Anna Karenina

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ANNAS TRAGIK Bodo Zelinsky

Die Ahnung ihrer Gefährdung verbindet Anna und Wronski von Anfang an. Sie prägt auch die Stunde des Glücks, die Szene der ersten körperlichen Vereinigung. Schon hier, wo die Beziehung zwischen Anna und Wronski noch am Beginn ihrer Entwicklung steht, wird versteckt, aber deutlich auf die Möglichkeit ihres Ausgangs hingewiesen. «Alles ist beendet» sagt Anna, «lch habe nur noch dich, denk daran». Anna bindet ihr weiteres Schicksal an Wronski und macht ihn auf die Verpflichtung aufmerksam, die er damit übernimmt. So wie sie nur noch für ihn lebt, soll er nur noch für sie leben. Erstmals meldet sich hier Annas übersteigerter Besitzanspruch, den der Beginn ihres Zusammenlebens mit Wronski spürbar verstärkt. Die Kapitel des ltalienaufenthalts zeigen auf der einen Seite Anna, die durch und durch glücklich ist, weil sie sich ganz ihrer Liebe hingibt, und auf der anderen Seite Wronski, der die Liebe weniger ausschliesslich auffasst. Jedesmal, wenn Wronski wegfährt, kommt es zu «Szenen». Von einer seelischen Einheit, wie sie einmal bestand, kann trotz der Versöhnungen keine Rede sein. Vertrautheit wendet sich in Entfremdung, Liebe in Kampf und Hass. Am Ende steht, fast zwangsläufig, der Tod. Spätestens in der Ausweglosigkeit des Selbstmords enthüllt sich Anna nicht nur als Schuldige, sondern auch als Opfer. Schon der Vefall ihrer Persönlichkeit ist zugleich ein Ausdruck von Unsicherheit und Hilflosigkeit. Die sich immer unsicherer und hilfloser fühlende Anna ist von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an der Lage nicht mehr gewachsen. Dazu hat ihre lsolierung von der Gesellschaft wesentlich beigetragen. Beide, Anna und Wronski, haben diese lsolierung unterschätzt. Beide erweisen sich dann am deutlichsten als Geschöpfe der Gesellschaft, als sie versuchen, ohne ihre Regeln auszukommen. Zur eigentlichen Ursache für das Scheitern der Beziehung wird der lrrtum Annas und Wronskis jedoch nicht. Anna geht weder an der verurteilenden Haltung der Gesellschaft noch an Karenins Verweigerung der Scheidung zugrunde, sondern

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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