Saiteninstrumente sowie zwei Pianos warten auf musizierfreudige Patienten. Variantenreiche Aktivität ist möglich im Musiktherapiezimmer des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) Nottwil – doch die querschnittgelähmte Barbara Jöhr sucht im anstrengenden Rehabilitationsalltag Momente der Ruhe. Sie ist auf dem Weg in ihr Innerstes. Die 33-jährige Marketingfrau aus Lyss BE liegt auf dem Bett, macht die Augen zu und lauscht den leisen Klängen der tibetischen Klangschalen. Als Musiktherapeutin Beatrice Loeffel (60) die neun metallenen Klangkörper wie einen Kranz um ihren Körper auf die Matratze legt, freut sie sich: «Welch wunderbare Klänge! Sie entspannen und lassen mich abschalten.» Jede der gut 1,5 Kilo schweren Metallschüsseln schwingt auf einer eigenen Frequenz und lässt bei Barbara Jöhr einzelne Energiezentren (hinduistisch: Chakren) anklingen. Der eher dunkle Tageston erdet den Körper und vitalisiert, der Venusklang regt die Sinnlichkeit an und harmonisiert. Und wie: Die Rhythmen sorgen bei der Patientin für inneren Frieden; Gesicht und Glieder entspannen sich. Kräftiges Kribbeln in den Füssen Mehr noch: Barbara Jöhr spürt die Schwingungen, als Beatrice Loeffel die Klangschalen sporadisch mit einem Filzklöppel anschlägt. Die anschwellenden und abklingenden Klänge und Vibrationen wirken angenehm monoton, wie metallischer Singsang. Bald schläft Barbara Jöhr ein, ihre Finger zucken. Später wird sie sagen: «In meinen Füssen hat es kräftig ge-
kribbelt.» Füsse und Beine sind bei ihr in der Sensibilität stark eingeschränkt; bei anderen Querschnittgelähmten sind sie manchmal gar ganz gefühllos. Dass Paraplegiker dank der stark vibrierenden Klangschalen ihre Beine spüren, kommt immer wieder vor. «Viele berichten von Kribbeln oder Wärme», erklärt Loeffel, die seit 16 Jahren in Nottwil tätig ist. Sie spricht deshalb von einer «durchdringenden Klangmassage», die sie offeriert. Jene Patienten, die bisweilen Aggressionen gegen ihre gelähmten Glieder empfinden, lernen so, diese wieder zu akzeptieren. Gewisse Klangfrequenzen können gar Erinnerungen auslösen, vergessen geglaubte Erlebnisse und Gefühle hervorholen. Beatrice Loeffel: «Bei mir lernen die Menschen im hektischen Therapienalltag, zur Ruhe zu kommen und feine Regungen wahrzunehmen.» Dafür hatte Barbara Jöhr bei ihrem Autounfall 2002 kein Sensorium, als sie wenige Sekunden unachtsam war. Mit ihrem kleinen Zweiplätzer nahm sie eine Abkürzung durch den Wald. Bei dichtem Nebel krachte sie gegen einen Baum-
strunk. Jedes andere Auto hätte vermutlich nur einen Blechschaden erlitten – der leichte Kleinwagen aber stürzte mit ihr auf die Seite. Barbara Jöhr brach sich den siebten Halswirbel. Nach Jahren in der leichtlebigen Luxusuhrenbranche hat sie heute eine ernsthafte Bestimmung: als Marketingleiterin der «5 am Tag»Kampagne bei der Krebsliga Schweiz. «So bleibt der Körper in Schwung – fünfmal täglich Früchte und Gemüse zu essen ist wohltuend.» Therapie als Überlebenshilfe Als wohltuend empfindet Barbara Jöhr auch die Musiktherapie, seit sie mit gebrochenem Oberschenkel wieder im SPZ Nottwil liegt. Sie staunt nicht, wenn Beatrice Loeffel erzählt, dass ihr «psychodynamisches Handwerk mit dem Medium Musik» gar Überlebenshilfe bieten kann. Eine alte Frau beispielsweise hat Loeffel mit Tränen in den Augen gedankt: «Ohne Sie würde ich den Rehabilitationsalltag nicht durchstehen.» Die Musiktherapie mit all ihren vielfältigen Möglichkeiten ist mehr als nur Musik in den Ohren Versehrter.
Ein stein des Ganzen Die Musiktherapie ist ein Teil des Konzeptes zur ganzheitlichen Betreuung, Rehabilitation und Integration von Querschnittgelähmten im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil und gehört mit Psychologie, Feldenkrais, Kunst- und Maltherapie zur Psychologie-Abteilung. Meist in Einzelsitzungen lernen Patienten einmal in der Woche, mittels aktiver oder rezeptiver Therapie, eine neue Beziehung zu Körper, Seele und Geist zu finden und ein Gleichgewicht herzustellen.
Mehr Infos: www.paraplegie.ch/de/pub/spz/bereiche/psychologie.htm
Paraplegie, Mai 2013
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