ÖTK klubmagazin 3/2014

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nr.3/2014

reportage

Ein halbes Jahr durch die Anden

Eine abenteuerliche Reise von der Cordillera Blanca bis nach Feuerland Der Einstieg der „Via de los Franceses“ – der Franzosenroute Es ist 4 Uhr auf 5590 Meter, als wir die Normalroute verlassen. Obwohl es noch früh und kalt ist, brechen wir immer wieder hüfttief in den Schnee ein. Nach einer Stunde durchqueren wir ein Spaltenlabyrinth und stehen dann vor der Randkluft, die den Aufschwung der „Via de los Franceses“ markiert. Die Franzosenroute führt durch eine 60 Grad steile und 300 Meter hohe Steilflanke, die auf dem Südgipfel (5960 m) des Huayna Potosi der Cordillera Real, in Bolivien, endet. Wenn sie hart gefroren ist, stellt sie eine tolle Firn- und Eiskletterei dar. Mit etwas Geschick überwinden Carlos, ein Bergführer aus La Paz und ich die Randspalte. Danach geht es in direkter Linie bergauf. Der Himmel ist sternenklar und in der Ferne sehe ich die Lichter der Millionenstadt La Paz. Vor gut einer Woche bin ich von Copacabana her, einem malerischen Städtchen am Titicacasee, mit dem Bus in La Paz angekommen. Davor war ich zwei Monate in Peru unterwegs. Am meisten Zeit verbrachte ich in der faszinierenden Bergwelt der Cordillera Blanca. Nach Luft keuchend und mit klopfendem Puls legen wir eine kurze Pause ein. Es fängt zu dämmern an. Ich trinke einige Schluck heißen Tee. Das Wetter ist traumhaft, wie so oft um diese Zeit in der Cordillera Real. Dabei hat um das Refugio Argentino (5200 m) die halbe Nacht ein eisiger Wind geheult. Kurz bevor wir aufbrachen, hörte er – wie bestellt – auf. Ich schieße noch einige Fotos von der stimmungsvollen Dämmerung und den ersten Sonnenstrahlen. Dann geht es weiter. Jetzt brechen wir sogar schon alle vier Schritte ein.

Aufstieg und Schrecksekunde

Plötzlich sehe ich im Augenwinkel etwas Schwarzes die Steilrinne hinunterschlittern. Zuerst kann ich es nicht glauben, aber es ist mein Fotoapparat samt Hülle. Ich meinte auch noch zu sehen, wie er in einer Spalte verschwindet. Das war ein bitterer Moment. Nach einer weiteren Stunde meine ich, dass wir es wohl bald geschafft haben sollten. Ich frage Gonzalo und der meint: „a mitad“, die Hälfte. „Das gibt es doch nicht“, denke ich mir. Durch das ständige Einbrechen geht es viel langsamer vorwärts. Doch es sollte besser werden, denn im oberen Teil des Steilhangs stelle ich erfreut fest, dass der Firn unseren Schritten standhält. Um 10 Uhr stehen wir auf dem Gipfel und genießen das atemberaubende Panorama. Im Norden reicht der Blick bis zum Titicacasee. Der Südgipfel mit der

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Yanapaqcha, Peru, Aufstieg

Gipfel des Sairecabur, Atacamawüste, Nordchile

Franzosenroute sollte rückblickend eine der landschaftlich schönsten und konditionell härtesten Touren sein, die ich in diesem halben Jahr unternahm.

Was aber geschah mit dem Fotoapparat? Ich hab ihn wieder! Nach unserem Abstieg auf der Normalroute stapften wir zum Einstieg der Franzosenroute zurück. Einige Meter vor einer Spalte war der Apparat zum Stehen gekommen. Glück gehabt. Erlebnisse, Abenteuer und unzählige Eindrücke sind es auch, die mir nach einem halben Jahr intensiven Reisens durch die Anden Südamerikas geblieben sind. In meiner Erinnerung sind sie zu einem Teil meines Lebens geworden. Max Frisch bringt diesen Umstand auf den Punkt: „Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Josef Nuster Erinnerung.“


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