Friesenanzeiger März 2016

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Kolumne

Immer hinterher… Stellen Sie sich doch mal mit einem oder zwei Komplizen auf einen belebten Platz und kucken Sie gemeinsam angestrengt in den Himmel, deuten mit dem Regenschirm nach oben, fuchteln mit den Armen und rufen aufgeregt „oh, das ist ja irre“, oder was Ähnliches. Im Nu wird mindestens die Hälfte der Passanten den Schritt verlangsamen und genau wie Sie in den Himmel glotzen, wenn auch nur verstohlen: Es könnte ja einerseits tatsächlich gerade was Interessantes oder Sensationelles da oben passieren, aber andererseits will man doch ein bisschen Abstand halten. Wenn Sie Glück haben, bleiben sogar ein paar Leute stehen, die Sie gern in Ihre Höhenvision einweihen dürfen, wobei es natürlich gar nichts zu sehen gibt. Sie wollen ja bloß mal einen Versuch machen und testen, wie groß der Herdentrieb ist, und der funktioniert in aller Regel ganz hervorragend. Bleiben Sie höchst interessiert an einem Messestand stehen, an dem gerade keine Kundschaft ist und lassen Sie sich von dem Marktschreier die ultimative Bratpfanne anpreisen: Flugs schieben sich zwei oder drei Leute auf Zehenspitzen heran und bald ist die Menschentraube komplett. So ähnlich funktionieren auch Trampelpfade, die wir uns anlegen: Wo ein pfiffiger oder gehfauler Mitmensch einen Abkürzungsoder Verbindungsweg anlegt, laufen zaghaft erst zehn, dann zwanzig und bald völlig selbstverständlich Hunderte hinterher; im Nu entsteht ein neuer, bedarfsgerechter Weg. Genau – warum sollen wir den anstrengenden Weg um das gesamte Rasenkarree nehmen, wir ziehen die Abkürzung schräg drüberweg vor: Gut, dass jemand schon vorgedacht und vorgetrampelt hat. Oder der blöde Umweg

von einem Supermarkt zum anderen, wobei die doch direkt nebeneinander liegen; da legen wir uns einen kurzen „Ho Chi Minh-Pfad“ an: Wenn es sein muss, überklettern wir auch den trennenden Zaun, was natürlich mit leeren Einkaufstaschen geht, die Rücktour mit vollgepacktem Wagen aber ziemlich erschwert. Also, kurzerhand und nicht ganz legal, knipsen Beherzte den Maschendraht durch, und nun können wir auch mit dem Einkaufswagen durch die Lücke poltern. Der Herdentrieb kann an Fußgängerampeln offensichtlich werden: Zehn warten brav auf grünes Licht, zwei latschen hoch erhobenen Hauptes bei Rot los – mit Sicherheit ziehen ein paar der Wartenden hinterher und haben gleich die passende Entschuldigung parat: Macht doch nix, so lange keine Kinder in der Nähe sind, denen man so als schlechtes Beispiel vorweglaufen könnte. Steht am Bahnsteig ein Zug mit einladend offenen Türen, wird erst einer, dann ein ganzes Dutzend hineinklettern – trotz des Hinweises „bitte nicht einsteigen“: Schnell hinterher, warum auch nicht, da sind doch gerade welche eingestiegen, die haben garantiert die besseren Informationen als wir… oder etwa doch nicht? Wenn die Masse in Bewegung kommt, fallen wir ganz oft darauf herein. Es ist schwer, dem Drang, mehr oder weniger kopflos hinterher zu rennen, zu widerstehen; oder wollen Sie etwa als Klein-Doofi zurückbleiben? Fotos: wiki.org

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