Inszeniertes Leben

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Alle wissen, dass das reale Leben weder mit dem gefühlten noch mit dem beschriebenen Leben identisch ist und dass es niemals rekonstruiert werden kann. Weder Tomarkins Sein noch sein Schein werden in einer Biografie wiederhergestellt. Wieso dann aber doch eine Biografie ? Eine Biografie ist ein leserfreundliches Mittel, Zeitphänomene nicht trocken zu beschreiben, sondern mit ihren Auswirkungen hautnah aufscheinen zu lassen. So besehen ist es vielleicht nicht ganz unnütz, wenn jeden Tag »irgend ein Schwachkopf die Biografie eines Schwachkopfs« schreibt, wie Hercule Poirot in Agatha Christies »Ball spielendem Hund« schimpft. Wieso aber die Biografie eines Unberühmten ? Da die Biografie einer Berühmtheit den Faktor Außergewöhnlichkeit voraussetzt, sind in einer Studie über einen aus seiner Zeit Herausragenden zeitbedingte Phänomene schlechter fassbar als in einem Bericht zu einem Mann wie Leander Tomarkin. War nun dieser Tomarkin eine rein individuelle, einmalige Persönlichkeit, die sich jedem Vergleich entzieht ? Oder war er ein exemplarisches, nur in seiner Zeit mögliches Beispiel ? Kann man einen zeitübergreifenden Typus ausmachen ? War er etwa schlicht ein Hochstapler, ein hedonistischer Goldgräbertyp oder einfach schizophren ? Diese Typisierung ist insofern sinnvoll, weil sie über das Einzelschicksal hinausweist und den Blick auf die gesellschaftliche Umgebung freimacht. Wie verändern sich im Laufe der Zeit die Möglichkeiten und Freiräume für ein Individuum ? Wir überprüfen dabei gesellschaftliche Maßstäbe, Normen, Mentalitäten, Sanktionen. Dank einer Typisierung ist der Transfer über die Zeiten hinweg in die Gegenwart zu leisten. Muster lassen sich erkennen, die für ein globales 21. Jahrhundert von einiger Bedeutung sind. Ein zentrales Ergebnis unserer Untersuchung besteht in der Feststellung, dass Tomarkin uns die Möglichkeiten und Gefahren einer globalen Biografie vorstellt. Er schritt über manche – nationale, berufliche, religiöse, gesellschaftliche – Grenzen hinweg. Seine Biografie bedarf eines weiten Blickes und wissenschaftlicher Kreativität, denn eine typische, alltagstaugliche, nicht auf die Glitzerwelt des Jetsets beschränkte »globale Biografie« gab es bislang nicht. Zwar können wir derzeit ein wachsendes Interesse an sozialwissenschaftlichen Studien zu Kosmopoliten und zur Gruppe der ständig im Ausland lebenden »expatriates« feststellen. Doch beschreiben diese selten eine Alltagsgeschichte und noch weniger die vielfältigen Spannungen, die wir am Beispiel von Tomarkin aufzeigen können. Wir stellen daher ein globales Subjekt dar, folgen seinen Reisen und haben einige nur auf den ersten Blick ungewöhnliche Annahmen getroffen : Wir gehen davon aus, dass Reisende nicht immer ankommen wollen, dass Flugzeug, Schiff und Zug nicht nur Transportmittel, sondern auch (Wohn-)Räume darstellen, die vorgezeigt und dokumentiert werden. Wir lassen nicht nur die Reisenden, sondern auch die Zurückgebliebenen zu Wort kommen, und wir erwägen jeweils zwei gegensätzliche 294

Schlusswort : Die Umkreisung der Wahrheit


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