neunernews 23 Juni 2014

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INTERVIEW

ES BRAUCHT MEHR Es braucht einen leichteren Zugang zu leistbaren Wohnungen, fordert Markus Reiter, neunerhaus Geschäftsführer. Redaktion: BETTINA FIGL, WIENER ZEITUNG / Foto: SABINE HAUSWIRTH Inwiefern hat sich die Lage für wohnungslose Menschen verschärft? Die Fallzahlen sind massiv gestiegen, in Wien haben sie sich seit Beginn der Finanzkrise verdoppelt: Heute sind in Wien 10.000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen, bis 2006 waren es noch unter 5.000 Menschen. Die Wohnungslosenhilfe kann mit ihren Angeboten gar nicht schnell genug wachsen, um den gesamten Bedarf abzufangen. Wir brauchen viel mehr Zugänge zu Wohnraum für unsere KlientInnen, wenn sie aus unseren Betreuungsmöglichkeiten ins eigene Wohnen übersiedeln.

„Wir brauchen viel mehr Zugänge zu Wohnraum für unsere KlientInnen“, sagt neunerhaus Geschäftsführer Markus Reiter.

Wie viele wohnungslose Menschen wenden sich pro Monat an Sie? In Wien gab es zuletzt über 7.600 Anträge auf Delogierungen, das ist ein Anstieg von 20 Prozent. Es gibt nun 200 bis 300 neue Anfragen pro Monat in der gesamten Wiener Wohnungslosenhilfe. Derzeit übersiedeln Ihre KlientInnen nach einiger Zeit des betreuten Wohnens in Gemeindewohnungen – welche Wohnungen gibt es außerdem? Abgesehen von unserem Projekt ERST WOHNEN de facto keine: Derzeit gibt es fast ausschließlich Zugang zu Gemeindewohnungen, und deren Kapazitäten sind nahezu erschöpft. Wir, also die gesamte Wiener Wohnunglosenhilfe, betreuen rund 10.000 wohnungslose Menschen, dem stehen 4.500 Wohnplätze in den Übergangshäusern und betreute Wohnplätze gegenüber. 2012 haben 700 Menschen es geschafft, eine Wohnung zu bekommen, davon hat die Gemeinde Wien 600 zur Verfügung gestellt. Doch zwei Drittel des Marktes bestehen aus Privat- und Genossenschaftswohnungen, hier ist viel mehr möglich. So gibt es supergünstige 30 Jahre alte Genossenschaftswohnungen, aber da braucht es das Goodwill der gemein-

nützigen Bauträger. Und der private Wohnungsmarkt ist mittlerweile kaum mehr erschwinglich. Wir benötigen zusätzlich ein eigenes Kontingent von 500 Wohnungen und wollen für diesen Zweck eine eigene Vermittlungsagentur gründen, bei der sich alle Sozialträger einbringen können. Worauf setzen Sie beim vorübergehenden Wohnen, wie wichtig ist Selbständigkeit? Die Menschen sollen wieder rasch eigenständig wohnen. Früher führte der Weg von der Straße ins Notquartier, dann ins Übergangswohnheim und schließlich in die eigene Wohnung. Da besteht die Gefahr, dass die Menschen wieder zurückfallen. Uns geht es nach dem Housing-First-Modell um eigenständiges Wohnen mit Betreuung von Anfang an.

Wer ist Ihre Zielgruppe? Hat sich das Bild des wohnungslosen Menschen verändert? Sehr häufig kommen Familien, AlleinerzieherInnen und Alleinstehende mit Belastungen: Diese Menschen sind chronisch krank, haben Schulden oder eine Lebenskrise hinter sich, aber es sind nicht mehr „die Verwahrlosten von der Straße“. Drei Viertel von ihnen kommen aus gesicherten Wohnverhältnissen. Warum gibt es weniger, leistbare Wohnungen am Markt? Für SMART-Wohnungen braucht es nur 60 Euro Eigenmittel – das ist leistbar. Aber die Stadt Wien sieht derzeit nicht vor, dass diese für unsere KlientInnen verfügbar sind. In den vergangenen 20 Jahren sind viele Mittelstandard- und Luxuswohnungen gebaut worden, aber kaum kleine, leistbare Wohnungen.

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