Jerusalemskirchen | Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes

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Jan Pieper, Anke Naujokat, Anke Kappler

Jerusalemskirchen Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes

Katalog zur Ausstellung


Vorderer Umschlag: Blick in die Felsenkirche St. Jean in Aubeterre (Frankreich).

Jan Pieper, Anke Naujokat, Anke Kappler: Jerusalemskirchen – Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes Katalog zur Ausstellung Herausgegeben von Jan Pieper

ISSN 1437-1774 ISBN 3-936971-10-2 Erschienen innerhalb der Reihe Wissenschaftliche Schriften der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen Band 3 Herausgegeben von Wolfgang Döring, Wilfried Führer und Michael Jansen ©

bei den Autoren und den FdR - Aachen 2003 Schinkelstraße 1, D-52062 Aachen fdr-publikationen@architektur.rwth-aachen.de

Skizzen: Jan Pieper Gestaltung: Anke Naujokat, Björn Schötten Layout und Umschlag: Björn Schötten Umschlagfoto: Björn Schötten Druck: „Druckspektrum“ Hirche-Kurth GbR, Aachen Das Werk ist allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autoren ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.


Jan Pieper, Anke Naujokat, Anke Kappler

Jerusalemskirchen Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes Katalog zur Ausstellung



Inhalt

Einleitung..............................................................................................................................................................7

Architektonische Toposforschung .....................................................................................................................8

Jerusalemskirchen..............................................................................................................................................12 Die ursprüngliche Bauidee der konstantinischen Grabeskirche..................................................13 Die orientalischen Gräber der „sterbenden und wiederaufstehenden Götter ..........................14 Die Christliche Wendung des orientalischen Auferstehungsglaubens.........................................14 Die kultischen Grundlagen der mittelalterlichen Heiliggrabkopien ...........................................15 Die Jeruzalemskerk in Brügge: Eine Zitiatarchitektur der persönlichen Erinnerung ..............16 Das Heilige Grab in Görlitz: Kreuzwegstationen im Heiligen Garten .......................................17 St. Jean in Aubeterre: Eine architektonische Darstellung des allgemeinen Themas von Todesfurcht und Lebenshoffnung .............................................................................................20

Das Forschungsprojekt .....................................................................................................................................24

Die Jerusalemer Grabeskirche.........................................................................................................................25

Das Heilige Grab in Jerusalem........................................................................................................................27

Mittelalterliche Heiliggrabkopien .......................................................................................................................

Heiliggrabkopien in Einzeldarstellungen Tomar ....................................................................................................................................................... Aubeterre ................................................................................................................................................ Eichstätt................................................................................................................................................... Konstanz .................................................................................................................................................. Florenz ..................................................................................................................................................... Brügge...................................................................................................................................................... Augsburg.................................................................................................................................................. Görlitz ......................................................................................................................................................

Zusammenfassung .............................................................................................................................................54

Räsonierende Bibliographie.............................................................................................................................54

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Einleitung ΤΟΠΟΣ

Das Forschungsprojekt „Jerusalemskirchen“ beschreibt anhand ausgewählter Beispiele Entstehung und Nutzung der Heiliggrabkopien in Mitteleuropa. Die mittelalterlichen Kleinarchitekturen entstanden nach dem Modell des Grabes Christi in Jerusalem, das durch die Kreuzfahrer eine neue Gestaltung als reich geschmückte Ädikula mit Ziborium erfuhr. Diese Architektur wurde zum Vorbild für zahlreiche Nachbauten in Europa, blieb selbst jedoch nicht erhalten. Neben Pilgerberichten und bildlichen Darstellungen vermitteln die Nachbauten eine Vorstellung des Ursprungsbaus, den sie abbilden, ohne einer originalgetreuen Vervielfältigung zu entsprechen: Vielmehr interpretieren die Jerusalemskirchen im Kontext ihrer jeweiligen Zweckbestimmung bestimmte Elemente des Heiligen Grabes neu. Diesen mimetischen Charakter der Jerusalemskirchen beschreibt Jan Pieper: Als „Kleinarchitektur in einer umschließenden Raumhülle“ formulieren die Bauten eine architektonische Grundidee, wie sie auch von anderen Kulturen und Religionen als Ausdruck ihrer architektonischen Bilder und Vorstellungen realisiert wurde. Diese grundlegende Bauidee ist Thema der architektonischen Toposforschung, denn hier artikuliert sich – über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg – ein elementarer Gedanke der Baukunst. Anhand einzelner Heiliggrabkopien, deren Raumlösung die Intention von Auftraggeber und Architekt exemplarisch verdeutlichen, werden die Zusammenhänge von kultischer Bedeutung, persönlicher Erinnerung und Nutzungsanspruch deutlich. Im Anschluß werden acht mittelalterliche Jerusalemskirchen vorgestellt, die als „topische Nachahmungen“ klar umrissene Ideen und Absichten erkennen lassen, indem sie bestimmte Aspekte des Jerusalemer Grabes aufgreifen, die architektonisch überhöht werden. Die monographische Bearbeitung der Heiligen Gräber in Tomar, Aubeterre, Eichstätt, Konstanz, Florenz,

Brügge, Augsburg und Görlitz basiert auf der Grundlage umfangreicher Bauforschung. Anhand von verformungsgerechten Bauaufnahmen wird im direkten Kontakt mit dem Bauwerk, kombiniert mit seiner exakten zeichnerischen Wiedergabe, eine individuelle Dokumentation angestrebt, als notwendiger Ausgangspunkt jeder wissenschaftlich fundierten Argumentation. Die Aufarbeitung der archivalischen Schriftquellen sowie des historischen Bildmaterials dient dabei als wichtige Ergänzung einer am Bau selbst orientierten Analyse. Die so gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen Aussagen über die zugrundeliegende Gestaltungsabsicht, indem Entstehungsgeschichte und Veränderungen offenbar werden. Die hier vorgestellten Heiliggrab-Imitationen lassen sich in folgende Kategorien unterteilen: • Aus dem Stein gewachsene Monolitharchitekturen, die Dunkelheit und Souterrain als Assoziation von Grab und Tod betonend den megalithischen Charakter der Jerusalemer Grabeshöhle nachahmen, wie das Heilige Grab in Aubeterre. • Bauwerke, die den durch die Grabeskirche vorgezeichneten Topos der „Kleinarchitektur im Innenraum“ nachahmen, dabei aber zu freien Lösungen in der Interpretation von Ädikula und Hülle gelangen, wie die Heiligen Gräber in Konstanz und Augsburg. • Grabbauten, die sich als naturgetreue Kopien oder wörtliche Zitate des Jerusalemer Vorbilds verstehen, wie das Heilige Grab in Eichstätt. • Gartenensembles oder Stationsbauten innerhalb von Kreuzwegen lassen die Passionslandschaft nachvollziebar werden, wie bei dem Heiligen Grab in Görlitz. • Nach angeblichem oder tatsächlichem Aufmaß der Jerusalemer Bauten errichtete Anlagen, deren Mittel der Imitation die

Maßübertragung oder Maßstäblichkeit in Bezug auf das Original darstellt, wie bei dem Heiligen Grab in Florenz. Kombinationstypen, die verschiedene Merkmale additiv verwerten und so zu ganz persönlichen Erinnerungsarchitekturen ihrer Bauherren werden, wie die Heiligen Gräber in Tomar und Brügge.

Diese Ergebnisse resultieren aus einem seit fünfzehn Jahren von Prof. Dr.-Ing. Jan Pieper geleiteten Forschungsprojekt, das zunächst am Lehrstuhl für Baugeschichte an der TU Berlin, dann an der RWTH-Aachen von verschiedenen wissenschaftlichen Mitarbeitern durchgeführt wurde. Die Architekten Karl Kiem, Martina Abri, Susanne Traber und Anke Naujokat führten die Bauaufnahmekampagnen zu den verschiedenen europäischen Zielen durch und beaufsichtigten die anschließende zeichnerische Umsetzung der Messergebnisse. Unterstützt durch den Geodäten Holger Wanzke maßen zahllose Studenten und studentische Hilfskräfte die Heiligen Gräber vor Ort auf und verwandelten anschließend am Zeichentisch die Vorzeichnungen in Präsentationspläne. Die Zusammenstellung der Ergebnisse in diesem Katalog unternahm Anke Naujokat. Eine Förderung durch die Deutsche Forschungsgesellschaft ermöglicht seit 2003 den bereits angelegten interdisziplinären Ansatz anhand historischer Studien zu vertiefen. In Kooperation mit dem Historischen Institut unter der Leitung von Prof. Dr.-Phil. Max Kerner recherchiert Anke Kappler vor Ort die archivalischen Quellen. Weitere Jerusalemskirchen in Deutschland, Frankreich und Italien sollen darüber hinaus die bereits dokumentierten Bauten ergänzen und werden ebenfalls im maßstabsgerechten Bauaufmaß mit begleitender Archivrecherche ausgewertet, so sind Bauaufnahmekampagnen zu den Externsteinen sowie nach Canosa di Puglia, Brindisi und Neuvy geplant.

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Architektonische Toposforschung Der moderne Toposbegriff besitzt zwei grundverschiedene Bedeutungen. Zum einen wird er nach wie vor in seinem ursprünglichen, historischen Sinn verwendet, der aus der antiken Redekunst hergeleitet ist. Griechisch „Topos“, wörtlich „Ort“, meint ursprünglich ein konventionell festgelegtes rhetorisches Muster, das dem antiken Redner half, einen Gedankengang, eine Beweisführung, eine Pointierung seiner Rede mittels eines sprachlichen Bildes zu ordnen und zu präzisieren. Diese ursprüngliche Bedeutung ist heute jedoch ganz in den Hintergrund getreten, dagegen hat er den Begriff in der auf Ernst Robert Curtius zurückgehenden literarischen Toposforschung bedeutsame Erweiterungen und zugleich auch eine ganz neue Wendung erfahren. Curtius hat in seiner „historischen Topik“ (1938) den Toposbegriff der Rhetorik auf die klassische Literatur insgesamt ausgeweitet, indem er die dort nachzuweisenden, immer wiederkehrenden dichterischen Wendungen, Sprachbilder und fest umrissenen Vorstellungen als Topoi bezeichnete. Sein ursprüngliches Anliegen war es, das Fortleben dieser antiken – aber eben nicht mehr bloß rhetorischen, sondern allgemein literarisch-poetischen Topoi – in der Dichtkunst des lateinischen Mittelalters nachzuweisen. Unter der Arbeit an diesem Werk, das 1948 als „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ erschien, ist er jedoch einem Strukturprinzip der dichterischen Darstellung überhaupt auf die Spur gekommen, das er schon zehn Jahre zuvor mit der Feststellung erahnt hatte: „Ein Topos ist etwas Anonymes. Es fließt dem Autor in die Feder als literarische Reminiszenz. Er hat eine zeitliche und räumliche Allgegenwart [...] Die Toposforschung [...] kann bis zu den unpersönlichen Stilformen vordringen. In diesen unpersönlichen Stilelementen aber berühren wir eine Schicht historischen Lebens, die tiefer gelagert ist als die des individuellen Erfindens“ .1 Für Curtius bilden diese so verstandenen Topoi einen begrenzten Vorrat an Bildern und Vorstellungen, in denen die dichterische Sprache die „Urverhältnisse des Daseins“ fasst und in denen letztlich die poetische Tiefe jeder Literatur jenseits der vordergründigen Erzählung, jenseits der narrativen Gestalt begründet liegt. Die Topoi gehören einer Schicht der literarischen Phänomene an, die wie eine geologische Formation unter der veränderlichen Oberflächengestalt der Motive, Symbole und Metaphern ruht, die unabhängig von allen Erscheinungen, die Stilkritik zu fassen sucht, die wirklich bewegende und existenziell berührende Qualität jeder literarischen Schöpfung ausmacht. Diese Denkfiguren von der wechselnden literarischen Form, die nicht vom Dichter erfunden, sondern lediglich bewusst oder unbewusst benutzt werden, diese Vorstellungsmodelle, in denen „Seinsverhältnisse gedacht und geformt sind“2, lassen aus einer bloßen Geschichte, aus einem schlicht wohlklingenden Reim, aus einem einfachen Satz ein bedeutsames Ereignis werden, in dem der Leser sich existentiell wiederfinden kann. Die literarische Toposforschung hat in jahrzehntelanger Arbeit eine erstaunliche Fülle solcher Topoi in den unterschiedlichen Literaturen aufgespürt, ist ihren Traditionen und Entstehungsumständen nachgegangen, hat ihre bleibende Substanz und ihre historische Modifikation über weite Räume und Zeiten hinweg verfolgt. Ihre Betrachtungsweise lässt sich mutatis mutandis auch für die Architekturgeschichte fruchtbar machen, ja, sie ist geeignet, die baugeschichtliche Forschung über die engen Grenzen von Objektund Stilgeschichte, über Formenlehre, Ikonogra-

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phie und Typologie hinweg an die wirklich zentralen und relevanten Probleme der wissenschaftlichen Architekturbetrachtung heranzuführen. Dies gilt zumindest dann, wenn man den Sinn der Bauforschung nicht in evolutionistischen Analysen zur Genese von Stadt, Gebäude, Bauform und Konstruktion erschöpft sieht, sondern wenn man akzeptiert, dass die Baugeschichte vor allem klären muss, was Architektur dem Menschen, den sie behaust, letztlich bedeutet – eben nicht nur als Schutzdach oder Funktionsgerüst, sondern vor allem als wichtigste aller kulturellen Setzungen, mit denen wir uns in der materiellen und in der vorgestellten Welt einrichten. Auch in der Architektur gibt es, wie in den Literaturen, eine ganze Reihe vordergründiger Erscheinungen, die zunächst das Interesse an sich binden. Da ist wiederum ein narratives Element, das sich in der Darstellung von Herrschaft und Funktion, von Repräsentation, Nutzung und Individualgeschichte erschöpft. Da gibt es die Formen dieser erzählerischen Traditionen, die sich periodisch wandeln, und die wir die Baustile nennen. Da teilt sich schließlich die Vielfalt der Einzelbauten nach ihrer Zweckbestimmung in größere Gruppierungen, in eine hochentwickelte Bautypologie, die ihre Raumsysteme nach Notwendigkeit und Zweckbestimmung ordnet. Aber Architektur ist nicht nur bloße Behausung oder Organisation von Notwendigkeiten, nicht nur ein ästhetisches Formenspiel, das dem Zeitgeist folgt, nicht nur ein Darstellungsmittel der Intentionen und des Selbstverständnisses der Macht. Wie die Literatur verdankt die Architektur ihre eigentlich bewegende, über die Zeiten hinweg ungebrochen fortwirkende Kraft der Tatsache, dass sie eine als existentiell empfundene Situation herstellen muss, will sie nicht Gefahr laufen, in der Banalität ihrer vordergründigen Zweckbestimmung steckenzubleiben. Man kann sagen: Von Architektur in jedem Sinne, der über die einfältigsten materialistischen Definitionen hinauskommen möchte, kann man überhaupt erst dann sprechen, wenn sich die vielfältigen formalen und funktionalen Aspekte eines Gebäudes nach einem umfassenden, augenblicklich zu begreifenden Baugedanken ordnen. Für die Begreifbarkeit des Baugedankens ist entscheidend, dass er nicht, einem zufälligen Einfall folgend, willkürlich erfunden wurde, sondern dass er in architektonischen Metaphern auf die grundlegenden Erfahrungen der natürlichen, künstlichen oder vorgestellten Welt verweist. Diese grundlegenden Baugedanken sind für die Architektur das, was für die erzählerischen Künste die literarischen Topoi bedeuten – nach einem Wort Goethes kann man sie begreifen als „Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholen haben und wiederholt werden, und die der Dichter nur als historisch nachweist“3. Die Literaturwissenschaften sind in der Erforschung dieser „Phänomene des Menschengeistes“ schon sehr viel weiter vorangekommen als die Theorie und Geschichte der Architektur. Die dort entwickelten Begriffe sind geeignet, auch die verwandten Phänomene der Architektur zu benennen, und deshalb liegt es nahe, die elementaren Gedanken der Baukunst, die als bildhafte Vorstellungen in periodisch wechselnden Formen und Gestaltungen aller bedeutsamen Architektur zugrunde liegen, in Analogie zur literaturhistorischen Begriffsbildung als „architektonische Topoi“ zu bezeichnen. Die architektonische Toposforschung, die sich diesen Phänomenen widmet, geht von der Maxime aus, dass die Architektur zwar einerseits die historischen Wandlungen des menschlichen Bewusstseins

Varallo, Sacro Monte. Ineinandergestellte Kleinarchitekturen.

Varallo, Sacro Monte. Obeliskenbekrönte Himmelfahrtskapelle im Innern der Rotunde.

Rotunde mit eingebautem Stufenberg. Durch die Lichtkuppel blickt man in eine dreidimensionale Darstellung des Fegefeuers.


S. Maria della Consolazione in Todi. Ein mächtiger Renaissance-Zentralbau über der primitiven Gnadenkapelle.

widerspiegelt, in welchem sich die fortwährende und naturgemäß auch fortschreitende Auseinandersetzung mit der sich ständig verändernden materiellen und gesellschaftlichen Organisation unserer Existenz niederschlägt, dass sie andererseits aber auch körperliche und seelische Urbefindlichkeiten beheimaten muss, die sich in historischen Zeiträumen nur ebenso unmerklich ändern wie die Grundgegebenheiten der menschlichen Physiologie. Ihr Erkenntnisziel sind die architektonischen Vorstellungsmodelle, die sich um die anthropologisch determinierten Festpunkte in unserer Beziehung zu Raum, Form und Architektur angelagert haben, und ohne deren offensichtliche Existenz wir den lange vor unserer Zeit entstandenen Monumenten der eigenen Kulturgeschichte ebenso verständnislos gegenüberstehen müssten wie der Baukunst außereuropäischer Tradition. Tatsächlich aber vermag uns beides ebenso unmittelbar zu fesseln wie die Zeitgenossen der Erbauer, gleichgültig, ob sie einer längst versunkenen Epoche oder einer räumlich fernen und fremden Kultur angehören. Konsequenterweise kann es für die architektonische Toposforschung keine Beschränkung auf einen bestimmten Raum oder eine abgeschlossene Epoche geben. Im Gegenteil, sie wird ihr Hauptaugenmerk auf die Universalität der architektonischen Vorstellungswelt richten, die jenseits aller historischen oder zeitspezifischen Besonderheit immer wieder neu, dann allerdings originell und mit je besonderen Mitteln zur Darstellung gebracht werden will. Ein solches Verständnis weist der Toposforschung innerhalb der historischen Architekturwissenschaften eine besondere Relevanz für die Praxis des architektonischen Entwerfens zu. Die historische Baukunst, wie auch die Architektur fremder Völker und Kulturen, wird als die Manifestation ästhetischer Bedürfnisse verstanden, die im Bauen unserer Zeit ebenso berücksichtigt werden wollen wie in der Vergangenheit. In systematischer historischer und kulturvergleichender Arbeit gilt es, diesen so ungeheuer reichen Erfahrungsschatz zu heben, den uns der Baueifer zahlloser

Generationen hinterlassen hat. Nicht, um ihn als einen Katalog formaler Vorbilder zu verschleudern, sondern um darin die unendliche Metamorphose eines begrenzten Vorrats an Bildern und Vorstellungen zu erkennen, die von uns mit unseren Mitteln und Möglichkeiten immer wieder neu gestaltet werden wollen und müssen – in Erfüllung unserer Verpflichtung gegenüber einem die Jahrhunderte umspannenden Generationenvertrag der architektonischen Kultur. Anhand des hier abgedruckten Materials über die Jerusalemskirchen soll beispielhaft dargestellt werden, welche Erkenntnismöglichkeiten der Ansatz einer architektonischen Toposforschung bereithält: Er ermöglicht vor allem ein Verständnis der architektonischen Gestaltbildung und Gestaltwahrnehmung. Die Entstehung des Bautyps der Jerusalemskirchen ist an eine ganze Reihe historischer Voraussetzungen geknüpft, an die kultische Bedeutung des Heiligen Grabes, an das Phänomen der christlichen Wallfahrt, an die epochale Auseinandersetzung der mittelalterlichen Christenheit mit dem Islam: Aber die unmittelbare architektonische Wirkung der Jerusalemskirchen ist demgegenüber zeitunabhängig; ihr Bauschema der Ädikula im Innenraum rührt an eine Ebene der architektonischen Wahrnehmung, die erst jenseits der wechselnden Darstellungsabsichten beginnt, die tiefer liegt als die Tagesgeschichten, die die heiligen Gräber erzählen. Wir haben es hier mit einer räumlichen Struktur mimetischen Charakters zu tun. Die Rotunde, die mit der Ädikula schwanger geht, entspricht einer der elementarsten Gesten der natürlichen Welt, die dort in vielhundertfacher Abwandlung immer wieder begegnet, von der Perle in der Muschel bis zum Erzgang im Muttergestein. Natürlich wird in den Heiliggrabkopien nicht eine bestimmte Form dieser Gesten der Natur nachgeahmt – am wenigsten in anthropomorpher Plattitüde – sondern das allgemeine Formprinzip des Kleinen im Großen, des Verfeinerten im Groben, des Neuen in Alten, das all diesen Gesten zugrunde liegt, wird im architektonischen Topos der ineinandergestellten Baugestalten aufgegriffen und mit den Eigenmitteln

Eine Kolossalfigur im engen Hohlraum eines burmesischen Stupa.

Die Casa Santa von Loreto. Das freistehende Haus Mariens im Innenraum der Kirche, barocke Nachbildung in Hergiswald (Schweiz).

Montmorillon. Templerkapelle als Oktogon über einem innenliegenden Stufenbau, der wahrscheinlich an den Tempel zu Jerusalem erinnern soll.

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Freistehender Stupa in der Apsis der buddhistischen Höhlenanlage (Chaitya) von Karli (Indien).

der Architektur in Szene gesetzt. Ein erstes, bedeutendes dieser Eigenmittel ist die Geometrie, die den ungeschiedenen Formenfluss der Natur auf ihre prinzipiellen Grundgestalten reduziert und sie damit zugleich verfremdet und verkunstet. Diese geometrische Anverwandlung und die geistige Durchdringung der Naturerscheinungen in den Kunstformen der Architektur bedeutet eine Neuprägung der in der Natur angelegten Erfahrungen: Sie schafft ein kulturelles Gegenüber, in welchem sich der Mensch als Kulturwesen aufgehoben fühlen kann, und wo dennoch die Erinnerungen an die natürlichen

Ursprünge und seine eigene naturhafte Seite noch nicht verloren sind. So schlägt der architektonische Topos hier die Brücke über den dunklen Fluss, der die menschliche Existenz nach Geist und Sinnen, nach Kultur und Natur scheidet. Die Architektur muss notwendigerweise eine ganz andere Welt darstellen als die Natur, aber so bleibt sie vertraut, auf unbestimmte Weise bekannt, wie aus einer fernen Erinnerung. Und so kann man im Rückgriff auf einen bestehenden Anspruch von Curtius sagen: Auch der architektonische Topos redet wie der literarische „die ewige Sprache des Traumes“4.

Katafalk in Form einer im Innenraum frei aufgebauten, achteckigen Kapelle für Carlo Barberini, Ferrara 1630.

Felsendom in Jerusalem. Achteckiger Kuppelraum, in dem sich der natürliche Felsen mit einer unterirdischen Höhle erhebt.

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Die topische Struktur der Jerusalmeskirchen birgt das Geheimnis ihrer nachhaltigen architektonischen Wirkung. Wie bei jedem Bauwerk von Rang sind ihre grundlegenden Baugedanken nicht über einen effektvollen Einfall des Augenblicks zustande gekommen, sondern sie wurzeln in einigen wenigen anthropologischen Grundtatsachen und Grunderfahrungen, die jedermann vertraut sind und denen sich niemand entziehen kann. Dies alles erlaubt ein unmittelbares Begreifen der Bauidee, schafft ein diffuses Gefühl der Vertrautheit und bietet die Möglichkeit zu einer Identifikation mit der Architektur in einem sehr wörtlichen Sinne. So bleibt auch uns Heutigen diese jahrhundertealte Architektur ebenso lebendig wie den Zeitgenossen. Unbeeinträchtigt vom Wechsel der Zeiten, frei von allem Kunstwollen der Stilepochen und unerreichbar für die Schwankungen der Tagesmoden verleiht die topische Grundstruktur der historischen Architektur ihr scheinbar ewiges Leben. Eine architektonische Topik, die sich der wissenschaftlichen Durchdringung dieser Phänomene widmet, will die klassischen Felder der Bauforschung nicht ersetzen, wohl aber in diesem wichtigen Bereich ergänzen. Ihr stellt sich die Aufgabe, das historische Auftreten bestimmter, fest umrissener Topoi innerhalb der Baugeschichte zu lokalisieren und wirkungsgeschichtlich zu untersuchen. Vor allem aber muss sie die architektonischen Mittel betrachten, die bei der Inszenierung eines bestimmten Topos zur Anwendung kommen. Da die Untersuchung der Jerusalemskirchen in dieser methodischen Hinsicht exemplarisch verstanden werden möchte, nimmt gerade diese Fragestellung hier einen sehr viel breiteren Raum ein, als sonst in der baugeschichtlichen Forschung üblich. Natürlich ist der gesamte Ansatz nicht frei von methodischen Schwierigkeiten. Die architektonische Toposforschung kämpft mit dem gleichen Problem, das auch die literarische Topik immer wieder beschäftigt. Der Toposbegriff, dessen substanzielle Berechtigung unmittelbar einleuchtet, ist an den Rändern unscharf. Während es in der Literaturwissenschaft schwerfällt, ihn gegen die Begriffe des Motivs, der Metapher, des sprachlichen Bildes usw. abzugrenzen, gibt es in der architektonischen Topik Überschneidungen vor allem mit dem Begriff des Bautyps. Weit davon entfernt, hier abschließende Klarheit zu schaffen, ist es dennoch möglich, einige Unterscheidungen herauszuarbeiten. Unter Bezugnahme auf das hier abgedruckte Plan- und Bildmaterial sei zur Verdeutlichung auf den Bautyp der Memorie verwiesen, der in seiner wichtigsten Erscheinungsform eine baldachinartige, meist mittenorientierte Überbauung eines architektonischen Objektes darstellt. Es ist offensichtlich, dass es dabei enge Berührungen und Überschneidungen mit dem architektonischen Topos der Kleinarchitektur im Innenraum – des „Hauses im Hause“, der ineinandergestellten Baugestalten – gibt. Aber ein wesentlicher Unterschied ist darin zu sehen, dass der Topos grundlegender, umfassender angelegt ist als der Bautypus. Der Topos des Kleinen im Großen kann sich in ganz verschiedenen Bautypen manifestieren, in unseren Beispielen etwa in der Hallenkrypta von Aquapendente, die keineswegs der Bautypologie der Memorie zuzuordnen ist und die dennoch mit ihrer pyramidalen Heiliggrabkopie den architektonischen Topos der Jerusalemskirchen mit ihren Ädikulen im Innenraum variiert. Ein Bautypus kann nur im Zusammenhang mit konkreten Nutzungen gedacht werden, im Falle der Memorie etwa nur im Zusammenhang mit der


kultischen Überhöhung und Fassung eines sakrosankten Objektes, während ein Topos unter vielerlei Baugestalten aufzutreten vermag. So kann man sagen: Der Typus ordnet den Gebrauch einer Architektur, der Topos dagegen ermöglicht ihr unmittelbares, räumlich-architektonisches Verständnis. Hieraus ergibt sich eine Hierarchie der Begriffe. Der architektonische Topos steht zum Bautyp etwa im gleichen Verhältnis wie dieser zum Baustil. So wie ein Bautyp – etwa der Zentralraum – in romanischen, gotischen oder renaissancehaften Bauformen gefasst sein kann, so kann ein architektonischer Topos – etwa der Topos der Kleinarchitektur im Innenraum – in Gestalt vieler Bautypen auftreten, in der Memorie, in der Grablege, in der Taufkirche, im buddhistischen Chaitya usw. Darüber hinaus unterscheiden sich Baustil, Bautyp und Architekturtopos durch ganz unterschiedliche Grade der Historizität. Die Stilmittel sind das Ergebnis der Sehgewohnheiten ihrer Epoche, die Bautypen der sich unterschiedlich schnell wandelnden Funktionen, die Topoi dagegen entsprechen den anthropologischen Konstanten im Umgang mit der Architektur. Entsprechend kurz- oder langlebig sind sie. Die Stile existieren ein oder zwei, jedenfalls wenige Jahrhunderte, die Typen leben, solange sie eine Funktion erfüllen, solange sie ein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen oder dem Stand der materiellen Kultur entsprechen. Die Topoi dagegen bestehen, solange es Architektur gibt. Buddhistisches Höhlenkloster mit freistehendem Stupa in Bhaja (Indien).

Anmerkungen 1

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Schnitt durch das Grabmonument Mahmuds in Bijapur (Indien), in welchem sich ein freistehender baldachinbekrönter Kenotaph über der unterirdischen Gruft erhebt

Curtius, E. R.: Zur Literaturästhetik des Mittelalters II., in: Zeitschrift für Romanische Phililogie; Bd. 58, 1938, S. 139. Veit, W.: Topos, in: Fischer Lexikon Literatur 35/2, Hrsg. von W. Killy, Frankfurt 1965, S. 570. Goethe, J. W. von: Maximen und Reflexionen, Weimarer Ausgabe, Werke I, 42,2 S. 250. Curtius, E. R.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), 10. Aufl., Bern und München 1984, S. 109, 113.

Jaintempel auf dem Berg Girnar (Indien), dessen Zentralräume dreidimensionale, stilisierte Wiedergaben von zwei heiligen Bergen enthalten.

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Jerusalemskirchen Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes.

In der Mitte der Cappella Rucellai bei San Pancrazio in Florenz steht ein kleines, kostbar wirkendes Marmorhäuschen von kubischer Gestalt, bekrönt mit einem sechseckigen Pavillon, der eine orientalische Riffelkuppel trägt. Über der einzigen Tür, die in das fensterlose Innere führt, ist eine Inschrift angebracht, die den Bauanlass und das Baudatum 1467 mitteilt, und die darüber hinaus berichtet, man habe die Kleinarchitektur nach dem Vorbild des Heiligen Grabes in Jerusalem gestaltet. Die Zweckbestimmung des Gebäudes legte dieses Zitat nahe: Es sollte der Familie der Rucellai, den bedeutenden Mäzenen der Florentiner Kunst und Kultur des Quattrocento, als Grablege dienen, und nach einem durch und durch mittelalterlichen Gedanken ließ man es deshalb als Abbild des Grabes aller Gräber, des Christusgrabes inmitten der konstantinischen Anastasisrotunde, anlegen. Trotz dieses eindeutigen Bekenntnisses zum architektonischen Zitat, über das die Absichtserklärung der Inschrift keinen Zweifel lässt, weist der kleine Renaissancebau jedoch keinerlei äußere Ähnlichkeit mit dem Jerusalemer Vorbild auf. Dies ist um so erstaunlicher, als sich außerdem noch ein Brief des Bauherrn Giovanni Rucellai (1403–1481) an seine Mutter erhalten hat, aus dem hervorgeht, dass eigens eine Expedition von Baufachleuten mit dem Auftrag nach Jerusalem geschickt wurde, eine Bauaufnahme des Heiligen Grabes anzufertigen. Für den Nachbau stand also ein präziser Plan des Vorbildes zur Verfügung, „il giusto disegno e misura“, wie es im Wortlaut des Briefes heißt . Der Entwurf selbst wurde dem illustren Leon Battista Alberti übertragen, und in der Tat scheinen die architektonischen Einzelheiten seine Handschrift zu verraten. Alberti konnte also bei diesem Projekt auf sehr genaue – und mit großem Aufwand erstellte – Unterlagen zurückgreifen, nicht nur auf Maße und Beschreibungen des Originals, sondern, wie der Brief Rucellais ausdrücklich erwähnt, sogar auf vor Ort angefertigte Zeichnungen. Und dennoch ist das Ergebnis weit davon entfernt, ein getreues Abbild des Vorbildes zu sein. Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts besaß die Grabeskirche in Jerusalem im wesentlichen bereits jene Gestalt, die hundert Jahre später der Franziskaner Fra Bernardino Amico genauestens aufgemessen und gezeichnet hat. Danach erhob sich das Grab Christi als kleines zweigeschossiges Bauwerk frei inmitten der von den Kreuzfahrern erneuerten konstantinischen Rundkirche (Anastasis), die mit einem im Scheitel geöffneten hölzernen Kegeldach eingedeckt war. Die Grabesädikula selbst war im unteren Geschoss plastisch aus dem Fels herausgehauen und barg im Innern dieses Monolithen die eigentliche Grabkammer; sie war also ein unregelmäßiges Vieleck, außen mit Werkstein verkleidet und mit spitzbogigen Blendarkaden geschmückt. Darüber erhob sich ein filigraner sechseckiger und ebenfalls spitzbogiger Pavillon mit einer Spitzkuppel und einem breit ausladendem Hauptgesims, der das Grab wie ein Ziborium bekrönte. Dem Ganzen war ein außen schmuckloser Mauerwerkskubus vorgelagert, der die halbrunde Engelskapelle mit dem Stein enthielt. Es ist ohne weiteres klar, dass Albertis Cappella Rucellai keine Nachahmung dieser formalen oder stilistischen Einzelheiten darstellt und dass sie auch nicht auf die Kopie der architektonischen Gesamtgestalt, weder der Ädikula noch

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der Anastasis, abzielt. Und dennoch will sie, wie die Inschrift ausdrücklich bezeugt, eine SimileArchitektur „ad instar Iherosolimitani sepulchri“ sein – sie sollte aussehen „wie das Grab in Jerusalem“. Offensichtlich ist hier eine andere Ähnlichkeit angestrebt als die der formalen Entsprechungen, und die Baukommission wurde nicht mit dem Ziel nach Jerusalem geschickt, die als marginal empfundenen architektonischen Details aufzunehmen, sondern das, was man als das Wesentliche erachtete: die grundlegenden architektonischen Gedanken nämlich, die die räumliche Struktur der Gesamtanlage prägen, die die Beziehung der einzelnen Elemente untereinander bestimmen und den baulichen Charakter der Grabesädikula selbst betreffen. Und diese architektonischen Grundgedanken der Grabeskirche sind nun in der Rucellaikapelle mit den spezifischen Stilmitteln der Renaissance und unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse neu, aber im Wesen unverändert formuliert worden. Wie in Jerusalem steht die Kleinarchitektur des Heiligen Grabes in einer genau auf sie berechneten Raumhülle, dort als Vieleck im Zentrum einer überkuppelten Rotunde, hier als apsidial gerichtetes Rechteck in der Achse eines tonnengewölbten Längsraumes von gleicher Proportion in Breite, Länge und Höhe. In beiden Raumgefügen erscheint die Kleinarchitektur durch ihren dekorativen Apparat und durch die exquisite Materialwahl gegenüber der Raumhülle als veredelt, und dieser erste Eindruck wird durch die tatsächlichen miniaturhaften Abmessungen und Verkleinerungen der Bauglieder noch absichtsvoll gesteigert. Schließlich bringen beide den Grundgedanken der ineinandergestellten Körper und Volumina, die zur Mitte hin immer kostbarer und bedeutsamer werden, darin zur höchsten Vollendung, dass sie die innerste Kammer des ganzen Systems, deren letzte Schwelle und Umrahmung noch eben im Glanz der edelsten Materialien erstrahlte, in ein mystisches, undurchdringliches Dunkel tauchen. In diesem elementaren Baugedanken, nach welchem sich die einzelnen Glieder und Elemente zu einem unmittelbar begreiflichen Ganzen fügen, ist also die einzige Entsprechung von Vorbild und Nachahmung zu sehen. Die allerdings war dem Bauherrn und seinem Architekten so wichtig, dass sie eigens eine Gruppe von Zeichnern nach Jerusalem schickten. Aber die sollten dort nicht die mittelalterliche Baugestalt messen und zeichnen, nicht Pilaster, Kapitelle oder irgendwelche anderen Bauglieder, wie sie die Architekten an den antiken Ruinen Roms aufzunehmen gewohnt waren, sondern vor allem sollten sie die grundlegende Bauidee erfassen! Die Zeichnungen und Maßskizzen der architektonischen und der räumlichen Verhältnisse in Jerusalem waren also dazu bestimmt, den Architekten in die Lage zu versetzen, den gleichen Baugedanken neu zu formulieren. Ohne Frage ist dies Alberti gelungen. Die Grundstruktur, nicht die formale Ausarbeitung ist bei beiden identisch, und in Anlehnung an den Begriff, der solche Ordnungs- und Denkfiguren in der Literatur und in den erzählerischen Künsten bezeichnet, möchte man Albertis Übertragung des Jerusalemer Konzepts nach Florenz eine „topische“ Nachahmung nennen: Der architektonische Topos einer edlen Kleinarchitektur im Innern einer dienenden und verdeutlichenden Raumhülle ist hier mit neuen Stilmitteln, mit neuen Formen und Materialien, aber getreu der architektonischen Idee des Vorbildes in Szene gesetzt. Die Cappella Rucellai ist also eine topische Nachahmung der Anastasisrotunde mit der Gra-

Die Cappella Rucellai in San Pancrazio in Florenz, Grundriss (nach Seroux d’Agincourt).

Innenraum mit der Ädikula.


Die Grabeskirche in Jerusalem nach der Bauaufnahme von Frau Bernardino Amico, ca. 1590.

besädikula; hierin gleicht sie den zahlreichen Nachahmungen der Grabeskirche, die in Mittelalter und Renaissance überall in Europa gebaut wurden. All diese Jerusalemskirchen – weit über hundert an der Zahl! – sind Neugestaltungen des von Konstantin vorgegebenen architektonischen Topos einer freistehenden Kleinarchitektur inmitten einer monumentalen Raumschale. Bevor wir uns einigen der historischen Möglichkeiten zuwenden, die die Bearbeitung dieses architektonischen Topos bereithielt, müssen wir vorab zwei Fragen nachgehen: Warum wurde das Grab Christi in Mittelalter und Neuzeit immer wieder nachgebaut? Und zweitens: Wie ist die ursprüngliche Baugestalt der Jerusalemer Anlage zustande gekommen, warum hat schon Konstantin das Grab als Kleinarchitektur in einen überkuppelten Innenraum hineingestellt? Die erste Frage zielt auf die religionsgeschichtliche Bedeutung des Christusgrabes, die zweite auf die historischen Wurzeln der in der Grabeskirche assoziierten architektonischen Vorstellungswelt. Beide Fragen hängen, wie wir sehen werden, auf das engste miteinander zusammen und sollen deshalb auch in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit behandelt werden.

Die ursprüngliche Bauidee der konstantinischen Grabeskirche

Das Heilige Grab in Jerusalem nach der Bauaufnahme von Frau Bernardino Amico, ca. 1590.

Die Proklamation des Christentums zur offiziellen Religion des römischen Staates im Jahre 324 hatte Konstantin veranlasst, die originalen Schauplätze des Wirkens Christi und der Apostel in Rom und Jerusalem suchen zu lassen, um sie als materielle Zeugnisse der Heilsgeschichte architektonisch zu fassen und zu überhöhen. Im

Jahre 326 fand keine geringere als die Mutter des Kaisers, Helena, in einer ehemaligen Zisterne neben dem Golgothafelsen auf wunderbare Weise das Kreuz Christi, und damit waren aufgrund der biblischen Berichte zugleich die übrigen Stätten der Passion hinreichend genau bestimmt. Unter einem Tempel der Venus, oder wie andere wollen, der Astarte und des Adonis, fand man nebenbei das alte Christusgrab. Nach dem Bericht der Evangelisten war das Grab im Garten des Josef von Arimathäa, in welchem der Leichnam Jesu niedergelegt wurde, ein typisches jüdisches Felsengrab, das mit einem Vorraum und einem Rollstein zum Verschließen des Einganges unterirdisch aus dem Fels gehauen war. Diese Kammer ließ Konstantin allseitig frei aus dem Gestein herausmeißeln, so dass ein vollplastisches, ringsum freistehendes Monolithbauwerk entstand, das in seinem Inneren die ursprüngliche Grabkammer als Hohlraum enthielt. Vorraum und Rollstein wurden bei dieser Maßnahme entfernt, das nunmehr freistehende Grabhäuschen außen mit edlem Werkstein bekleidet und zudem mit einem zylindrischen Aufsatz bekrönt. Wahrscheinlich entstand schon damals das ab etwa 550 bezeugte Ziborium, ein zeltartiges Dach, das auf zwölf Metallsäulen ruhend und mit silbernen Ampeln und Gittern geschmückt das Steinhaus des Grabes beschirmte. Zwischen 335 und 349 wurde dann über dem Heiligen Grabe die Anastasisrotunde mit einer weitgespannten Holzkuppel errichtet und daneben erbaute man die fünfschiffige Basilika. Durch die Kreuzfahrer dürfte die Ädikula zwischen 1099 und 1149 ihre endgültige Gestalt erhalten haben, in der sie Fra Bernardino Amico um 1595 gezeichnet und 1619 veröffentlicht hat: Die von Konstantin beseitigte Vorkammer, die

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sogenannte Engelskapelle, ist dem Grab wieder angefügt, dagegen ist das alte Ziborium mit seinen Metallsäulen und den Ampeln, Schranken und Gittern nun endgültig verschwunden.

Die orientalischen Gräber der „sterbenden und wiederaufstehenden Götter“ Der Bautyp der Memoria am Heiligen Grab stammt sowohl hinsichtlich der Idee einer monumentalen Fassung des Grabes als auch hinsichtlich der spezifischen Baugestalt des Ehrentempels rings um ein sakrosanktes Objekt aus dem vorderen Orient, allerdings ergänzt um einige wohl ursprünglich römische Baugedanken. Die Tatsache, dass in Jerusalem ein Grab, noch dazu ein leeres Grab, architektonisch zu überhöhen war, legte den Rückgriff auf eine gedankliche und bautypologische Tradition nahe, die vor allem im phönizisch-kanaanäischen Raum zuhause war. Der Bericht der Bibel, vor allem Markus 15,46 „Und er legte ihn in ein Grab, das war in einen Fels gehauen und wälzte einen Stein vor des Grabes Tür“ erledigt jeden Zweifel darüber, dass das Grab Christi ursprünglich nur ein einfaches jüdisches Bank- oder Troggrab gewesen sein kann, eine unterirdische Monolitharchitektur also, die äußerlich nur mit der in den Fels gemeißelten Türöffnung des Grabes in Erscheinung trat. Dieses Grab, oder ein anderes, ähnliches, das man für das Grab der Auferstehung hielt, ließ Konstantin allseitig plastisch herausmeißeln, um es dann monumental zu umbauen und den kultischen Übungen der Pilger aus allen Winkeln des Abendlandes zugänglich zu machen. Für diesen Kult des leeren Grabes, für seine freie Aufstellung und für die besondere Gestalt, die man dem kleinen Monolithbauwerk gab – quadratischer Sockel, säulengeschmückt und mit einem stumpfkegeligen Aufsatz – gab es einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt: den Kult der „sterbenden und auferstehenden Götter“, der im gesamten vorderorientalischen Raum allgemein verbreitet war. In den östlichen Grenzprovinzen des römischen Reiches blühte dieser Kult der sterbenden und wiederaufstehenden Götter vor allem in der Verehrung der westsemitischen Gottheiten Astarte und Adonis. Die bedeutendste Stätte ihrer Verehrung war Byblos an der syrischen Küste, aber ihr Kult war über ganz Palästina verbreitet und darüber hinaus von den Phöniziern an alle Küsten des östlichen Mittelmeeres getragen worden. An all diesen Stätten gab es ähnlich monumentalisierte leere Gräber, die der zweigeschossigen Ädikula glichen, die Konstantin in Jerusalem über dem Grab Christi ausmeißeln ließ. Die Adonismythe und der daran anknüpfende Kult ist von mehreren antiken Autoren überliefert, auch von frühchristlichen Schriftstellern wie Origines oder Hieronymus, die einerseits wegen der unübersehbaren Parallelen zur christlichen Ostergeschichte näher darauf eingehen, andererseits aber wegen der notorischen Ausschweifungen der Adonisfeste warnend den Finger erheben. Adonis war einer jener schönen und jugendlichen Götter der antiken Sagenwelt, dem die Göttin der Liebe – mit westsemitischem Namen Astarte – ihre besondere Gunst zugewandt hatte. Damit zog er den Hass ihrer früheren Liebhaber auf sich, die auf eine Möglichkeit sannen, ihn zu vernichten. Auf der Jagd geriet er schließlich an einen gewaltigen Eber, der kein anderer war als sein Nebenbuhler Ares, der ihn niederrannte und tötete. So musste Adonis in die

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Unterwelt hinabsteigen, aber selbst sein Schatten war noch von so vollkommener Schönheit, dass nun Persephone ihm bedingungslos verfiel. Als Astarte (Aphrodite) herabstieg, um ihren Geliebten aus dem Reich der Schatten zu befreien, wollte ihn die Herrin der Unterwelt zunächst nicht gehen lassen, bis die beiden Göttinnen endlich darin übereinkamen, dass Adonis bei jeder einen Teil des Jahres verbringen durfte. Seither also steigt Adonis mit dem Wechsel der Jahreszeiten ins Totenreich hinab, um alljährlich mit der wiederaufblühenden Natur zu den Lebenden zurückzukehren. Der Tod des Adonis und seine anschließende Auferstehung war eines der großen Ereignisse des kanaanäischen Festkalenders. Über seinen Kult berichtet ausführlich Lukian in seiner Schrift „de Syria dea“ (2. Jahrhundert n. Chr.), er sagt: „Es wird einmal in jedem Jahr eine große Landestrauer angelegt, und sie begehen die Orgien unter Wehklagen und indem sie sich an die Brust schlagen. Haben sie beides zur Genüge getan, so bringen sie zunächst dem Adonis als Leiche Totenopfer dar. Darauf tragen sie am anderen Tage die Sage vor, dass er lebe, und geleiten ihn an die Luft und scheren sich den Kopf, wie die Ägypter bei dem Tode des Apis. Den Frauen, welche ihr Haar nicht abschneiden wollen, wird folgende Strafe auferlegt. Einen Tag müssen sie ausstehen, um ihre Schönheit feilzubieten; doch ist der Markt Fremden allein geöffnet, und der Erlös wird zu einem Opfer für Aphrodite verwendet.“ In diesen kultischen Zusammenhang gehören die Totenhäuser, die Adonisgräber, in welchen man für einen Tag den toten Gott niederlegte, um ihn tags darauf als Wiederauferstandenen „an die Luft zu geleiten.“

Jüdisches Felsengrab.

Die christliche Wendung des orientalischen Auferstehungsglaubens So wie die Baugedanken der Konstantinischen Bauten am Heiligen Grab und selbst wichtige architektonische Details dieser ersten architektonischen Reliquie des Christentums offensichtlich ein paganes Erbe darstellen, so scheint auch das christliche Glaubenssystem an dieser zentralen Stelle von der heidnischen Vorstellung sterbender und wiederaufstehender Götter abhängig. Dennoch muss man sagen, dass der gesamte Komplex der „sterbenden und auferstehenden Götter“ im Christentum eine ganz neue Wendung nimmt. Zum einen begreift das christliche Denken die Auferstehung als Verheißung eines sich endzeitlich erneuernden und immerwährenden Lebens. Der Gott steht nicht länger um seiner selbst willen auf, sondern die Auferstehung wird zu einer auf das menschliche Schicksal abzielenden Erlösungstat. War die Auferstehungsidee in ihrem altorientalischen Ursprung eine rein „innerolympische“ Angelegenheit, so macht die christliche Lehre daraus eine allgemein menschliche Hoffnungsperspektive; eine bis dahin einer bestimmten Klasse von Göttern vorbehaltene lebenserneuernde Kraft wird potentiell allen Menschen guten Willens zugestanden und als Möglichkeit ans Ende aller irdischen Mühen gestellt. Das leere Grab, in welchem der tote Christus gelegen hat und aus dem er von den Toten wiederauferstanden ist, soll die Wahrhaftigkeit dieser Verheißung demonstrieren, es avanciert zum historischen Beweisstück der gesamten Lehre und wird gewissermaßen zum materiellen Zeugnis für die Bonität der christlichen Botschaft.

Die Entwicklung der Grabeskirche (nach Conant).

Die Grabeskirche Konstantins (nach Corbo).


So erklärt sich die außerordentliche Bedeutung, die Konstantin und mit ihm die spätantike Kirche dem Grab Christi beimaßen, dass sie es aufsuchen, finden und in einzigartiger Weise architektonisch überhöhen ließen. Und so erklärt sich die geradezu magische Anziehungskraft, die das Heilige Grab auf Christen aus allen Teilen Europas ausübte: Sie ist an seine stoffliche, materielle Existenz, an seine eigentlich megalithische Qualität gebunden. Die aus dem Fels geschlagene Grabkammer ist von ihrem Ursprung her ein monolithisches Monument, eine Steinsetzung, die unter sich den Leichnam für immer bedecken soll, die ihn in sich einschließt und in ewige Finsternis hüllt. Mit dem Paradoxon des leeren Grabes wird diese Unentrinnbarkeit in ihr Gegenteil verkehrt, der gesprengte Monolith wird zum Zeichen für den Sieg über den Tod, er ist das Symbol der wirkungslos gewordenen Fessel des neuen, eigenen und ewigen Lebens. Dieser stoffliche, megalithische Charakter der Grabesädikula erklärt die durchaus fetischhaften Züge, die das Heilige Grab im Glauben der Pilger gewinnen musste, und die Direktheit und Intensität, die seine Verehrung von allen anderen Formen der Wallfahrt und des Reliquienkultes unterscheidet: In diesem Grab schien der Geist des Lebendigen seine Wohnung genommen zu haben, und dass es vor aller Augen leer war und offen stand, eben dies demonstrierte seine Gegenwart.

Die nachmittelalterliche Ädikula in der Rotunde (nach Le Bruyn 1680).

Eine weitere Wendung, die das Christentum dem altorientalischen Auferstehungsgedanken gab, in dem sie ihn den Göttern nahm und allen Sterblichen als Verheißung antrug, ist die Idee eines personalen, leib-seelischen Fortlebens. Wie es den sterbenden Göttern vergönnt war, als verklärte Individuen wieder aus dem Grabe emporzusteigen, so sollten am Ende aller Tage die Geretteten mit Leib und Seele ins Himmelreich eingehen. Diese Konstruktion steht als allgemeines Jenseitsmodell in scharfem Kontrast zu allen Formen des antiken Totenglaubens. Nur wenigen Lieblingen der Götter war es erlaubt, über den Tod hinaus sich des Körpers und des Geistes gleichermaßen weiter zu erfreuen. Der gewöhnliche Sterbliche wurde im Augenblick des Todes von seiner Seele verlassen. Diese war göttlichen Ursprungs und kehrte dahin zurück, woher sie gekommen war. Sie ging ohne Namen in der Fülle des Göttlichen auf. Der Leib dagegen war an das Grab gebunden und der Verwesung anheimgegeben. Statt seiner existierte ein Schatten in der Unterwelt fort, in allem der leiblichen Gestalt des Toten ähnlich, aber entstofflicht und ohne Lebenskraft, Liebe, Lebensfreude und all die positiven menschlichen Eigenschaften, die die Alten als Wirkungsmacht des Genius verstanden. Kehrte der Schatten in die Welt der Lebenden zurück, was er wohl vermochte, wenn man sein Haus – das Grab – nicht so bestellte, wie es der Totenkult verlangte, so muss man sich vor ihm hüten, denn er war neidisch auf das Lebensglück der Menschen, gierig nach ihrer Lebenskraft und, wo er nur konnte, versuchte er ihrer habhaft zu werden.

Die kultischen Grundlagen der mittelalterlichen Heiliggrabkopien

Ein „Adonisgrab“ in Maschnaka (nach Heisenberg).

Das sogenannte „Absolomsgrab“ bei Jerusalem, eine allseitig aus dem Fels gemeißelte Ädikula mit einer inneren Grabkammer.

Mit dieser Jenseitsvorstellung, die in den Grundzügen allen Religionen des Altertums gemein war, hatte das Christentum zwar gründlich aufgeräumt, aber es war nie gelungen, den Totenund Geisterglauben dieser Prägung gänzlich auszurotten. Er lebte als Unterströmung durch die

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Jahrhunderte der christlichen Kulturgeschichte hin fort, meistens im Aberglauben des Volkes, wo ihn die Kirche tolerierte oder zumindest ignorierte. Aber gelegentlich kam die Toten- und Manenfurcht mit Macht an die Oberfläche, und dann galt es für die Hüter des Glaubens, mit pastoralen Bemühungen der unchristlichen Geisterfurcht entgegenzuwirken. Einzelne Epochen werden geradezu von solchen Maßnahmen beherrscht. Als im Hochmittelalter die häretischen Sekten gnostischer und manichäischer Prägung einen ständig anschwellenden Strom von heilsuchenden und an der Amtskirche verzweifelnden Proselyten zu verzeichnen hatten, gewann damit auch der antike Totenglaube neue Nahrung. Denn mit den Häresien kam auch die antike Vorstellung wieder in Umlauf, dass der Mensch nicht eigentlich ein leib-seelisches, ganzheitliches Wesen sei, sondern dass die Seele, göttlichen Ursprungs, immerzu bestrebt sein müsse, dorthin zurückzukehren, um den teuflischen Kerker des Leibes nach dem Tode als umherirrenden Dämon zurückzulassen. Dieser Auffassung sollte vor allem die im 12. und 13. Jahrhundert systematisch vorgenommene Ausweitung der Osterliturgie entgegenwirken. Als anschaulicher Gegenpol zur drastischen Vorstellungswelt der Häresien verfolgte sie den Zweck, dem Volk die Eigentümlichkeit der christlichen Auferstehungshoffnung im Osterspiel plastisch werden zu lassen. In diesen Kontext gehören auch die Heiliggrabimitationen, die zur gleichen Zeit vielerorts errichtet wurden, oft als Requisit für die theaterhaft ausgebreitete Osterliturgie, immer als ein anschauliches Lehrprojekt im Kampf der Kirche gegen die Häresien, die gerade ihre Osterbotschaft der leib-seelischen, personalen Auferstehung an entscheidender Stelle in Frage stellten. Damit ist ein erster Bogen gespannt, der von den ursprünglichen Absichten der konstantinischen Überhöhung des Christusgrabes bis zu den pastoralen Motiven hinter den zahlreichen Nachbauten und Neuschöpfungen der mittelalterlichen Jerusalemskirchen reicht. Daneben gab es weitere, ebenfalls pastorale Motive, die hier kurz erwähnt werden sollten. Gerade vom 11. bis 15. Jahrhundert, als die interessantesten Heiliggrabimitationen in Europa errichtet wurden, lag die christliche Welt in einem äußerst heftigen Kampf mit dem Islam. Dies betrifft nicht nur die kriegerische Auseinandersetzung während der sieben oder acht Kreuzzüge, sondern auch den geistigen und theologischen Disput. Neben einer auf hohem intellektuellen Niveau geführten Kritik des Islam existierte gleichzeitig eine einfachere, volkstümliche und anschauliche Auseinandersetzung mit der Lehre Mohammeds. In dieses Spektrum der volkstümlichen Bemühungen zur Veranschaulichung der Wesensunterschiede der beiden miteinander streitenden Religionssysteme gehören auch die Heiliggrabimitationen: Als architektonische Bilder des Ortes, wo das geschah, was Christ und Moslem zutiefst unterscheidet, und was die konträren Vorstellungen beider Religionen von Gott, Mensch und Jenseits begründet, dienen sie dazu, die dogmatischen Unterschiede im Bewusstsein wachzuhalten und gleichzeitig propagandistisch für die christliche Kontrolle dieser allerheiligsten Stätten zu werben. Damit haben wir die wichtigsten Bauanlässe und Darstellungsabsichten für die Nachbauten des Heiligen Grabes zusammengefasst: Sie können pastorale Lehrbauwerke sein gegen den manichäisch geprägten Totenglauben der mittelalterlichen Häresien, sie können aus der theolo-

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gischen Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam hervorgegangen sein, sie können als reliquienhafte Stellvertreterbauten des unzugänglichen, unter die Heiden gefallenen Christusgrabes konzipiert sein, die eine Verehrung in effigie ermöglichen und gleichzeitig den Kreuzzugseifer wach halten sollen, oder sie bewahren die persönlichen Erinnerungen einer Palästinafahrt. In diesem seltenerem Fall gewinnen die Jerusalemskirchen einen ausgesprochen individuellen Zug. In der Regel jedoch spricht der kollektive Zeitgeist aus den Einzelheiten ihrer Gestaltung, und nach Bauanlass und Darstellungsabsicht sind gerade die Jerusalemskirchen ein charakteristischer Ausdruck ihrer Zeit, ein hervorragendes Zeugnis der unaufhörlich fortschreitenden Veränderung der Auffassungen von den letzten Dingen, vom unterschiedlichen Wert der religiösen Übungen, und von der Einschätzung fremder Religionen.

Die Jeruzalemkerk in Brügge: Eine Zitatarchitektur der persönlichen Erinnerung In der Betrachtung der architektonischen Gestalt der Jerusalemskirchen verblüfft zunächst die außerordentliche Verschiedenartigkeit der baulichen Einzelheiten. Dieses erstaunliche Phänomen einer Architektur, die Zitat sein will und die dennoch zu grundverschiedenen Lösungen kommt, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die heimkehrenden Palästinafahrer, die Mittel und Vermögen besaßen, an den Bau einer Jerusalemskirche zu denken, persönliche Erinnerungen und Eindrücke mit in das Bauprogramm hineinlegten. Eine solche persönliche Ausdeutung der Zitatarchitektur nach dem Vorbild des Heiligen Grabes entstand zwischen 1471 und 1485 in Brügge. Zwei Kaufleute aus dem Hause Adornes, einer italienischen Familie, die ursprünglich aus Genua stammte, aber bereits seit dem 14. Jahrhundert in Brügge ansässig war, unternahmen 1470 eine Pilgerreise nach Jerusalem und nach ihrer Rückkehr stifteten sie die Jeruzalemkerk, die ganz aus dem Augenblick der Wallfahrt und den damit verbundenen spirituellen Erlebnissen geprägt ist. Die Jeruzalemkerk besitzt eine ganz und gar ungewöhnliche Baugestalt. Der Kernbau ist eigentlich ein vieleckiger Turm von geringer Tiefe, aber erstaunlicher Höhe, dem die übrigen Elemente, der rechteckige Kirchenraum, eine flach gewölbte Krypta und eine winzige Heiliggrabkapelle, zugeordnet sind. Der Turm ist in der unteren Hälfte rechteckig, wird dann über Trompen zum Achteck überführt, zugleich auch allseitig in großen spitzbogigen Fenstern geöffnet, ganz oben löst er sich in einer feingliedrigen Galerie aus steinernen Säulen und Pfeilern auf. Anstelle eines Daches folgt darauf eine bizarre, ebenfalls achteckige Stufenpyramide aus Holz, die auf ihrer Spitze eine Metallkugel trägt, geschmückt mit dem Jerusalemskreuz und dem halben Rad der Heiligen Katharina. Den Hauptturm flankieren zwei schlanke Treppentürmchen mit welschen Hauben, die in zwei kleinen Wetterfahnen mit goldenen Scheiben von Sonne und Mond enden. Dieser exotischen Dominante des achteckigen, oben zur Laterne geöffneten Turmes ist als Versammlungsraum der Gemeinde ein schlichter, viereckiger Baukörper vorgelagert, der mit einem steilen Satteldach gedeckt ist. Diesen eigentlichen Kirchenraum betritt man durch das nach Süden gerichtete Portal und hat ein einfaches, holzgewölbtes Schiff vor sich, in welchem

Skizzierte Isometrie der Jeruzalemkerk.

Die Nachbildung des Golgathafelsens vor der Lichtöffnung.

Die heute noch vorhandene Heiliggrabkopie.


sich in der Mitte das Stiftergrab befindet. An der gegenüberliegenden Wand erhebt sich ein stilisierter, künstlicher Felsen, überragt von drei Kreuzen und geschmückt mit den Werkzeugen der Passion. Das Ganze stellt also eine freie Nachbildung des Felsens von Golgotha vor. Die Wand, die Kirchenschiff und Turm scheidet, ist triumphtorartig über die ganze Höhe des Raumes geöffnet; dahinter – schon im Turmbau – liegt der Chor, der um ein ganzes Geschoss gegenüber dem Fußboden angehoben ist. Zwei geradläufige Treppen führen rechts und links neben der großen Triumphbogenöffnung in den Chorbereich hinauf. Unter den Chortreppen liegen die schlupflochartigen Zugänge zu dem flachen Kryptengewölbe, das also auf der Ebene des Kirchenraumes liegt, und daran schließt sich die winzige Heiliggrabnachahmung an, von der noch zu reden sein wird. Ungewöhnlich ist an dieser Baugestalt nicht nur das bizarre Äußere des Turmes und die innere Abfolge der Räume, die die gewohnte Verteilung der Volumina und die üblichen Verhältnisse von Vertikalen und Horizontalen verkehrt, sondern ungewöhnlich ist vor allem die Lichtführung. Der Kirchenraum ist eher schwach beleuchtet, während von ganz oben aus der Höhe des Turmes das Licht mit aller Macht in den Chorbereich einfällt, den Triumphbogen mit dem Kalvarienberg hinterwärts völlig überstrahlt, um sich von dort sichtbar im Kirchenraum auszubreiten und allmählich zu verlieren. Die Lichtquelle liegt so hoch, dass sie den Blicken des Eintretenden gänzlich entzogen ist und umso magischer ist die Wirkung der drei dunklen Kreuze vor der Fülle des einströmenden Lichtes. Ohne Frage war die Lichtführung der erste leitende Gedanke des Entwurfes, und wenn wir jetzt das Palästinaitinerar von Anselm und Jan Adornes zu Rate ziehen, ist augenblicklich klar, welches persönliche Erlebnis mit dieser architektonischen Inszenierung in Erinnerung gerufen werden sollte. Die Adornes reisten am 19.2.1470 von Brügge ab. Über Rom, Genua, Sardinien, Korsika, Tunis und Kreta gelangten sie nach Kairo. Von dort ging es weiter zum Kloster der Heiligen Katharina am Berge Sinai, und nach einer Pilgerfahrt von über dreißig Wochen zogen sie endlich am 14.9.1470 in der Kirche des Heiligen Grabes in Jerusalem ein. An diesem Tag des Jahres 326 hatte Helena der Legende nach das Kreuz Christi aufgefunden; zugleich wurde dieser Tag, der 14. September, als Weihetag der Kirche durch Konstantin gefeiert. Er war nächst dem Osterfestkreis das höchste liturgische Ereignis der Grabeskirche, und wie in der Karwoche zeigte man dem Volke an diesem Tag in feierlicher Präsentation die Kreuzesreliquie. Die Konfrontation mit dieser allerheiligsten Reliquie der Christenheit am Tage ihrer Ankunft am heiligen Grabe war für die Adornes ein bewegendes spirituelles Erlebnis. Während die mit Silber beschlagene Truhe, in welcher man das Kreuz verwahrte, geöffnet wurde, und während der Zeigung der übrigen Kreuzigungsreliquien, der Tafel mit der Aufschrift des Pilatus und der Nägel, hörten sie nach dem lateinischen Ritus die Lesung aus dem Johannesevangelium (12,32–36), worin es unter Anspielung auf die Kreuzigung heißt: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie Alle zu mir ziehen.“ Darauf folgt eine mystische Sequenz, die den Gekreuzigten als „das Licht“ bezeichnet, die Pilger als „die da wandeln im Lichte“, und schließlich mit der Aufforderung endet: „Glaubet an das Licht, solange ihr das Licht habet, damit ihr Kinder des Lichtes seid.“ – „Dum lucem habetis, credite in lucem, ut filii lucis sitis.“ Diese dreifa-

che Wiederholung des Wortes „Licht“, diese Beschwörungsformel der Liturgie angesichts des erhobenen Kreuzes fasste für den Pilger auf suggestive Weise Sinn und Ziel seiner Mühen zusammen. Auch für die Adornes war dies der dramatische Höhepunkt ihrer Reise, und sie blieben so nachhaltig im Banne dieses Erlebnisses gefesselt, dass sie den magischen Augenblick in ihrer heimatlichen Jerusalemskirche mit dem Bild der drei lichtüberstrahlten Kreuze noch einmal dauerhaft Gestalt werden ließen. Noch heute leuchtet für den Eintretenden dieses spirituelle Erlebnis sofort und deutlich fassbar auf, wenn er sich plötzlich der weitgeöffneten lichterfüllten Bogenöffnung gegenübersieht, vor deren überströmender Helligkeit die dunklen Konturen der drei Kreuze alle Schärfe verlieren. So wird also der Besucher der Jeruzalemkerk in Brügge zunächst mit einer architektonischen „Nachahmung“ des persönlichen Wallfahrtshöhepunktes der beiden Stifter am 14. September 1470 empfangen, mit einer Momentaufnahme aus dem liturgischen Geschehen des Festes der Kreuzeserhöhung am Originalschauplatz der Kreuzigung Christi, bevor er an die eigentliche Nachahmung des Heiligen Grabes und der Anastasis herangeführt wird. Abgesehen von diesen Zeugnissen des persönlichen Erlebens ist die Gesamtanlage jedoch ohne Frage ein Zitat der Jerusalemer Grabeskirche, deren Reiz nicht zuletzt in eben diesen individuellen Verfremdungen und erinnerungsbedingten Umformungen liegt. Allerdings ist der heutige Eindruck der Brügger Jerusalemskirche teilweise irreführend. Zwar bedeutet der polygonale turmartige Zentralbau mit der vorgelagerten Rechteckkirche eine freie Nachahmung des Nebeneinanders von Anastasis und Basilika, aber die Rekonstruktion der Grabesädikula selbst ist heute nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar. Denn die heute vorhandene Heiliggrabkopie, die sich nördlich an die niedrige Krypta unter dem Achteckturm anschließt, entstand erst 1523. Damals erhielt eine Jerusalemsbruderschaft das Begräbnisrecht in der Krypta, und um Platz für ihre Gruft zu schaffen, wurde die dort befindliche Kleinarchitektur des Heiligen Grabes abgebrochen. Stattdessen errichtete man einen winzigen überwölbten Anbau mit einem Bankgrab, einer quadratischen Laterne und einem im Boden vor der Schlupftür eingelassenen „Engelstein“. Im Innern ähnelt die Grabkammer zwar durchaus den üblichen Heiliggrabimitationen, aber äußerlich tritt sie nicht mehr in Erscheinung. Der Anbau verschwindet völlig unter dem Pultdach eines Ziegelgehäuses, das sich kaum von den übrigen Nebenbauten der Jeruzalemkerk unterscheidet. Das ursprüngliche, noch von den Stiftern errichtete Heilige Grab dagegen war eine wohl zwölfeckige, frei im Raum stehende Kleinarchitektur. Über seine genaue Gestalt ist nichts bekannt, aber angesichts der geringen Dimensionen der Krypta und ihrer niedrig ansetzenden Wölbung kann es sich nur um eine modellhaft wirkende Verkleinerung der Ädikula gehandelt haben. Es ist denkbar, dass der Heiliggrabanbau von 1523 mit seinen geringen Abmessungen von nur etwa zwei Metern in Breite, Tiefe und Höhe den ursprünglichen Innenraum reproduziert und dass darin Fragmente des ersten Grabes, der Engelstein etwa, oder das Bankgrab wiederverwendet wurden. Der ursprüngliche Baugedanke jedoch tritt auch ungeachtet genauerer Kenntnisse von solchen Einzelheiten klar hervor: Turmbau und Vorkirche sind ein freies, verfremdetes Zitat, eine topische Nachahmung der Mantelarchitektur von Anastasis und Basilika, die im innersten Kern

die Ädikula des Heiligen Grabes beherbergten. In Brügge war dieser eigentliche Sinn und Zweck des Ganzen ursprünglich im Dunkel der Krypta verborgen, als materielles, steinernes Gegenüber zum lichtdurchfluteten Hohlraum des hochaufstrebenden Turmes. Das Grab war somit als dichte Steinkammer tief im Sockel eines turmartigen Zentralraumes hingeduckt, dessen obere Geschosse nichts anderes mehr umschlossen als den Strom des Lichtes. So brachte das dunkle Grab in der Krypta das ganze Konzept zum Sprechen, sicherlich pointierter, als es heute noch dessen lichte Hälfte vermag: Das hohe Oktogon, das die Bewegung des Lichtes sichtbar macht und so führt, dass mit der von oben einfallenden Helligkeit ein immaterieller Ausdruck des Lebens über den Zeugnissen des Leidens und des Todes aufzuleuchten scheint. In diesem pointierten Gegenüber der modellhaft verkleinerten Ädikula im Sockel des lichtdurchfluteten Turmes wird ein Wesensmerkmal aller Jerusalemskirchen sichtbar, das mit der thematischen Beziehung der Zitatarchitekturen zur christlichen Auferstehungslehre zusammenhängt. Die christliche Auferstehungslehre erhebt nicht den Anspruch, rational nachvollziehbar zu sein. Im Gegenteil: Sie enthält ein Moment des Utopischen, das in der wirklichen, materiellen Welt eben keinen Ort hat. Die Jerusalemskirchen sind deshalb die architektonische Inszenierung einer Vision des ganz Anderen, die zugleich als ein gebautes Bild dafür verstanden wird, dass jenseits des Alltäglichen und Gewöhnlichen eine ganze Welt beginnt, deren Existenz gewiss ist, aber über deren Topographie, Flora und Fauna noch keine genauen Karten existieren.

Das Heilige Grab in Görlitz: Kreuzwegstation im Heiligen Garten Eine weitere Memorialanlage verdankt sich der Pilgerreise des Görlitzer Bürgers und späteren Bürgermeisters Georg Emmerich im Jahre 1465 in das Heilige Land. Nach seiner Rückkehr wurde 1473 westlich der Stadt auf einer Anhöhe ein Garten zum Bau einer Kapelle des Heiligen Kreuzes gestiftet und damit der Anfang zur Errichtung einer Memorialanlage gemacht, die die wichtigsten Stätten Jerusalems als Kopie enthalten sollte. In den folgenden drei Jahrzehnten entstand eine Nachahmung des Heiligen Grabes, eine Kreuz- und Adamskapelle, ein Salbstein und eine Kreuzigungsgruppe, die durch eine Lindenpflanzung angedeutet wurde. Georg Emmerich, der während der Bauzeit fünfmal zum Bürgermeister gewählt wurde, dürfte wesentlichen Anteil an der Gestaltung der Anlage gehabt haben, um so mehr, als es in den Quellen heißt, dass er seine Pilgerfahrt in Begleitung eines Werkmeisters unternommen habe, der vor Ort die Einzelheiten des Heiligen Grabes aufnehmen sollte. Mag auch die Trägerschaft des Unternehmens von Anfang an beim Rat der Stadt Görlitz gelegen haben, so müssen doch die Grundzüge des Entwurfes, die Konzeption des Gartens und die Disposition der Kleinarchitekturen als sein Werk angesehen werden, mit dem er seiner Reise nach Jerusalem ein immerwährendes Gedächtnis schuf. Die Bauten des Heiligen Grabes in Görlitz sind also zunächst eine ganz persönliche Erinnerungsarchitektur, wie sie von weitgereisten und kultivierten Bauherrn zu allen Zeiten errichtet worden ist. Damit stehen sie in der Traditionslinie der sprichwörtlichen Erinnerungsarchitektur der Antike, der Villa Hadriana in Tivoli, in welcher der kunstsinnige Kaiser Hadrian viele der Stätten

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um sich versammelte, die er auf seinen weiten Reisen in Ägypten und Griechenland gesehen hatte. Dieser antike Prototyp entfaltete vor allem in der Renaissance eine lebhafte Wirkungsgeschichte, als zahlreiche Gartenanlagen, Villen und Sommerresidenzen mit Erinnerungsbauten an die tatsächliche und legendäre Topographie des antiken Rom oder an die mystische Geographie Latiums ausstaffiert wurden. Baugeschichtlich weitaus bedeutsamer jedoch als das antike Grundmuster ist die mittelalterliche Erinnerungsarchitektur zur Evokation der Ursprungsstätten der Christenheit, die das Zeitalter der Kreuzzüge hervorgebracht hat. Auch hier steht zunächst die persönliche Erinnerung an die Palästinafahrt im Vordergrund, denn die meisten Zitatarchitekturen der Heiligen Stätten Jerusalems wurden von heimkehrenden Kreuzfahrern errichtet. Die Erinnerung bot zugleich die Gelegenheit, den eigenen Stammsitz ideologisch aufzurüsten oder aber mit dem Zauber des Fremden zu umgeben. Viele der Jerusalemsbauten lassen sehr wohl die Faszination erkennen, die die Begegnung mit dem Orient für manchen wackeren Ritter unerwartet mit sich gebracht hat. Nach dem Zusammenbruch der lateinischen Königreiche im Heiligen Land und dem damit verbundenen Verlust des Heiligen Grabes wurden diese Nachbauten häufig Ziel von Ersatzwallfahrten. Viele Heiliggrabkopien sind überhaupt nur aus der pastoralen Absicht entstanden, Ersatz für die unmöglich gewordene Palästinawallfahrt zu schaffen. So ist vor allem

die sehr große Zahl der mittelalterlichen Heiliggrabkopien zu erklären. Ein weiteres Motiv ihrer Errichtung ist ihre Eignung als Lehrarchitektur. Zentrale Glaubenssätze des Christentums, etwa die Auferstehung von den Toten und das personale Weiterleben der Gerechten in ewiger Anschauung Gottes, waren anhand dieser modellhaften Nachbildungen der leeren Grabkammer Christi einer in Bildern denkenden Zeit besser zu veranschaulichen, als durch das Predigerwort allein. So gehören die Heiliggrabkopien des Mittelalters auch zu der pastoralen Kunst der Biblia Pauperum, deren Aussagen in der Vorbereitung der Osterfestkreises durch Passions- und Mysterienspiel ergänzt und präzisiert wurden. Die Heiliggrabbauten in Görlitz sind hervorragende Exempel dieser Kunst. Sie versinnbildlichen nicht nur Leiden und Auferstehung Jesu Christi in der Nachahmung der Originalschauplätze der Passion, sondern sie sind zudem absichtlich unvollkommen und unvollendet belassen und veranschaulichen damit die Erlösungsbedürftigkeit der Welt. Die Bildhaftigkeit dieser Bauten zur Vermittlung christlicher Grundanschauungen, zur Verdeutlichung und Unterstützung der Lehre steht damit so offensichtlich im Vordergrund, dass man diese Gattung eine „predigende Architektur“ nennen könnte. Heiliggrabkopien sind darüber hinaus „metrische Reliquien“. Ihre Maße entsprechen numerisch, nicht aber in der Maßeinheit den Abmessungen des Jerusalemer Grabes, und größte

Das Heilige Grab in Görlitz. Die Grabesädikula (um 1500) steht, anders als in Jerusalem, als Solitär unter freiem Himmel.

Das Heilige Grab, Grundriss und Ansicht.

Lageplan der Stadt Görlitz mit dem Heiliggrabgarten auf den Hügeln im Nordwesten, der in ein Landschaftszitat der Jerusalemer Topographie eingebettet ist.

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Der sechseckige Pavillon, der die Grabesädikula bekrönt und sorgfältig in den orientalisierenden Formen des Jerusalemer Originals gearbeitet ist.


Die Kreuzkapelle ist eine ausgesprochene Lehrarchitektur, die in pastoraler Absicht zentrale Glaubensinhalte des Christentums veranschaulichen soll. Die zweigeschossige Kreuzkapelle (nach 1473), die im Erdgeschoss eine freie Nachbildung des Adamsgrabes und im Obergeschoss topische Zitate der Kreuzigungsgruppe enthält. Die Passionslandschaft in Görlitz in einem Stich von 1719. Von rechts sieht man die städtische Petrikirche, deren Portal als „Haus des Pilatus“ gilt. Von dort führt die Via Dolorosa aus der Stadt hinaus in die offene Landschaft, aus der – links oben – ein mauerumschlossener Garten ausgegrenzt ist. Darin liegen die heiligen Stätten in gleicher Anordnung und Entfernung wie im Innenraum der Grabeskirche zu Jerusalem: Die Kreuzkapelle des Golgothafelsens über dem Adonisgrab, der Salbungsstein und die Grabesädikula. Rechts neben dem Garten windet sich der zum Kidron erklärte Lunitzbach durch das Tal. Der Hügel im Hintergrund rechts vertritt den Ölberg und die Wiese, auf der die Jünger schliefen, während Jesus Blut und Wasser schwitzte.

Sorgfalt wurde darauf verwandt, die vor Ort ermittelten Einheiten im Nachbau einzuhalten. Als die Maßzahlen der Grabkammer, aus der Christus auferstanden war, galten sie als nicht weniger segensspendend als die stofflichen Partikel der Reliquien, die, mit dem Heiligen materiell in Berührung gekommen, numinose Wirkung zu entfalten vermochten. In der Auffassung der Zeit sind diese Maßentsprechungen deshalb nicht allein ein bloßes Erinnern der heiligen Stätte, sondern sie transportieren auch deren Aura in andere Räume und Zeiten. Dies alles gilt für das Görlitzer Grab ebenso wie für die zahlreichen Vergleichsbauten in allen Teilen Europas. In einem allerdigs steht diese Anlage einzig da: Die Kopien des Heiligen Grabes sind in aller Regel architektonische Ausstattungsstücke im Innenraum großer Kirchen. Als topische oder wortwörtliche Nachahmungen der

Jerusalemer Gegebenheiten stellen sie eine Kleinarchitektur im geschlossenen Raumgehäuse vor, denn in Jerusalem steht die Ädikula des Grabes Christi ja ebenfalls seit Jahrhunderten frei inmitten des großen Zentralraumes der Anastasisrotunde. In Görlitz dagegen befinden sich die Heiliggrabkapelle und die übrigen Evokationen der heiligen Stätten unter freiem Himmel inmitten eines Gartens. Eine solche Disposition der Zitatarchitekturen, die die mittelalterlichen Pilgerziele der Grabeskirche ins Gedächtnis rufen soll, ist in der gesamten Baugeschichte des Heiliggrabtypus ohne Beispiel. Im Ergebnis ist in Görlitz nicht eine Einzelarchitektur im Innenraum mit den zitierten Bedeutungen belegt, sondern ein Garten, noch dazu ein Garten, der der umliegenden Landschaft seine Reverenz erweist und zum Träger der Erinnerung an Jerusalem und die dort beschlossenen Anfänge der christlichen Religion wird. Zu einer Zeit, die in der Gartenkunst nur den geometrisch geteilten, formalen Hortus Conclusus des abgeschirmten Paradiestyps kannte, ist hier ein Ausgreifen des Gartens in die Lanschaft beabsichtigt. Der Garten selbst ist keineswegs nach den geometrischen Regeln der Ars Topiaica angelegt, sondern die Einzelbauten scheinen frei im Gartenraum verteilt. Natürlich ist diese Disposition der Kleinarchitekturen im Garten, die man spontan „malerisch“ nennen möchte, nicht das Resultat einer protoromantischen Hinwendung zu den Gestaltungsprinzipien des Landschaftsgartens. Vielmehr folgt die Anordnung der Gebäude im Garten der Verteilung der Heiligen Stätten – Grabädikula, Salbstein, Adamskapelle – in der Grabeskirchen in Jerusalem, nahezu identisch in den Entfernungen der Stätten untereinander, aber spiegelverkehrt und in der Orientierung der Himmelsrichtungen um etwa 90° verdreht. Der Garten des Heiligen Grabes ist somit eine topische Nachahmung der Jerusalemer Grabeskir-

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Auch die perfekte Geometrie des regelmäßigen Netzgewölbes ist an einer Seite durch die bewusst verzogenen Rippen gestört.

Die Störungen fallen um so mehr ins Auge, als der Steinschnitt der Rippen absolut vollkommen ist. Links ein Gewölbeanfänger mit regelmäßig sich

durchdringenden Rippen, rechts ein kunstvoll verzogener Anfänger unter dem schief abgeschnittenen Netzgewölbe der Eingangsseite.

Jerusalem. Tatsächlich gibt es seit den Anfängen der Anlage in Görlitz eine Via Dolorosa, die vom Haus des Pilatus – gemeint ist ein so benannter Portalbau der städtischen Petrikirche – zur Schädelstätte der Kreuzkapelle und weiter zum Heiligen Grab führt. Ganz folgerichtig wurde dann der hinter dem Garten fließende Lunitzbach zum Kidronfluß, und die Anhöhe dahinter zum Ölberg der Passion. In der Niederung davor liegt die „Jüngerwiese“, auf der die Jünger friedlich schliefen, während Jesus Blut und Wasser schwitzte. Ein „Ölbaum“ – wie die übrigen Benennungen der Stadt- und Landschaftsräume durch Stiftungen urkundlich belegt – bezeichnet die Stätte des Gebetes im Garten Gethsemane. Somit erschöpft sich die Erinnerungsarchitektur des Heiliggrabgartens in Görlitz nicht allein darin, dass sie die von Georg Emmerich besuchten Heiligen Stätten in freien Kopien der Originalbauten assoziiert, sondern sie bezieht die vorhandenen topographischen Gegebenheiten und die Stadt selbst mit ein, die sie zu Stellvertretern der heiligen Landschaft um Jerusalem erklärt. Die Adamskapelle zeigt auf der Rückseite einen künstlichen Riss im steinsichtigen Mauerwerk, den man als die klaffende Fuge lesen kann, der sich nach dem Bericht der Bibel zur Todesstunde Jesu auftat, und der dort wie hier den inextricabilis error der erlösungsbedürftigen Welt bedeuten soll.

che unter freiem Himmel. Die äußere Umschließung des Gartens durch eine hohe Mauer grenzt die evozierten heiligen Stätten gegen die Umgebung ab, wie die Kirche zu Jerusalem die Vorbilder gegen die Stadt. Der Typus des mauerumschlossenen Hortus Conclusus wird hier aufgegriffen, um ein beschirmendes, bergendes, ausgrenzendes Gebäude, eben die Grabeskirche, zu bedeuten. Dies alles ist in einen weiten Stadt und Landschaftsraum gesetzt, der ebenfalls als topische Nachahmung der Terra Santa in und um Jerusalem gelten kann. Wenn der Hortus Conclusus des Heiliggrabgartens die Grabeskirche vorstellen will, dann entspricht die Stadt Görlitz der Stadt

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Saint Jean in Aubeterre: Eine architektonische Darstellung des allgemeinen Themas von Todesfurcht und Lebenshoffnung Diese Eigenart der mittelalterlichen Zitatarchitektur sei abschließend noch einmal anhand der eindrucksvollsten und zugleich rätselhaftesten aller Jerusalemskirchen erörtert, an der unterirdischen Felsenkirche St. Jean in Aubeterre (Dept. Charente). Keine schriftlichen Quellen und keine mündliche Überlieferung berichten den Bauanlass und die Zweckbestimmung der bedeutenden Anlage, aber es wird allgemein angenommen, dass die Bauzeit in das zwölfte Jahrhundert fällt. Die Kirche ist vollständig aus dem senkrecht abfallenden Kalkfelsen unmittelbar unterhalb der Burg in Aubeterre herausgemeißelt, mit welcher sie durch unterirdische Gänge und Galerien verbunden ist. Es ist bekannt, dass der Burgherr Pierre II de Castillon am zweiten Kreuzzug (1145–1149) teilgenommen hat, von welchem er Passionsreliquien mit-

Skizze der unvollendeten Pilaster, die eine der oberen Aussparungen zeigt, in der die sorgfältig geschnittenen Steine der Vorlagen Platz finden würden, die aber absichtlich mit grobem Felssteinwerk ausgemauert ist.


Saint Jean in Aubeterre. Blick auf die sechseckige Ädikula.

brachte, für deren Aufbewahrung die Kirche bestimmt gewesen sein dürfte. Die Anregung zum Bau einer monolithischen Höhlenkirche wird ihm schon angesichts der aus dem Fels geschlagenen Grabesädikula in Jerusalem gekommen sein. Ferner gab es im Sockel des Burgfelsens schon eine kleine Höhlenkirche aus dem sechsten Jahrhundert; überhaupt bot sich in diesem Land der architektonischen Souterrains – man denke etwa an das nahe St. Emilion mit seiner unterirdischen Kirche und seinen troglodytischen Behausungen – die Anlage einer Monolithkirche in direkter Nachbarschaft zur Burg ohne weiteres an. Schließlich legte auch die Zweckbestimmung der Kirche als Grablege und Standort eines Heiligen Grabes den Rückgriff auf die dunkle Architektursprache der unterweltlichen Höhlenbauten nahe. Im übrigen erklärt sich die Architektur von Aubeterre selbst in sehr eindeutigen Bildern. Die Kirche ist als kontrapunktisches Raumgefüge mit zwei einander gegenübergestellten Kulträumen im Norden und Süden angelegt. Man betritt sie von der Ostseite her durch eine tief in den Felsen geschnittene, teilweise eingestürzte Vorhalle, die heute durch eingezogene Wände und Mauerpfeiler in ihrer ursprünglichen wohl eher tunnelartigen Wirkung nicht mehr zu erleben ist. Der Kirchenraum, der sich in seiner ganzen Ausdehnung vom Eingang her überschauen lässt, besteht aus zwei ungleichen Schiffen von insgesamt 17x11 m und etwa 19 m Höhe. Die Felsdecke des Seitenschiffes ist flach, die des Hauptschiffes dagegen ahmt ein Tonnengewölbe mit tief einschneidenden seitlichen Kappen nach. Beide ruhen auf einer Reihe von massigen achteckigen Pfeilern, die wie der gesamte Raum aus dem gewachsenem Fels herausgehauen sind. Südlich schließt sich an den Kirchenraum eine niedrigere und gröbere Höhle an, die etwa dreißig Meter in den Felsen hineinführt und hunderte von Gräbern in sich birgt, eine wahrhaft monolithische Nekropole mit einer unübersehbaren Reihe von Troggräbern, die dicht an dicht in den Felsboden hineingegraben sind. Auf der Nordseite erweitert sich der Kirchenraum zu einer geräumigen Apsis, die im unteren Bereich einen unregelmäßigen Viereckgrundriss aufweist, der in der oberen Hälfte jedoch in eine regelmäßige Wölbung über annähernd halb-

Grundriss der Ädikula.

Schnitt.

Skizzierter Grundriss der Felsenanlage.

kreisförmigem Grundriss übergeht. Hierin erhebt sich eine zierliche Kleinarchitektur von kaum mehr als drei Metern Breite, sechseckig im Grundriss und in zwei Geschosse gegliedert. Dies sind die klassischen Merkmale einer topischen Nachahmung des Heiligen Grabes von Jerusalem, und auch all die übrigen Elemente der Grabesädikula werden in freier Abwandlung in Aubeterre wiederverwendet. Das untere Geschoss, mit Blendarkaden auf Halbsäulen geschmückt, enthält eine heute vermauerte Kammer, die sich ursprünglich mit einer niedrigen Tür (80x80 cm) zum Raum hin öffnete und die möglicherweise die von Pierre de Castillon mitgebrachten Reliquien enthielt. Das leicht zurückspringende Obergeschoss ist als offener Sechseckpavillon ausgeführt, dessen Säulen und Bögen den Ordnungen des Erdgeschosses entsprechen und der oben mit einem flachen Pyramidenstumpfdach bekrönt ist. Wie die gesamte Kirche, und in bewusster Anspielung auf das Felsengrab in Jerusalem, ist auch die Ädikula in der Johanneskirche von Aubeterre aus dem gewachsenen Gestein herausgearbeitet, sowohl als plastsicher Körper als auch mit seinen inneren Kammern und Hohlräumen. Zwischen diesen beiden Gegenpolen des räumlichen Systems, zwischen dem Grabschrein der Auferstehung und den Gräbern der toten Gemeinde, liegt an prominenter Stelle, mitten im Kirchenraum und genau vor dem Eingang, ein großes, ebenfalls aus dem Felsenboden herausgemeißeltes Taufbecken. Es ist oben kreisrund, aber im Boden ist noch einmal eine kreuzförmige Vertiefung zu erkennen, so dass das Ganze über einen Meter tief in den Felsboden der Kirche hineingesenkt ist. Dies ist also das räumliche Konzept, nach welchem sich die Kirche ordnet, substantiell verständlich wird es jedoch nur aus der uns so fernen Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters. Die Kirche ist hier nicht bloß Kultstätte und Versammlungsort der Gemeinde, sondern sie ist vor allem die Manifestation eines festgefügten Vertrauens auf die Wirksamkeit kultischer Handlungen und geheimnisvoller, in den Reliquienschreinen beschlossener Kräfte. Mehr noch, der Kirchenbau ist geradezu das Instrument dieser Wirkungsmächte: Als Taufkirche verwaltet sie den Zugang zur Gemeinschaft der Christen, denen die Auferstehung und das Leben verheißen wurde, und der Ort der kultischen Handlung der Taufe – dieses sine qua non der christlichen Heilshoffnung – ist sinnbildlich in den Eingang gelegt. Am einen Ende der Kirche liegen die Gräber, in denen die toten Generationen auf die Auferstehung warten, am anderen steht das Symbol ihrer Hoffnung, das leere Grab Christi, das Unterpfand der gesamten christlichen Lehre. Dies ist das religiöse Konzept, das als solches zunächst den Religionshistoriker beschäftigt, der hier die fließenden Übergänge und unklaren Scheidungen zwischen Magie und Religion studieren mag. Der Architekt und Bauhistoriker dagegen muss der Frage nachgehen, wie diese Vorstellungswelt im Detail der Architektur herausgearbeitet wird; in dieser Hinsicht erweist sich die Kirche von Aubeterre als ein Meisterwerk der architektonischen Inszenierung des uralten Themas von Todesfurcht und Lebenshoffnung. Natürlich besitzt schon die dunkle Höhle der Monolithkirche alle Assoziationen von Grab und Tod, historisch geprägt durch den gemeineuropäischen Brauch der Bestattung der Toten unter der Erde, aber auch bildhaft nahegelegt durch die Undurchdringlichkeit des absolut leb-

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losen, alles umschließenden Felsens. Diese natürlichen Qualitäten von Stein und Souterrain werden in Aubeterre nicht vom Geschick des Baumeisters geglättet oder verborgen, sondern mit Absicht ins Bewusstsein gerufen. Zwar spielt der Kirchenraum mit Schiffen und Wölbung, mit Chorapsis und Achteckpfeilern auf die vertrauten Formen der zeitgenössischen Sakralarchitekturen an, aber eben nur so weit, wie dies nötig scheint, um die religiöse Zweckbestimmung des Bauwerks zu kennzeichnen. Nicht einen Augenblick lang wird man darüber im Unklaren gelassen, dass man sich tief unter der Erde befindet, eben nicht in einem wirklichen Gebäude, sondern in einer nur roh aus dem Felsen gehauenen Höhlung. Nur grob und andeutungsweise sind die Architekturformen herausgearbeitet, die achteckigen Pfeiler verwandeln sich am Gewölbeansatz in amorphe Felsklötze, und die Tonne des Hauptschiffes ist unter der rauen Oberfläche nur zu ahnen, ebenso wie in der Apsis die Halbkuppel. So bleibt der Raum unbestimmt zwischen Natur und Kunst, ein Zwitter aus naturgewachsener Höhle und von Menschenhand errichteter Architektur. Mitten im Zwielicht dieses erst halb aus dem Stein befreiten oder schon halb wieder zur Höhle zurückentwickelten Raumes steht perfekt und makellos die Ädikula. Als plastisches, körperliches Gebilde im Innern einer Kirche, die nur Hohlraum und Negativform ist, als vollendete Architektur im Groben und Unfertigen, ist sie in allem der pointierte Gegensatz zu ihrer Umgebung. So bringt sie ihre symbolische Zweckbestimmung, ein Sinnbild des Lebens inmitten der Nekropole zu sein, auch im architektonischen Detail anschaulich zur Darstellung. Eine scheinbar marginale Beobachtung an der Oberflächenbehandlung des kleinen Gebäudes mag dies abschließend verdeutlichen. Ungeachtet der präzisen Formgebung der Architekturdetails und der sorgfältig aus dem Kalkstein herausgearbeiteten romanischen Säulen und Kapitelle ist die gesamte Oberfläche des Steins leicht rau belassen, wie mit einem feinen Stockhammer bearbeitet. Dies kann nur bedeuten, dass der Werkstein zur Aufnahme einer dünnen Putzschicht vorbereitet war, die sicherlich als Träger einer Freskenbemalung diente. Wie so oft bei der Gestaltung des Heiliggrabtopos war auch hier die Ädikula in ihrem Erscheinungsbild veredelt, nicht durch die Verwendung edler Materialien, sondern mit dem Auftrag von Feinputz und Farbe. Stärker noch als heute musste die Heiliggrabädikula von Aubeterre mit diesem Schmuck als das veredelte und verfeinerte Gegenbild ihrer zyklopischen, steinbruchartigen Behausung wirken. Ein letzter Kunstgriff des Architekten hat diesem Eindruck noch eine besondere Pointe verliehen. Mit weniger als sechs Metern Höhe und nur drei Metern Breite erscheint die Ädikula angesichts des grob ausgehauenen Hohlraumes von 19x17x11 m ohnehin schon wie der winzige Jonas im Bauch des Walfisches. Diese tatsächliche Relation des Kirchenvolumens zu dem filigranen Gehäuse in der Apsis wird in der Wahrnehmung noch sehr viel krasser, da man den gesamten Raum von einem idealen Standort aus überblicken kann, von den hochgelegenen Galerien, die den Kirchenraum auf drei Seiten umschließen. Von dort aus nimmt man nicht nur den Hauptraum in seiner vollen Ausdehnung in Länge, Breite und Höhe war, was bei einer bodennahen Augenhöhe niemals der Fall ist, sondern man blickt auf die Ädikula aus der Entfernung und aus großer Höhe hinab. Der Blick von oben nutzt geschickt die Perspektive, die man bei kleinen Gegenständen einzunehmen gewohnt ist, er spielt mit Sehgewohnheiten, die das kleine

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Eckdetail der Ädikula.

Die Ädikula.

Gebäude noch zierlicher machen. Von den Galerien betrachtet, steht das Kleinod inmitten der Unterwelt der Felsenkirche, als eine architektonische Versinnbildlichung des Lebenslichtes in der Grabesfinsternis der Nekropole. Im kultischen Gebrauch der Kirche wurde diese Zeichenhaftigkeit des Ganzen noch einmal mehr hervorgehoben. Die Monolithkirche besitzt heute nur ein einziges hochliegendes Fenster, das in der nachträglichen Aufmauerung der Vorhallenwand ausgespart ist und das kaum mehr als ein diffuses Dämmerlicht im Kirchenraum verbreitet. Falls die ursprünglich hier vorhandene Felswand überhaupt ein Fenster besaß, war es sicherlich kleiner, so dass man sagen kann: Die Höhle ist heute beinahe dunkel, und ursprünglich war sie wohl vollständig finster. Auf jeden Fall war sie von Anfang an auf künstliche Beleuchtung berechnet, und damit bot sie die Möglichkeit einer wohlüberlegten, durchaus theatralischen

Schnitt durch die Ädikula.


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Blick in die Höhlenkirche.

Überhöhung der im Programm insgesamt angelegten Intentionen. Man konnte die Ädikula allein inmitten der dämmerigen Höhle beleuchten, und diese Möglichkeit wurde auch tatsächlich genutzt. Nirgends im Schiff haben sich Vorrichtungen zum Aufstellen von Kerzen oder Öllampen erhalten, wohl aber in der Chornische. Dort sind rings an den Wänden zwei Reihen quadratischer Vertiefungen herausgemeißelt, in denen sich Lampen aufstellen ließen, um die Ädikula von oben und von allen Seiten zu beleuchten. An den großen Festen brachte somit das aus der Dunkelheit aufscheinende Symbol des leeren Grabes das gesamte Programm der Monolithkirche zum Sprechen, um so mehr, als ihm dabei der flackernde Schein der vielen Dochte ein ganz eigenes Leben einhauchen musste. Mit diesem einfachen, aber eben auch elementaren Bilde einer vollkommenen Erscheinung, die aus den architektonischen Chiffren der alltäglichen Unvollkommenheit aufleuchtet, wie eine Vision, auf die sich die verschiedenartigsten Hoffnungen projizieren lassen, fasst es die Grundgedanken dieser, und aller, Jerusalemskirchen zusammen.

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Anmerkungen 1

Die grob aus dem Fels gehauenen Wände und Decken 2

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Die Nekropole mit hunderten von Troggräbern.

Teilweise abgedruckt in: Heydenreich, Ludwig: Die Cappella Rucellai von San Pancrazio in Florenz, in: De Artibus Opuscula XL, Essays in the Honour of Erwin Panofsky, New York University Press 1961, S. 219. Amico, Fra Bernardino: Trattato delle Piante et Imagini die Sacri Edifici di Terra Santa, Rom 1619. Nachdruck und englische Übersetzung von Bellorini, Fra Theophilus OFM, Franciscan Press, Jerusalem 1973. Zum Begriff des Topos: Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (1948). 10. Aufl., Bern und München 1984. Zur literarischen Toposforschung: Baeumer, Max L. (Hrsg.): Toposforschung, Darmstadt 1973. Zur Baugeschichte der Grabeskirche: Heisenberg, August: Grabeskirche und Apostelkirche. Zwei Basiliken Konstantins, 2 Bde., Leip-

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zig 1908. Dazu kontrovers: Schmaltz, Karl: Mater Ecclesiarum. Die Grabeskirche in Jerusalem, Straßburg 1918. Sowie die Polemik von: Baumstark, Anton: Die modestianischen und konstantni-schen Bauten am Heiligen Grabe zu Jerusalem, Paderborn 1915. In den Grundzügen und von der Bautypologie her hat sich die Konstantinische Anlage bis heute erhalten. Zwar zerstörten 614 die Perser unter Khosroe II das Heilige Grab, aber schon 616–626 ließ der Patriarch Modestos das Heiligtum wiedererrichten, wenngleich sehr viel bescheidener und ohne das Edelmetallziborium der Frühzeit. Zwar machten um 1009 die Moslems unter El Hakim die Kirche wiederum dem Erdboden gleich und brachen sogar des Felshäuschen des Heiligen Grabes ab, aber Konstantin Monomachos ließ bis 1048 erneut alles so wie-derherstellen, wie es vorher gewesen war. (Alle Quellen bei Schmaltz 1918, zu den Erneuerungen vor allem S. 99ff.) Auch die Kreuzfahrer hielten sich bei ihren durch die Kreuzzüge nötig gewordenen Erneuerungsarbeiten an das ursprüngliche Konzept. Zwar entstand zwischen 1099 und 1149 anstelle der antiken und frühchristlichen Anlagen eine Architektur der Romanik, aber der Bautypus der freistehenden säulen- und baldachingeschmückten Grabesädikula inmitten der überdachten Anastasisrotunde blieb erhalten. Hierzu auch Krüger, Jürgen: Die Grabeskirche in Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung. Regensburg 2000. Das folgende weitgehend nach Heisenberg Bd. I, der mir weder durch Baumstark noch durch Schmaltz in seiner Argumentation widerlegt scheint. Dazu: Leipoldt, Johannes: Sterbende und auferstehende Götter, Leipzig 1923. Nötscher, Friedrich: Altorientalischer und alttestamentarischer Auferstehungsglauben, Würzburg 1926, S. 88f. Von einem Adoniskult in Jerusalem berichtet Origines; Nötscher 1926, S. 88f. Zusammengefasst nach Nötscher 1926, S. 86 und Leipoldt 1923, S. 46. Lukian nach Leipoldt 1923, S. 46. Heisenberg 1908 I, S. 221 z.B. Maschnaka. Otto, Walter F.: Die Manen oder Von den Urformen des Totenglaubens (1928), Darmstadt 1983. Dies ist eine der Entstehungshypothesen, die in dem besten Werk zur Heiliggrabthematik zusammenfassend ausgeführt sind: Dalman, Gustav: Das Grab Christi in Deutschland, Leipzig 1922, S. 13–20. Hagemann, Ludwig: Der Kur’an in Verständnis und Kritik bei Nikolaus von Kues, Frankfurt 1976, S. 25. Wisniewski, Roswitha: Kreuzzugsdichtung, Darmstadt 1984, S. 42. Geirnaert, Noël und Vandewalle, André (Hrsg.): Adornes en Jeruzalem. Internationaal leven in het 15de- en 16e- eeuwse Brugge. Katalog der Ausstellung in Brügge vom 9.9.– 25.9.1983. Zusammengefasst in Geirnaert 1983: Heers, Jacques: Anselm Adornes en de bedevaart naar het Heilig Land, S. 83ff. und von Esther, Jean Pierre: Monumentenbeschrijving en bouwgeschiedenis van de Jeruzalemkapel, S. 68ff. Kellner, Heinrich: Heortologie oder die geschichtliche Entwicklung des Kirchenjahres und der Heiligenfeste, Freiburg 1906, S. 236f. Kellner 1906, S. 47. Geirnaert 1983, S. 71. Eydoux, Henri Paul: Monuments curieux et sites étranges, Paris 1974, S. 139–152.

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Das Forschungsprojekt Das Forschungsprojekt „Jerusalemskirchen: Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes“ wird seit 1988 unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Jan Pieper zunächst am Institut für Baugeschichte der TU Berlin, dann am Lehrstuhl für Baugeschichte der RWTH Aachen durchgeführt. Seit 2003 fördert die DFG das Forschungsvorhaben, so daß in Kooperation mit dem Historischen Institut der RWTH Aachen neben den baulichen Quellen auch die Schriftquellen zu den Heiliggrabkopien Bearbeitung finden. Ziel der Arbeiten ist es, dem Phänomen der mittelalterlichen Nachbauten des Heiligen Grabes in Jerusalem aus der Sicht des Architekten und Bauhistorikers auf die Spur zu kommen. Die Heiliggrabimitationen, von denen in Europa um die fünfzig erhalten sind, eine viel größere Zahl jedoch durch Quellen überliefert ist, geben Aufschluss über das mittelalterliche Verständnis der architektonischen „Kopie“, die keinesfalls der heutigen originalgetreuen Vervielfältigung entspricht. Sie ist im Gegensatz hierzu eine „topische“ Nachbildung, die ihr Vorbild individuell und ausschnitthaft interpretiert, indem sie je nach Widmung ausgewählte Aspekte und Topoi des Originals aufgreift und überhöht. Die Analyse der verschiedenen Nachbauten in Bezug auf ihr gemeinsames Vorbild erlaubt es auf einzigartige Weise, Aussagen darüber zu treffen, auf welche Art mittelalterliche Bauherren und Architekten Vorbildbauten rezipierten und in welch hohem Grade sie bei deren Umsetzung architektonisch eigenständige Neuschöpfungen mit eigener Bauidee und eigenem Sinngehalt anstrebten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden bisher acht Einzelbeispiele bearbeitet, die einen repräsentativen Querschnitt durch die Typologie und Ikonologie der mittelalterlichen Heiliggrabkopien bilden und gleichzeitig besonders bemerkenswerte Raumlösungen darstellen. Grundlage der Forschungsarbeiten ist das verformungsgerechte Bauaufmaß, das allein erst präzise Aussagen zu den einzelnen Objekten erlaubt. Der Lehrstuhl führt daher in den Semesterferien gemeinsam mit Studenten zwei– bis dreiwöchige Bauaufnahmekampagnen durch, während derer die Beispiele vor Ort genauestens unter die Lupe genommen und in Grundrissen, Schnitten, Ansichten, Details und Fotos dokumentiert werden. Ergänzend zum Bauaufmaß der Jerusalemskirchen werden von der Mediävistin Anke Kappler M.A. die archivalischen Schriftquellen sowie Akten der Denkmalpflege vor Ort recherchiert, um – unter Berücksichtigung von historischem Bildmaterial – auch mögliche Veränderungen zu dokumentieren. Dies ermöglicht, die Bauten zuverlässig in ihren historiographischen Kontext einzuordnen. Die hier vorliegende Präsentation der Bauaufnahmezeichnungen ist aus dem laufenden Projekt heraus entstanden; sie muss daher als Momentaufnahme verstanden werden und kann nur Ausschnittcharakter haben. Die Ausstellung wurde von Dipl.-Ing. Anke Naujokat konzipiert und zusammengestellt. Daraus haben Anke Kappler und Björn Schötten den vorliegenden Katalog erstellt. Wir bedanken uns bei Maria Nguyen, Nadja Heinrich, Alexander Spanjardt und Nils Thamm für ihren unermüdlichen Einsatz beim Vorbereiten des Materials für die Ausstellungstafeln.

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Unzählige Hände sind bisher an dem Projekt beteiligt gewesen: Unter der Leitung von Prof. Jan Pieper koordinierten die wissenschaftlichen Mitarbeiter Karl Kiem, Martina Abri, Susanne Traber und Anke Naujokat das Projekt seit nunmehr fünfzehn Jahren und leiteten die Bauaufnahmen an den verschiedenen Orten in ganz Europa, technisch

angeleitet von dem architekturbegeisterten Geodäten Holger Wanzke. Heere von studentischen Hilfskräften arbeiteten bei den Messkampagnen mit und verwandelten am Zeichentisch die Vorzeichnungen in Präsentationspläne.


Die Jerusalemer Grabeskirche Lage der Passionsstätten innerhalb Jerusalems. Die wichtigsten Stätten der Passion sind in der Jerusalemer Grabeskirche zusammengefasst. Weitere Orte der Heilsgeschichte können Pilger noch heute entlang der Via Dolorosa in Jerusalem abschreiten, um die Leiden Christi von seiner Gefangennahme bis zur Auferstehung an den Originalschauplätzen nachzuvollziehen:

Konstantins Memorialbauten im Heiligen Land. Die Grabeskirche in Jerusalem umbaut das wichtigste materielle Zeugnis der christlichen Heilslehre: sie ist über dem Felsengrab errichtet, in das Joseph von Arimathäa den Gekreuzigten bettete und aus dem Christus am dritten Tag auferstand. Das leere Grab als Beweisstück der Verheißung des ewigen Lebens ist die zentrale Stätte unter den Orten des Wirkens Christi, die Kaiser Konstantin nach dem Toleranzedikt von Mailand 313 im Heiligen Land suchen ließ, um sie sodann architektonisch zu überhöhen und zu Pilgerstätten auszubauen. So entstand in den dreißiger Jahren des 4. Jh. ein monumentales Bauprogramm aus Memorialbauten, die die zentralen Stationen im Leben Jesu reliquienartig in ihrem Inneren fassen und den Gläubigen zur Verehrung präsentieren: • das Oktogon der Geburtskirche in Bethlehem über der von oben offen einsehbaren Geburtsgrotte, • die Himmelfahrts-Basilika am Ölberg über dem Ort der Himmelfahrt Christi, • die Grabeskirche im Nordwesten Jerusalems über den wichtigsten Stätten der Passion: dem Grab Christi und der Kreuzigungsstätte Golgatha.

Nach dem Abendmahl geht Jesus mit seinen Jüngern aus der Stadt hinaus durch das Kidrontal zum Ölberg. Während er dort im Garten Gethsemane zu seinem Vater betet, ergreifen ihn die durch den Verrat des Judas alarmierten Gefolgsleute des Hohenpriesters Kaiphas und bringen ihn als Gefangenen in dessen Palast. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wird Jesus an Pilatus, den römischen Statthalter in Jerusalem, ausgeliefert. Der Verspottung durch die Soldaten im Palast des Herodes folgt die Verhandlung vor dem Haus des Pilatus, bei der der Dornengekrönte gegeißelt und dem Urteil des jüdischen Volkes gemäß zum Tode verurteilt wird. Christus trägt nun sein Kreuz aus der Stadt hinaus zum Richtplatz auf der Anhöhe Golgatha (hebr.: Schädelstätte), wo er zusammen mit zwei Schächern gekreuzigt wird. Joseph von Arimathäa nimmt den Leichnam vom Kreuz ab, salbt ihn, wickelt ihn in ein Leichentuch und setzt ihn in einem Felsengrab in unmittelbarer Nähe der Kreuzigungsstätte bei, das er durch einen großen Rollstein verschließt. Die Wächter, die Pilatus zum Schutz des Grabes bestellt hat, sind in tiefen Schlaf gefallen, als am Ostermorgen ein Engel vom Himmel herabfährt und den Stein vor dem Eingang der Grabkammer zur Seite wälzt. Den drei Frauen, die das Grab besuchen wollen, zeigt er das leere Grab und verkündet die Auferstehung Jesu mit den Worten: „Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch die Stelle an, wo er lag.“ (Matth. 28, 5-6)

Die konstantinische Grabeskirche (nach Conant). Die Perspektiven zeigen den Prozess der Monumentalisierung des Christusgrabes: • Das Gelände der Nekropole wird eingeebnet und die Negativarchitektur des Felsengrabes zu einer freistehenden Ädikula isoliert. • Das Grab wird am Ende der monumentalen Raumfolge durch einen „übergestülpten“ Zentralbau nobilitiert.

Plan der Grabeskirche des gallischen Bischofs Arculf (um 680, Nachzeichnung aus dem 9. Jh.). Arculfs stark abstrahierter Plan der Grabeskirche aus dem 7. Jh. zeigt die Bauidee der ineinander gestellten Architekturen, die zum Zentrum hin immer kostbarer und bedeutsamer werden. Auch die Heiliggrabädikula selbst ist hier als Rundbau dargestellt. Rechts von der Rotunde ist der Golgathafelsen markiert, weiter im Osten der Ort, wo Konstantins Mutter Helena die drei Kreuze auffand. Die Basilika ist auf der Zeichnung zwar erwähnt, der Schwerpunkt der Darstellung liegt jedoch eindeutig auf der Darstellung der Anastasisrotunde.

Die konstantinische Grabeskirche. Die Bauidee der Grabeskirche entspringt dem Bestreben, durch die Monumentalisierung des leeren Grabes die eschatologische Verheißung sichtbar und erlebbar zu machen. Für den Monumentalbau wurde der heterogene felsige Untergrund rund um die Kreuzigungs– und Grabesstätte im Westen vor der Stadt zu einem großen Plateau eingeebnet, so dass nur der Golgathafelsen sowie das aus der Felskante isolierte Felsengrab als Monolithe stehen blieben. Mehrere Bauten mit unterschiedlicher Funktion wurden entlang einer zentralen Achse hintereinander gestellt, so dass der Besucher in anagogischer Steigerung die Stätten der Passion und Auferstehung abschreiten konnte: Vom römischen Cardo der Stadt aus betrat er über einen Atriumhof zunächst die fünfschiffige Basilika, einen längsgerichteten, weiträumigen Versammlungsraum. Ein zweites von Säulenportiken umrahmtes Atrium hinter dem Chorbereich erlaubte den Zugang zu dem frei stehenden Golgathafelsen, der den Kreuzigungsort Christi markierte. Architektonischer Ziel- und Höhepunkt der grandiosen Anlage war die große Rotunde der Anastasis (griech.: Auferstehung) am Ende der Raumfolge – ein überkuppelter Zentralbau, der das Grab Christi in seiner Mitte wie ein monumentaler Baldachin beschirmt. In konzentrischen Ringen legen sich die Raumhüllen um das preziöse Objekt in ihrem Mittelpunkt: Ein überkuppelter Zylinder von rund 22m Durchmesser als innerer Kern der Rotunde öffnet sich im Erdgeschoss durch abwechselnde Pfeiler- und Säulenstellungen auf einem eingeschossigen Umgang. Dieser weitet sich im Norden, Süden und Westen in drei Apsiden auf, während er im Osten durch das rechteckige Atrium angeschnitten wird. Durch die bewusste bauliche Trennung von Basilika (Ort der Eucharistie, Versammlungsraum der Gemeinde) und Anastasisrotunde (Memorialbau), von Längsbau und Zentralbau, wird das Heilige Grab als monumentaler Endpunkt der Via Dolorosa inszeniert: dieser Kreuzweg quer durch Jerusalem wird von Pilgern und Prozessionen vielfach abgeschritten, mit dem Ziel, Christi Leiden nachzuvollziehen, um am Ende das leere Grab als Hoffnungssymbol, als Zeichen des allen Christen verheißenen Sieges über den Tod zu besuchen.

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Die byzantinische Grabeskirche nach der Zerstörung durch Al Hakim 1009. Beim Wiederaufbau der Grabeskirche nach der Verwüstung durch muslimische Truppen unter dem Kalifen Al-Hakim im Jahre 1009 verzichtete man auf den Neubau der völlig zerstörten Basilika. Das dadurch auf die Funktion einer reinen Memorial- und Wallfahrtskirche reduzierte Bauwerk wird nun nach und nach zum Behältnis weiterer Passionszeugnisse und -stätten, die man an einem zentralen zu Ort konzentrieren suchte: Der Golgathafelsen wurde durch einen Kapellenraum gefasst und das Felsplateau ebenso wie die an seinem Fuße in das Gestein eingetiefte Nische, die man als das Grab Adams verehrte, vom Atrium aus zugänglich gemacht. Im Osten der Kirche konnte man nun auch zur Kreuzauffindungsgrotte hinabsteigen, jener Höhle, in der nach der Legende Konstantins Mutter Helena das Kreuz Christi aufgefunden hatte. Die mittelalterliche Grabeskirche der Kreuzfahrer. Die Eroberung der Heiligen Stadt durch die Kreuzfahrer 1099 und die Errichtung des christlichen Königreichs Jerusalem führte zu einem Umbau der Grabeskirche in großem Stil, wobei jedoch die Passionsstätten, denen man die Bedeutung von authentischen Reliquien zumaß, unangetastet blieben. Um das Heilige Grab und den Golgathahügel entwickelte sich eine regelrechte Passionslandschaft, die nun auch die Kreuzauffindungsgrotte und die ihr kultisch zugeordnete unterirdische Helenakapelle in das Bauwerk integrierte. Der Golgathafelsen wurde nach Westen hin mit einer im Kirchenraum freistehenden Doppelkapelle überbaut, deren Untergeschoss das Adamsgrab erschließt und in deren Obergeschoss man den Kreuzigungsaltar auf der Spitze des Kalvarienberges verehren kann. Das Übereinander von Adams- und Kreuzigungskapelle versinnbildlicht den göttlichen Heilsplan, der die Sünde des ersten Menschen durch die Erlösungstat des Gottessohnes tilgt. Für die regelmäßige Feier der Eucharistie am Grab Christi durch die mit dem Altardienst beauftragten Augustinerchorherren wurde der Anastasis im Osten eine ausgedehnte Choranlage angefügt, die den Raum des ehemals offenen konstantinischen Atriums überbaute. Die Klausurgebäude der Mönche lagen über den Fundamenten der konstantinischen Basilika.

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Die Entwicklung der mittelalterlichen Grabeskirche (nach Corbo). Die Richtstätte Golgatha und das Felsengrab, nach antiker Sitte außerhalb der Stadtmauern gelegen und dort im spätantiken Komplex der konstantinischen Grabeskirche vereinigt, wurden in späteren Jahrhunderten in das ummauerte Stadtgebiet integriert und mehrfach umgebaut. Schon zur Zeit der Kreuzfahrer wies die Grabeskirche kaum mehr Ähnlichkeit mit Konstantins großartigem Konzept auf. Heute ist die Grabeskirche in vielen Teilen ein Produkt des 19. Jh. und liegt im labyrinthischen Gassengewirr der Jerusalemer Altstadt verborgen. 1. Die konstantinische Grabeskirche (um 330) 2. Die byzantinische Grabeskirche (um 1040) 3. Die mittelalterliche Grabeskirche (um 1167)

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Die in der mittelalterlichen Grabeskirche umbauten Passionsstätten. A. Heiliges Grab B. Golgathakapelle C. Kreuzauffindungsgrotte D. Helenakapelle

Rekonstruktion der mittelalterlichen Grabeskirche von Robert Willis (1849). Der Längsschnitt verdeutlicht die Lage der Heiligen Stätten innerhalb der Grabeskirche: unten wird die ursprüngliche Topographie der Schädelstätte gezeigt, oben der mittelalterliche Zustand der Überbauung.

Die Grabeskirche, von Bernardino Amico (1620). Die Stiche zeigen das mittelalterliche Ensemble aus Anastasis und Heiligem Grab im Westen – hier mit einem offenen Zeltdach überspannt – und dem im 12. Jh. angebauten Chorbereich im Osten.

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Das Heilige Grab in Jerusalem

1. Die Felsengrabkammer.

4. Die mittelalterliche Ädikula (1012-1555)

2. Die aus dem Felsen isolierte Grabkammer.

5. Die Ädikula nach 1555

3. Die konstantinische Ädikula (um 326)

6. Die heutige Ädikula

Die Entwicklung der Jerusalemer Grabesädikula (nach Biddle und Wilkinson)

Rekonstruktion des Grabesmodells in Narbonne (nach Lauffray 1962). Diese modellhafte Nachbildung des Heiligen Grabes war jahrhundertelang in der Stadtmauer von Narbonne in Südfrankreich verborgen. Der ursprüngliche Zweck dieses verkleinernden Modells ist nicht bekannt, es stellt aber eines der präzisesten Abbilder der konstantinischen Ädikula dar.

Pilgerampulle (Monza 6. Jh). Die Pilger brachten Andenken in großer Zahl vom Heiligen Grab in ihre Heimat. Besonders beliebt waren sogenannte Berührungsreliquien, Gegenstände, denen die den Originalreliquien innewohnende Kraft durch Berührung übertragen worden war. So trug man geheiligtes Wasser oder Öl aus den Lampen der Grabeskirche in Pilgerampullen nach hause, auf denen häufig die Grabeskirche abgebildet war. In den Darstellungen auf Pilgerampullen des 6. Jh. ist die Ädikula deutlich als zentralbauförmiger Pavillon mit Zeltdach auszumachen.

Die konstantinische Heiliggrabädikula (3261009). Das Grab, in das Joseph von Arimathäa den Leichnam Christi bettete, war ein typisches jüdisches Felsengrab, wie es in großer Zahl in die felsigen Abhänge der außerhalb der Stadt gelegenen Nekropolen getrieben wurde. Es gliedert sich in eine niedrige Grabkammer mit einer Grabbank und einen Vorraum, von dem aus man das Grab mit einem schweren Rollstein verschließen konnte. Dieser Vorraum wurde später „Engelskapelle“ genannt, da hier der Engel bei der Verkündigung der Auferstehung auf einem Stein gesessen haben soll. Konstantin ließ ab 326 die Felsengrabkammer aus dem Gestein herausmeißeln und zu einer monolithischen, ringsum freistehenden Ädikula isolieren. Die Gestalt dieses konstantinischen Heiligen Grabes ist am mehrfach stark veränderten Bau heute nicht mehr zu rekonstruieren. Zeitgenössische Abbildungen auf Pilgerampullen und die plastische Nachbildung des Grabes, die in Narbonne gefunden wurde, haben den ursprünglichen Zustand jedoch überliefert. Während die Innenräume des Felsengrabes innerhalb eines Kernes aus natürlichem Gestein erhalten blieben, wurde das Äußere architektonisch gefasst und nobilitiert. Es erhielt die Form eines kleinen polygonalen Zentralbaus mit Zeltdach und vorgelagertem Portikus und war von Säulen umstanden und mit edlem Marmor verkleidet. Die mittelalterliche Heiliggrabädikula (10121555). Nach der Zerstörung der Grabeskirche durch Al-Hakim im Jahre 1009 musste auch das Heilige Grab auf den Resten des konstantinischen Baus neu errichtet werden. Die ursprüngliche Zentralbaugestalt wurde dabei verunklart, indem man die vorgelagerte Engelskapelle in Form eines rechteckigen Vorraums zu einem eigenständigen Bauteil der Ädikula machte. Dieser Vorraum war nun nicht mehr nach vorne hin geöffnet sondern nur noch durch drei Türen zu betreten, durch die man die Pilgerströme leitete, indem man sie im Norden eintreten und im Süden wieder hinausgehen ließ. Die Felsengrabkammer wird nun von einem unregelmäßig polygonalen Baukörper eingefasst, der in Anlehnung an seinen konstantinischen Vorgänger außen von 10 Säulen umstanden wird, welche nun eine umlaufende rundbogige Blendarkade tragen. Da der natürliche Fels um das Grab im oberen Bereich zerstört war, hatte man die Decke der Grabkammer erneuert. Sie wurde überwölbt und mit einer kleinen Öffnung für den Abzug des Kerzenrauchs versehen, wohl auch um das mystische Hinabsteigen des Heiligen Feuers in das Grab am Ostersonntag zu versinnbildlichen. Dem flachen Dach der Grabkammer wird nun erstmals der kleine sechssäulige Baldachin aufgesetzt, der später zum Erkennungszeichen des Heiligen Grabes avanciert. Wohl erst seit dem späten 15. Jh. flankieren zwei längliche Steine als Sitzbänke für die Grabwächter den zentralen Eingang zur Engelskapelle.

Links: Syrisches Mosaik (6. Jahrhundert). Rechts: Himmlisches Jerusalem. Mosaikdarstellung (8. Jahrhundert). Beide Mosaike zeigen die Grabesädikula als Zentralbau mit Zeltdach.

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Während des gesamten Mittelalters war das Heilige Grab in Jerusalem eines der meistverehrten Pilgerziele. Neben den Kreuzfahrerheeren, die zur Verteidigung oder Wiedergewinnung der Heiligen Stätten gegen die Muslime auszogen, nahm auch eine große Zahl von Pilgern aus dem ganzen christlichen Abendland die beschwerliche und gefährliche Reise in den Orient auf sich, um die Passion Christi an ihren Originalschauplätzen nachzuerleben und an den wunderwirkenden Kräften des Heiligen Grabes teilzuhaben, dem man den Charakter einer authentischen Reliquie zusprach. In den Tagebüchern dieser Pilger wird das Heilige Grab vielfach beschrieben. Viele Reisende fügten ihren Berichten auch Zeichnungen der Heiliggrabädikula bei, die in unterschiedlichem Präzisionsgrad und Detailreichtum heute als wichtige Bildquellen für deren mittelalterliche Gestalt dienen. Das Heilige Grab ab 1555. Nach der Eroberung Jerusalems durch die muslimischen Truppen Saladins im Jahr 1187 und dem damit verbundenen Ende des christlichen Königreichs Jerusalem fiel die Heiliggrabädikula dem Verfall und der Zerstörung anheim. Nord– und Südtür des Vorraums wurden zugemauert, die Marmorverkleidung und alle wertvollen Materialien entfernt. Die Restaurierung der Ädikula geschah ab 1555 von Grund auf, indem man die Überreste des alten Grabes bis auf den Felsenkern abtrug. Die mittelalterliche Gestalt war Grundlage der Rekonstruktion und wurde nur in wenigen Punkten verändert: Vorraum und Grabkammer verschmelzen in der äußeren Form immer stärker miteinander. Die Engelskapelle ist verkleinert und nur noch durch eine einzige frontale Tür zu betreten. Die romanischen Rundbogenarkaden werden durch eine Blendarkade mit Spitzbögen ersetzt, der bekrönende Baldachin wird vergrößert und dadurch in seiner Funktion als den Bau dominierendes Erkennungszeichen gestärkt.

Anonyme Zeichnung aus einer Handschrift der Vatikanischen Bibliothek (14. Jh.). Die Zeichnung illustriert die Vorstellung vom Heiligen Geist, der das österliche Licht als Zeichen der Auferstehung in das Christusgrab trägt.

Holzschnitt der Ädikula von Bernhard von Breydenbach (Mainz 1486).

Zeichnung der Ädikula von Stefan Baumgartner (1498). Die Darstellung zeigt die aus zwei Bauteilen zusammengesetzte Struktur der Ädikula: der die Grabkammer umfassende Teil wird hier als Zentralbau interpretiert, die Engelskapelle als untergeordneter rechteckiger Anbau.

Holzschnitt der Ädikula von Herman von Borculo (Utrecht 1538).

Darstellung der Ädikula im Reisebericht des Konstanzer Ritters Grünenberg (1486).

Das Heilige Grab heute. Bei einem Feuer im Jahre 1808 stürzte das Dach der Anastasisrotunde auf den Grabbau. Während das Innere weitgehend erhalten blieb, musste die äußere Struktur der Ädikula erneut völlig rekonstruiert werden. Mit dem Wiederaufbau wurde 1809 der griechische Architekt Nikolaos Komnenos betraut. Er fasste Grabkammer und Engelskapelle in einem einheitlichen Baukörper zusammen und verlieh dem Grab hierdurch sowie durch den neuen unförmigen Baldachinaufsatz eine wenig ansehnliche gedrungene Gestalt. Seit 1947 wird das wiederholt durch Erdbeben in Mitleidenschaft gezogene Heilige Grab durch eine Verklammerung aus Stahlträgern stabilisiert.

Stich nach Giovanni Zuallardo (1586). Der Stich zeigt neben Grundriss und Ansicht der Ädikula auch die Gliederung der Innenräume: hinter der kreuzgewölbten Engelskapelle mit dem Engelsstein liegt die Grabkammer mit der Grabbank.

Grundriss und Ansicht der Ädikula von Bernardino Amico (um 1595). Der Stich ist durch die sehr präzise Darstellung der Ädikula in orthogonaler Projektion (Grundriss und Ansicht) eine besonders wertvolle Bildquelle.

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Mittelalterliche Heiliggrabkopien Das Heilige Grab, die leer dastehende historische Stätte der Auferstehung Christi, ist das „architektonische Beweisstück“ der für den christlichen Glauben zentralen Vorstellung endzeitlicher Erlösung und personaler Wiederauferstehung des Individuums. Als solches regt es schon seit dem 5. Jahrhundert, besonders aber in den beiden Jahrhunderten der Kreuzzüge (1096-1291) eine große Zahl von Nachbildungen im Okzident an, die die dem Ursprungsbauwerk entlehnten Gedanken auf vielfältige Art und Weise zum Ausdruck bringen.

Übersicht der wichtigsten erhaltenen mittelalterlichen Heiliggrabkopien in Europa.

Delft 15. Jh Gouda 1504 Cambridge 12. Jh

Externsteine 1115

Fulda 822

Kobern 1230

Nürnberg 1513 Brügge ab 1471 Lanleff 11. Jh

Eichstätt 1160 Kastel Augsburg 1506

Neuvy-St.Sepulcre 1045

Schlettstadt 1094 Konstanz 960/13. Jh.

Quimperlé um 1100 Aquileia vor 1088 Dijon 1018 Charroux 1047

Neustift 1198 St Léonard 1120

Torres del Rio 12. Jh. Aubeterre 12. Jh.

Villeneuve d’Aveyron 12. Jh.

Tomar 1160

Toulouse um 1090

Eunate 12. Jh.

Segovia 1208

Die wichtigsten Bauanlässe und Darstellungsabsichten der Heiliggrabimitationen lassen sich wie folgt zusammenzufassen: •

Wie das überhöhte Jerusalemer Grab sind sie in erster Linie Beweisbauwerke, die durch das Paradoxon des leeren Grabes der Sichtbarmachung der eschatologischen Verheißung dienen und somit materielle Zeugnisse der christlichen Heilslehre darstellen. In diesem Zusammenhang sind sie als Grabstätten ihrer Stifter zu finden, als Friedhofskapellen oder in Verbindung mit Gebeinhäusern. In einer Zeit, in der sich die Kirche durch häretischen Toten- oder Geisterglauben und das Vordringen des Islam bedroht fühlt, ist auch ihre Bedeutung als theologisch-didaktische Lehrbauwerke für die Gläubigen ein wichtiger Bauanlass, nicht selten mit szenischer Funktion für Osterspiele. In Zeiten heidnischer Herrschaft im Heiligen

Land sind sie als „Stellvertreterheiligtümer“ Ziel von Ersatzwallfahrten und Ablassgeschäften. Vom ihrem Besuch erhoffte man sich dieselbe Heilswirkung wie vom Original. Sie sind Erinnerungs- oder Andachtsarchitekturen heimgekehrter Kreuzfahrer, in denen diese ihren ganz persönlichen spirituellen Erlebnissen Dauer verleihen. Häufig dienen sie auch als Reliquiarbauten für die vielfach aus dem Heiligen Land mitgebrachten Passionsreliquien. Nicht zuletzt sind sie wichtige Medien zur Unterstützung der zeitgenössischen Kreuzzugspropaganda, die den Aufruf zur Befreiung der über lange Zeit unzugänglichen Heiligen Stätten aus der Hand der Ungläubigen architektonisch untermauern.

In der Baugestalt der Heiliggrabkopien sind klar umrissene Ideen und Absichten zu erkennen. Während die späteren Beispiele das Jerusalemer Vorbild stets naturgetreu nachbilden und so das Thema der Kopie mit derselben barocken Anschaulichkeit umsetzen, die zum Entstehen der großen bildhaften Kreuzwege geführt hat, sind die Mittel der mittelalterlichen Nachbildung vielfältiger und führen zu architektonisch eigenständigen Lösungen. Viele mittelalterliche Beispiele weisen räumliche Besonderheiten auf, die weit über eine naturgetreue oder verkleinernde Nachbildung von Anastasisrotunde und Grabesädikula hinausgehen und eigene Gedanken und Inhalte transportieren. Diese freien, „topischen“ Nachahmungen sind von großem architektonischem Interesse, da sie keine naturgetreue Reproduktion des Originals darstellen, sondern oft nur einen bestimmten Aspekt des Jerusalemer Grabes aufgreifen und ihn architektonisch überhöhen.

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Die Templerrotunde in Tomar

Lageplan der Rotunde in der Templerburg: Vergleich des heutigen und des mittelalterlichen Zustandes.

Die wehrhafte Rotunde der „Charola“ auf der Templerburg in Tomar birgt in ihrem Inneren eine filigrane Kapellenarchitektur: ein aufwändig geschmücktes, zweigeschossig gegliedertes Oktogon ist turmartig in die Rotunde eingestellt und verschmilzt im oberen Bereich mit dieser durch eine umlaufende Ringtonne. In ihrer doppelten Funktion als Wehr- und Sakralbau spiegelt die Charola die beiden einander ergänzenden Bestimmungen der Tempelritter: wie alle geistlichen Ritterorden, die während der Kreuzzüge im Heiligen Land gegründet wurden, verbinden sie monastische Strukturen mit ritterlichen Aufgaben. Die Templer entwickelten sich von einer rein militärischen Organisation zum Schutz der Pilger im Heiligen Land zu einer christlichen Miliz, deren Mitglieder das Mönchsgelübde ablegten, nach der Regel des Hl. Benedikt lebten und sich weltweit dem Kampf gegen die „Ungläubigen“ weihten.

Grundriss Erdgeschoss.

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Die portugiesischen Regenten betrauten den Templerorden ab 1128 mit der militärischen Unterstützung der Reconquista. Um die Nordgrenze der von den Muslimen zurückeroberten Gebiete zu befestigen und weitere Angriffe der Mauren abzuwehren, erhielten sie von der Krone umfangreiche Grundherrschaften entlang des Tejo, die sie mit Burgen festungsartig ausbauten. Zum Hauptquartier der Templer in Portugal wurde der Burgberg in Tomar, wo im Jahr 1160 die Bautätigkeit an einer ausgedehnten Höhenburg begann. Mehrere Mauerringe umgeben den Burgbezirk, an dessen höchster und am besten gesicherter Stelle im Norden sich das Wohnkloster der Templer befand, während der tiefer gelegene Teil der Befestigungsanlagen als Fluchtburg für die Bevölkerung diente. Der innerste Templerbezirk auf dem Gipfel war durch zwei Verteidigungsbauwerke gesichert: im Osten die stark befestigte „Alcazaba“, eine Ringburg mit Bergfried und vorgelagertem

Rekonstruktion der Rotunde vor dem Blitzschlag 1508.

Schnitt durch den Umgang.

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10m


Zwinger, und als Pendant dazu im Westen die „Charola“ mit Wehrgang und Schießscharten, die man vom Wohnbezirk aus über eine Treppe in der Außenwand erreichen konnte. Neben ihrer fortifikatorischen Funktion als Teil des Verteidigungssystems diente die Charola als Oratorium und Versammlungsraum der Templer. Es ist wahrscheinlich, dass sie den Hauptzugang zum Wohnbereich der Templer beherbergte und damit die Rolle eines auch sinnbildlich schützenden sakralen Torbauwerkes übernahm, wie man es in den Templerburgen des Heiligen Landes häufig findet.

Grundriss Dachebene.

Bildquellen aus der Zeit um 1500 zeigen, dass der turmartige Mittelbau der Charola in seiner ursprünglichen Gestalt die wehrhafte Rotunde um mindestens ein Geschoss wie eine bekrönende Laterne überragte. Im Jahr 1508 büßte die Charola infolge eines Blitzschlags ihren laternenartigen Dachaufbau ein. Die großen Fensteröffnungen in der wehrhaften Außenmauer sind wohl ein Resultat der Umbaumaßnahmen infolge des Unglücks, ebenso wie die Überwölbung des Mittelbaus in Höhe der Ringtonne. Die ursprüngliche Raumkonzeption hatte vermutlich den zenitalen Lichteinfall durch das obere Stockwerk des Mittelbaus als Hauptlichtquelle des Kapellenraumes vorgesehen. Der architektonisch durch seine filigrane Gliederung herausgehobene Mittelturm wäre in hellem Lichtglanz erschienen, während der Umgang sich als Halbdunkel schützend um diesen gelegt hätte.

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Grundriss Obergeschoss.

10m

Schnitt durch den Mittelbau.

Einige Hinweise lassen darauf schließen, dass die Rotunde in zwei verschiedenen Bauphasen errichtet wurde: 1160 begann man mit dem Bau auf dem Burgberg, 1190 musste man die Arbeiten unterbrechen, um sich gegen die Belagerung durch die Almohaden zu verteidigen, die über Gibraltar auf die iberische Halbinsel vorgedrungen waren. Die Baufuge verläuft am Mittelbau über den Kapitellen des Untergeschosses, die noch spätromanische Skulptur aufweisen, während die von dort aus aufgehenden Bauteile mit ihren leicht angespitzten Bögen und schlankeren Kapitellen von der Architektur der Zisterzienser beeinflusst scheinen. Auch die Rotunde weist einen am Außenbau sichtbaren Materialwechsel in wechselnder Höhe auf, der auf eine Unterbrechung der Bauarbeiten hindeutet.

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Das heutige Erscheinungsbild der Charola ist durch die manuelinischen Überformungen des frühen 16. Jh. bestimmt, die mit den Restaurierungsarbeiten nach dem Blitzschlag einhergingen. Während die Angehörigen des Templerordens seit dem Verbot ihrer Organisation 1312 durch Papst Clemens V. in Europa verfolgt wurden, wussten die portugiesischen Könige von der Finanzkraft und Streitbarkeit der Rittermönche zu profitieren, indem sie ihnen im neu gegründeten Orden der „Christusritter“ Zuflucht boten und diesen zum wichtigsten Motor der portugiesischen Expansion nach Übersee im Zeichen des Kreuzes machten. Die wachsende Anzahl der Christusritter war Anlass für die Erweiterung der Rotunde durch ein westlich angegliedertes Langhaus. Um eine Einheit mit den angefügten Bauteilen zu erreichen, wurde die Charola im manuelinischen Dekorationsstil ausgestattet, so dass die mittelalterliche Architektur mit Stuckornamenten, Vergoldungen, Holzskulpturen, Fresken und Malereien regelrecht überwuchert ist.

Der Turm, allein schon Sinnbild der Sicherheit, wird in Tomar durch die festungsartige Rotunde ummantelt. Der Schutz, den das Heilige Grab in Jerusalem durch die Templer genießt und damit auch deren Funktion als Verteidiger des christlichen Glaubens finden hier architektonischen Ausdruck. Sicher klingt in der ursprünglichen Anlage in Tomar auch zeitgenössische Kreuzzugspropaganda an, die unter der Ägide Bernhards von Clairvaux zur Befreiung des Heiligen Landes mit Waffengewalt aufrief. Jedwede Einschränkung des ungehinderten Zuganges zu den Heiligen Stätten der eigenen Heilsgeschichte musste das christliche Abendland als einen Eingriff in eigene religiöse und innerkirchliche Angelegenheiten begreifen.

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Mittelbau: Westansicht.

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In der Sakralarchitektur der Templer bilden Zentralbauten wie die Charola keine Ausnahme, dass es sich hierbei stets um Kopien der Grabeskirche handelt, ist jedoch nicht erwiesen. Auch der Felsendom auf dem Tempelberg, den die Templer in Jerusalem bewohnten, ist als Vorbild dieser Bauten nicht auszuschließen, zumal es unter diesen beiden Bauten in der Überlieferung oft zu Verwechslungen kam. Der architektonische Bezug der Charola zur Jerusalemer Grabeskirche wird jedoch in der Disposition der ineinandergestellten Baukörper deutlich: Die wehrhafte Rotunde beherbergt eine Kleinarchitektur, die durch ihren architektonischen Schmuck und ihre diaphane Struktur dem groben Äußeren gegenüber wie ein wertvoller schützenswerter Tabernakel wirkt. Ob der Mittelbau einmal eine Passionsreliquie aufgenommen hat, ist nicht sicher, deutlich ist aber doch der typologische Zusammenhang des turmartigen Oktogons mit einem Hostienbehälter: Die Turmform war für mittelalterliche Tabernakel üblich. Sie stand sinnbildlich für die Gewissheit, dass Christus, dessen Leib hier aufbewahrt wurde, Hoffnung und Sicherheit für die Christen bedeute: „Du bist meine Zuflucht, ein fester Turm gegen die Feinde“ (Psalm 61,4).

5m Mittelbau: Grundriss Erdgeschoss.

Die Abteikirche Saint-Sauveur in Charroux (Dépt. Charente), 1047. Die Vierung der basilikalen Anlage ist in Anlehnung an die Jerusalemer Grabeskirche als Zentralbau ausgebildet. Die Rotunde umgibt einen turmartig aufragenden Mittelbau über einer Krypta mit Grab- und Reliquienkammer.

Templerkirche Vera Cruz in Segovia (Altkastilien), 1208. Der zwölfeckige Zentralbau enthält einen zweigeschossigen Kernbau. Über einer flachen gewölbten Krypta erhebt sich ein weiterer, höhergelegener Kultraum, der eine Kreuzesreliquie birgt.


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Felsenkirche St. Jean in Aubeterre

Lage der Felsenkirche unter dem Burgberg.

Die Felsenkirche St. Jean in Aubeterre, 50 km südlich von Angoulême (Dept. Charente, Frankreich) gelegen, birgt einen Nachbau des Heiligen Grabes, der zu den außergewöhnlichsten Zitatarchitekturen gehört. Sie beherbergt eine fein gestaltete Grabesädikula, die als Zeichen der Erlösungsgewissheit symbolhaft in den Kontrast zu umgebenden Höhlenarchitektur gesetzt ist.

Die Felsenkirche: Querschnitt.

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10m Grundriss Erdgeschoss.

Die vollständig aus einem senkrecht abfallenden Kalkfelsen herausgemeißelte Kirche befindet sich genau unterhalb der Burg von Aubeterre und ist mit dieser durch ein unterirdisches Gangsystem verbunden. Es ist davon auszugehen, dass Burgherr Pierre II. de Castillon die Kirche zur Aufbewahrung der Passionsreliquien erbauen

ließ, die er vom zweiten Kreuzzug aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte. Über eine teilweise eingestürzte Vorhalle betritt man den Kirchenraum, der durch hoch aufragende monolithische Felsenpfeiler in ein Haupt– und ein Nebenschiff geteilt wird. Im Norden ist dem Kirchenraum eine geräumige Apsis angegliedert, in der sich eine zierliche zweigeschossige Heiliggrabädikula erhebt. Wie die gesamte Kirche ist auch die sechseckige Kleinarchitektur in Anspielung auf das Jerusalemer Felsengrab mitsamt seinen inneren Hohlräumen aus dem gewachsenen Gestein herausgearbeitet worden. Sie zeigt die typischen Erkennungsmerkmale einer topischen Nachahmung des Heiligen Grabes: Das Untergeschoss ist mit umlaufenden Blendarkaden geschmückt und birgt eine heue vermauerte Kammer, die man ursprünglich durch eine niedrige Tür betreten konnte und die möglicherweise die von Pierre de Castillon mitgebrachten Passionsreliquien enthielt. Der leicht zurückspringende offene Sechseckpavillon des Obergeschosses zitiert eindeutig das Jerusalemer Ziborium.

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Im Süden schließt sich an den Kirchenraum eine niedrigere und gröber gestaltete Höhle an. Sie enthält ein dicht mit monolithischen Troggräbern besiedeltes Gräberfeld, in dem Hunderte von Toten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben müssen. Das in zwei Etagen erst rund und dann kreuzförmig in den Boden eingetiefte Taufbecken in der Mitte des Kirchenraumes deutet jedoch darauf hin, dass die Felsenkirche nicht nur als GrabDie Heiliggrabädikula: Südansicht und Grundrisse.

stätte, sondern auch als Kultraum für eine Gemeinde, zumindest aber als Taufkirche genutzt wurde. Schon beim Eintritt in die christliche Kirche durch die Taufe – das Taufbecken ist daher sinnbildlich direkt hinter dem Eingang angeordnet – werden dem neuen Christen Auferstehung und ewiges Leben verheißen. Zur Veranschaulichung dieser Vorstellung stehen sich in Aubeterre Nekropole und Heiliges Grab im kontrapunktischen Raumgefüge gegenüber: dem Ort der Toten, die auf die Auferstehung hoffen, ist das Symbol der christlichen Erlösungsgewissheit entgegengesetzt.

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1 Blick von der Nekropole zum Heiligen Grab.

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2m


Das Urthema von Todesfurcht und Lebenshoffnung wird in der Kirche von Aubeterre nicht allein durch das räumliche Gegenüber von Gräberfeld und Heiliggrabkopie inszeniert. Bereits die unterirdische monolithische Höhlenwelt erweckt Assoziationen von Grab und Tod und erinnert zugleich an den christlichen Brauch der Katakombenbestattung. Obwohl er in Grund– und Aufriss andeutungsweise Architekturformen annimmt, verleugnet der Raum nicht seinen Höhlencharakter, sondern bleibt eine zwitterhafte Erscheinung zwischen Natur und Architektur. Als einziges plastisches Gebilde innerhalb der Negativarchitektur der Höhle wird allein die Heiliggrabädikula architektonisch nobilitiert. Mit ihrer sorgfältig bearbeiteten Oberfläche und der detaillierten architektonischen Gliederung steht sie als Sinnbild einer anderen Wirklichkeit in ihrer Umgebung. Die Inszenierung des architektonischen Gegensatzes von veredelter Kleinarchitektur und grober Schutzhülle, die so oft bei der Gestaltung des Heiliggrabtopos anzutreffen ist, wurde in Aubeterre ursprünglich durch eine Freskenbemalung der Ädikula noch verstärkt.

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10m

Heiliges Grab in den Externsteinen (Teutoburger Wald, um 1115). Drei Kammern sind als Nachbildung der Jerusalemer Passionsstätten in eine Gruppe isolierter Felsen geschlagen: eine hochgelegene Kapelle mit Altar evoziert die Höhe Golgatha, ein tiefergelegener Felsenraum dient als Kreuzkapelle. Das Heilige Grab ist in Form eines Arcosolgrabes in einen freistehenden Felsblock gemeißelt.

Heiliges Grab in Kastel (bei Saarburg; mittelalterlich, von Schinkel 1835 erweitert). Zwei entlang eines mittelalterlichen Pilgerweges in den Fels geschlagene Monolithkapellen, die wahrscheinlich eine Heiliggrabimitation darstellen, werden später von Schinkel durch eine Klause und eine Kapelle ergänzt.

Die der Kirche zugrunde liegende Konzeption kann man am besten von der höhergelegenen Empore aus erfassen, die an drei Seiten des Raumes umlaufend aus dem Fels geschlagen ist. Dieser erhöhte Standort erlaubt es, dass der Betrachter die Ädikula inmitten des riesigen Felsmassives noch zierlicher und fragiler wahrnimmt. Die Apsis war als einziger Teil des ursprünglich vollständig finsteren Kirchenraumes künstlich beleuchtet. Kleine quadratische Vertiefungen in der Apsiswand ermöglichten das Aufstellen von Kerzen oder Öllämpchen, um die Ädikula von allen Seiten anzuleuchten – die architektonische Versinnbildlichung des Lebenslichtes in der Grabesfinsternis der Nekropole.

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Das Heilige Grab in Eichstätt

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Die Heiliggrabädikula steht in einer Seitenkapelle der Eichstätter Kapuzinerkirche.

Das vor 1166 entstandene Heilige Grab in der Eichstätter Kapuzinerkirche ist die wohl authentischste aller mittelalterlichen Nachahmungen der Jerusalemer Grabesädikula und vermittelt einen weitgehend naturgetreuen Eindruck von deren Gestalt um die Mitte des 12. Jahrhunderts.

Der Bau gliedert sich wie das Vorbild in zwei Teile. Ein ovalzylindrischer, von einer romanischen Blendarkade umgebener Baukörper beherbergt im Inneren eine enge kubische Grabkammer. In dieser befindet sich rechts ein Bankgrab, durch dessen drei kreisrunde Öffnungen man sich von der Leere des Sarkophags überzeugen kann. Daran angeschlossen ist der kubische Baukörper, der die Vorkammer zum Grab enthält. In dieser sogenannten Engelskapelle hatte der Engel den drei Frauen bei ihrem Besuch am Grabe die Botschaft von der Auferstehung Christi verkündet: „Was suchet ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ (Lukas 24, 5-6). Auch der Stein, auf dem der Engel saß, ist in Eichstätt nachgebildet und steht als regelmäßiger Kubus in der Mitte der Vorkammer. Wie das Original weist auch die Engelskapelle der Eichstätter Kopie drei Türen auf: diese Anordnung erleichterte den Durchfluss der Pilgerströme, die die Kammer im Norden betraten und sie im Süden wieder verließen. Die Bekrönung des Grabes durch ein sechseckiges hölzernes Ziborium und die umlaufende Balustrade verweisen zwar ebenfalls auf das Jerusalemer Vorbild, sind jedoch neoromanische Zutaten des 19. Jh., vielleicht in Anlehnung an einen verlorenen Vorgänger.

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5m


Heiliges Grab: Grundriss.

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Der Bau des Heiligen Grabes kann in Zusammenhang mit der Beendigung des erfolglosen zweiten Kreuzzuges im Jahr 1149 gesehen werden. Das Grab war Teil der umfangreicheren Stiftung eines Hospitals für heimkehrende versehrte Kreuzfahrer durch den Dompropst Walbrun von Rieshofen. Diesem müssen, ob aus eigener Anschauung oder durch die Überlieferung eines Pilgers, die genauen Maße und eine ausführliche Baubeschreibung des Originalbaus vorgelegen haben, denn das Eichstätter Grab entspricht nicht nur in seiner Anordnung, sondern auch in den Dimensionen seiner inneren Hohlräume erstaunlich genau dem Vorbild. Hier wird wie sonst selten im Innenraum besonderer Wert gelegt auf die exakte räumliche Nachbildung des Ortes von Christi Grabesruhe und Auferstehung. Heiliggrabkapellen stellen zwar in vielen Fällen „metrische Reliquien“ dar, bei denen die Maße des Originals mit größter Sorgfalt auf den Nachbau übertragen werden, allerdings meist nicht wie hier in der originalen Maßeinheit sondern in rein numerischer Form. Durch die Maßübertragung erhoffte man sich einen ähnlichen Prozess der Heilsübertragung, wie man ihn bei sogenannten Berührungsreliquien durch den flüchtigen Kontakt mit einem Heiligtum zu erreichen suchte.

Ostansicht.

Längsschnitt durch Engelskapelle und Grabkammer.

Die Heiliggrabkopie stand ursprünglich inmitten einer als Zentralbau konzipierten Kapelle, die, wie man annehmen kann, ebenfalls eine getreue Kopie der Anastasisrotunde darstellte. So berichtet Hans Tucher, ein Nürnberger Jerusalempilger aus dem 15. Jh., von der Grabesrotunde in Jerusalem, sie sei „gleich in Größe und Weite als die Kirche zu Eystett vor der Stadt, zum heiligen Kreuz genannt“. Einer Restaurierungsanordnung von 1441 zufolge besaß die Kirche hölzerne Einbauten, die das Grab wahrscheinlich in Form einer an das Jerusalemer Original angelehnten umlaufenden Empore umgaben. Der Weihetitel „in honorem S. Crucis et S. Sepulchri“ bestätigt, dass in dieser Kirche außer dem Christusgrab auch das Heilige Kreuz in Form eines authentischen Kreuzpartikels verehrt wurde. Wie in der Jerusalemer Grabeskirche sind also auch in Eichstätt verschiedene Passionsheiligtümer in einem Bauwerk zusammengefasst.

5m

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Im Gegensatz zu der baufälligen Rotunde, die infolge der Verwüstung des Klosters durch die Truppen des Herzogs Moritz von Sachsen im Jahr 1610 abgerissen wurde, wurde das Heilige Grab mit aller Sorgfalt abgebaut und in allen seinen Einzelteilen bewahrt, wie es sich für einen reliquienhaft verehrten Gegenstand gehört. Jeder Stein des Quaderbaus aus weißem Juramarmor wurde numeriert und somit für den späteren Wiederaufbau vorbereitet. Das Neubauprojekt einer Rotunde, das der Augsburger Barockbaumeister Elias Holl vorlegte, wurde leider verworfen. Der Wiederaufbau des Heiligen Grabes erfolgte stattdessen in einer einfachen rechteckigen Kapelle, die eigens zu diesem Zweck an die Südseite des neuen längsgerichteten Kirchenbaus angefügt wurde.

Südansicht.

Querschnitt durch die Grabkammer.

Auch ohne die exponierte Lage in einer architektonisch auf den bedeutsamen Mittelpunkt bezogenen Rotunde steht das Eichstätter Grab unter den mittelalterlichen Heiliggrabnachbauten einzigartig da. Die kompakten, stereometrischen Formen der massiven Baukörper evozieren den monolithischen Charakter, den das aus dem Fels herausgemeißelte Christusgrab ursprünglich besessen haben mag, bevor es durch die zahllosen Veränderungen späterer Jahrhunderte verbaut wurde. Die Eichstätter Kopie führt den Besucher also durch ihre Materialität absichtlich zurück zum Urzustand des Grabes: es ist die beklemmende dunkle Felsengruft, in die sich der Besucher hier versetzt fühlen soll, um gleichzeitig am leeren Grab umso stärker die christliche Erlösungsgewissheit spüren zu können.

5m Querschnitt durch die Engelskapelle.

Heiliges Grab in San Vivaldo (San Vivaldo in Valdelsa, Italien; um 1500). Die Heiliggrabkapelle des Sacro Monte di San Vivaldo gibt ähnlich wie die Eichstätter Ädikula den mittelalterlichen Zustand des Originalbaus mit großem Anspruch auf Authentizität wieder.

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Das Heilige Grab in Konstanz

Rekonstruktion der Mauritiusrotunde.

Lageplan.

Nordöstlich des Chorabschlusses des Konstanzer Münsters liegt die Mauritiusrotunde. Sie birgt einen zwölfeckigen Heiliggrabpavillon aus Sandstein in sich, dessen von der französischen Hochgotik inspirierte Formen eine Entstehung zwischen 1250 und 1300 nahelegen. Die durch Biforienfenster und Maßwerk durchbrochenen Polygonseiten der Kleinarchitektur sind zweigeschossig gegliedert und setzen sich durch ihre wimpergartige Bekrönung über den Ansatz des Zeltdaches hinaus fort.

Mauritiusrotunde: Schnitt mit Ansicht des Heiligen Grabes.

N

5m Grundriss.

Die filigrane Ädikula steht allseitig frei in der Mitte der Rotunde, die der Konstanzer Bischof Konrad nach der Rückkehr von einer Jerusalemwallfahrt um das Jahr 940 nahe des Domes gestiftet hatte. Ursprünglich war der Bau durch ein einfaches hölzernes Dach gedeckt, erst um das Jahr 1300 wurden die Wände aufgestockt und ein neuer Raumabschluss mit einem baldachinartigen achtteiligen Kreuzrippengewölbe geschaffen. Die ehemals innerhalb des Domfriedhofs freistehende Rotunde war, wie Quellen und archäologische Untersuchungen belegen, als Kopie der Jerusalemer Anastasisrotunde geplant und wur-

de von Anfang an als architektonisches Behältnis für eine Heiliggrab-Nachbildung genutzt. Sie war dem Märtyrer Mauritius gewidmet, dem zu dieser Zeit äußerst populären ottonischen Reichspatron, den man als kämpferischen Anführer eines römischen Heeres christlicher Märtyrer verehrte und später zum Schirmherrn der Kreuzfahrer machte. Das Mauritiuspatrozinium stand zudem durch die übliche Gleichsetzung der Mauritiuslanze mit der Lanze des Longinus, die Christi Seite am Kreuz durchbohrt hatte, in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Thema von Passion und Auferstehung.

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Gleichzeitig mit der Heiliggrabkirche plante der Bischof auch seine eigene Begräbnisstätte zwischen der Westwand der Rotunde und dem nördlichen Vorraum der Domkrypta, die das Grab des in Konstanz verehrten Heiligen Pelagius für Pilger zugänglich machte. Er konnte so von einer zweifachen Übertragung der Heilswirkung auf seine Grabstätte profitieren: durch die Bestattung „ad sanctos“ in der Nachbarschaft des Heiligen und durch die Nähe des „nach dem Vorbild des jerusalemischen gemachte[n] Grab[es] des Herrn“, das er erbaut und „mit bewundernswerter Goldschmiedearbeit ringsherum geschmückt“ hatte, wie es seine Viten belegen.

Von der vorromanischen Heiliggrabkopie in der Mitte der Rotunde ist nur noch das Fundament unter der heutigen Ädikula nachweisbar, es ist aber wahrscheinlich, dass der gotische Neubau von seinem Vorgänger direkt inspiriert ist. Dieser bezog sich in seiner Gestalt auf den polygonalen Säulenbaldachin mit Zeltdach, der zur Zeit der Pilgerfahrten des Bischofs Konrad noch das Grab Christi umgab und dessen Form auf Pilgerflaschen und durch das Marmormodell in Narbonne vielfach überliefert ist. Die Konstanzer Kleinarchitektur war wohl mit Edelmetall geschmückt und lässt dadurch ihre Verwandtschaft zu liturgischen Hostienbehältern erkennen – eucharistischen Türmchen, wie sie seit dem frühen Christentum in Gebrauch waren und wegen ihrer Funktion als Behältnis für die Eucharistie als Nachbildungen des Heiligen Grabes verstanden wurden. Wie ein vergrößerter Hostienbehälter wirkt auch das gotische Zwölfeck, das gleichzeitig mit der Aufstockung und Einwölbung der vorromanischen Rotunde um 1300 datiert. Tatsächlich nahm die Ädikula einmal im Jahr den Leib Christi auf: zur Osterzeit wurde das Heilige Grab zur Kulisse der „visitatio sepulchri“, eines liturgischen Spiels, das die Passionsereignisse szenisch nachvollzieht. Die Hostie wurde dazu am Karfreitag in einem das Christusgrab evozierenden Behältnis sinnbildlich begraben (dispositio) und am Ostersonntag wieder emporgehoben (elevatio). Die HeiliggrabNachbildung wird so zum pastoralen Lehrbauwerk, das die Auferstehungsverheißung für die Gläubigen greifbar macht.

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1m Nordansicht der Heiliggrabädikula.


Die Funktion des Grabes als stoffliche Illustration des göttlichen Heilsplans wird auch durch das Figurenprogramm betont: Außen umgeben in Höhe der zweiten Wandzone einzeln stehende Konsolfiguren die Kleinarchitektur. Sie sind durch ihre Blickrichtungen zu szenischen Gruppen kombiniert, die Verkündigung an Maria, Heimsuchung, Geburt Jesu, Verkündigung an die Hirten und Anbetung der Könige darstellen. Innen im Halbdunkel der Ädikula sind Szenen der Geschehnisse am Ostermorgen angebracht: die drei Marien kaufen Salben beim Apotheker Hippokras und besuchen das Grab Christi, vor welchem ihnen der Engel die Auferstehung des Herrn verkündet, während die drei Wächter in tiefen Schlaf gesunken sind.

Schnitt. Bekrönt wird das Grab durch die Skulpturen der zwölf Apostel samt ihren Attributen und Spruchbändern, die in exemplarischer Verkürzung das Glaubensbekenntnis zitieren. Mit radial nach außen gerichtetem Blick stehen sie, die Zeugen des eucharistischen Mysteriums, zeichenhaft für die Verbreitung der österlichen Erlösungshoffnung in alle Himmelsrichtungen. Die Auferstehungsszene im Inneren wird demnach von der Weihnachtsgeschichte eingehüllt und durch die Versammlung der Apostel bekrönt. Der Gesamtkontext des Heilsplanes von der Heilsverkündung bis zur Verbreitung der Heilsgewissheit in alle Welt wird in dieser Ikonographie deutlich, die den architektonischen Sinngehalt der Heiliggrabkopie bildhaft untermauert.

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1m

Grundriss.

Das Heilige Grab im Dom zu Aquileia (bei Udine, Italien; vor 1088). Eine zentralbauförmige Heiliggrabkopie mit einem hölzernen Zeltdach, das auf dreizehn Säulen ruht, ist auch in das nördliche Seitenschiff des Domes von Aquileia eingestellt.

Das Konstanzer Architekturensemble zitiert auf mehrfache Weise das Jerusalemer Original: Hier wird bereits im Ursprungsbau das architektonische Prinzip der Ineinanderschachtelung von preziöser Kleinarchitektur und schützender Raumhülle wiederholt. Architektonische Bezüge zur Anastasis bestehen auch in der Rotundenform der umgebenden Raumschale, die sich zudem ähnlich wie die Jerusalemer Rotunde in drei Anräume öffnet. Orientalisierende Stilzitate sollen auf die Herkunft des Vorbildes aus dem Heiligen Land verweisen: die Palmwedel, die anstelle der üblichen Kreuzblumen die gotischen Wimperge bekrönen, sind als botanische Attribute des Morgenlandes zu deuten, ebenso wie der konkave Schwung, in den die Haube ausläuft, orientalische Architekturformen heraufbeschwört. Die Gesamtkonzeption scheint schließlich dem Bautyp der Türbe entliehen, dem zentralbauförmigen Grabturm orientalischer Würdenträger, in dessen Mitte ein hölzerner Kenotaph dem Totengedenken dient.

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Das Heilige Grab in der Cappella Rucellai, Florenz

N

Lage der Cappella Rucellai nördlich des Portals der Kirche San Pancrazio. An die Südseite der Kirche schließt der Palazzo Rucellai an.

Der in eine Seitenkapelle der Kirche San Pancrazio eingestellte miniaturhafte Tempietto des Heiligen Grabes in Florenz ist eine antikisierende Idealrekonstruktion der Jerusalemer Heiliggrabädikula. Der Florentiner Kaufmann Giovanni Rucellai hat ihn laut Inschrift im Jahre 1467 von Leon Battista Alberti in architektonischem Zusammenhang mit seinem Palastkomplex errichten lassen.

5m Capella Rucellai: Querschnitt.

N

Die Florentiner Heiliggrabkopie ist nicht als wörtlicher Nachbau zu verstehen, sondern als eine selbstbewusste zitathafte Neuschöpfung, die bestimmte, für eine Wiedererkennung des Heiliggrabtopos relevante Merkmale des Originals variiert und neu interpretiert. So sind hier alle wichtigen Erkennungszeichen einer Heiliggrabkopie vorhanden, allerdings in freier Nachahmung und in der Formensprache der Florentiner Frührenaissance. Wie in Jerusalem steht der Tempietto in einer genau auf ihn berechneten Raumhülle – dort als Vieleck im Zentrum einer überkuppelten Rotunde, hier als apsidial gerichtetes Rechteck in der Achse eines tonnengewölbten Längsraumes. Die an den kubischen Baukörper angebau-

Grundriss.

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te Scheinapsis imitiert den polygonalen Abschluß der Jerusalemer Ädikula. Innen birgt der Tempietto die enge, nur durch eine Kriechtür begehbare Grabkammer mit dem Christusgrab. Auf dem Dach erhebt sich ein hölzernes Ziborium mit orientalisierender Riffelkuppel, das man sich in seiner ursprünglichen Position über der kreisrunden Deckenöffnung der Grabkammer denken muss. Als Baldachin über dieser kaminartigen Öffnung, durch die das österliche Licht in das Grabesdunkel hinabsteigt, steht das Ziborium zeichenhaft für die Auferstehung Christi am dritten Tag der Grabesruhe; praktisch dient es als Abzugsöffnung für den Kerzenrauch.

Heiliges Grab: Querschnitt.

Das Ziborium.

Außen zitiert die umlaufende Pilastergliederung und das aufliegende klassische Gebälk die mittelalterlichen Blendarkaden des Originals in antikisierender Formensprache. Die Inkrustation des Grabes mit dreifarbigem Marmor, die feine geometrische Ornamentik der im Mittelpunkt der quadratischen Marmortafeln eingelassenen Rosetten sowie der hohe bekrönende Lilienfries verleihen dem Gebäude die Exklusivität einer wertvollen Schreinarchitektur.

1m

N

Westansicht.

Die Cappella Rucellai öffnete sich ursprünglich zum Kirchenschiff und konnte durch eine Tür in der Westwand erschlossen werden.

1m

Grundriss.

Der umgebende Kapellenraum wiederholt zwar die Wandgliederung durch kannelierte Pilaster und nimmt damit wie durch die geometrische Gestaltung des Bodens auf die Kleinarchitektur in seiner Mitte Bezug. Seine untergeordnete Stellung als schützendes, „dienendes“ Behältnis wird jedoch schon durch die einfachere Materialwahl deutlich. Die Pilaster aus Pietra Serena spannen völlig leer belassene, hell verputzte Flächen zwischen sich auf und verleihen der Kapelle den typischen, fast asketischen Charakter der Räume des frühen Quattrocento. Erst durch einen Umbau wurde die schon im 14. Jh. errichtete Kapelle zur Aufnahme des preziösen Marmorgrabes hergerichtet und in der Proportion mit Breite, Länge und Höhe an dieses angepasst. Nach Albertis ursprünglichem Konzept war die Längsseite der Kapelle zur Kirche hin geöffnet, indem die aufgehende Kirchenwand durch einen klassisch ausgebildeten Architrav über zwei freistehenden Säulen abgefangen wurde. Diese Anordnung ermöglichte es der Familie Rucellai, von einer unmittelbar aus ihrem Familienpalast zugänglichen erhöhten Empore in der Kirchensüdwand die Messe am Altar der Heiliggrabkapelle zu verfolgen.

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Unklar ist immer noch der Bauanlass des Florentiner Tempiettos, der als Nachbau des Christusgrabes einem durch und durch mittelalterlichen, auf dem Boden der Florentiner Frührenaissance anachronistisch wirkenden Bautypus angehört. Die Kleinarchitektur steht über der Gruft des Giovanni Rucellai, dient also in erster Funktion als Familiengrablege. Im Kontext der humanistischen Grabmonumente der Mitte des Quattrocento nimmt das Grabmal der Rucellai allerdings eine Sonderstellung ein, da es als freistehende Grabkapelle vom zeitgenössischen Typus des Arcosol-Wandgrabes abweicht und ihm noch dazu jegliche Porträtplastik zu Ehren des Verstorbenen fehlt. Die bereits 1440 in Quellen bezeugte Absicht, einen Nachbau des Heiligen Grabes zu errichten, scheint denn auch darauf hinzudeuten, dass der Tempietto zu einem ganz anderen Zweck geplant und erst später in die Familienkapelle der Rucellai versetzt wurde.

1m

Nordansicht.

Möglicherweise sollte sich das Projekt einer Heiliggrabkopie in ein größeres architektonisches Programm einfügen, das mit dem großen Unionskonzil von 1439 einhergeht, einberufen mit dem Ziel, die christlichen Kirchen in Rom und Konstantinopel unter dem Eindruck der nach Europa vorrückenden Türken zu vereinigen. Die Expansion des Islam bewirkte neben der Annäherung der beiden christlichen Kirchen auch ein Wiederaufflammen des Kreuzzugsgedankens in der Mitte des 15. Jh. und schaffte damit ein geistiges Klima, in dem das Projekt eines Heiliggrab-Nachbaus durchaus nicht fremd erscheint. Alberti, der in Rom, Bologna oder auch auf seinen Reisen in Nordeuropa mit dem Baugedanken der mittelalterlichen Heiliggrabimitationen in Berührung gekommen sein muss, bietet sich als Ideengeber für ein solches ehrgeiziges architektonisches Projekt an; Giovanni Rucellai spielte vielleicht nur die Rolle des Finanziers, der das Konzil mitsamt dem päpstlichen Hof im Kloster und in seiner Quartierskirche Santa Maria Novella beherbergte. Kirchenfassade und Heiliges Grab weisen eine erstaunliche formale Ähnlichkeit auf und gehörten vielleicht demselben architektonischen Programm an, mit dem man die Rolle der Stadt Florenz als Förderer des Konzils herausstellen wollte: die Präsenz des Heiligen Grabes hätte Florenz zum „neuen Jerusalem“, zur führenden Stadt Italiens unter dem Aspekt der christlichen Erneuerung und Führung gemacht.

0,5 m

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0,5 m


Die Jeruzalemkerk in Brügge

Jerusalemansicht (Flandern 1455). Jeruzalemkerk in Brügge: Turmaufsatz mit offener Galerie.

Bartholomäus van Eyck: Ansicht des Felsendoms aus dem Stundenbuch des René d'Anjou etwa 1440.

Eine ganz persönliche und insofern einzigartige Erinnerungsarchitektur stellt die Jeruzalemkerk in Brügge dar, die zwischen 1471 und 1485 entstand. Zwei Brügger Kaufleute aus dem Hause Adornes konzipierten den Baukomplex als freie Nachbildung der Grabeskirche, in der sie dem spirituellen Erlebnis ihrer Pilgerreise zum Heiligen Grab Dauer verliehen.

Jerusalemansicht von Reuwich (1483).

Die Jeruzalemkerk: Längsschnitt.

Grundriss Turmgeschoss.

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10m Grundriss Erdgeschoss mit Krypta.

Dominierender Teil der Kirche ist der mächtige polygonale Turm. Er erhebt sich über einem erhöhten Chor und einer flach gewölbten Krypta, an die außen eine winzige Heiliggrabkapelle angebaut ist. Dem Turm ist im Süden in gleicher Breite ein rechteckiges Kirchenschiff angeschlossen, dessen Mitte das Stiftergrab auf seinem hohen Sockel einnimmt. Der im unteren Bereich massive rechteckige Turm wird auf halber Höhe durch Trompen zum Achteck überführt und löst sich im oberen Bereich in großen spitzbogigen Fensteröffnungen fast völlig auf. Der Turm wird von einer ungewöhnlichen hölzernen Miniaturarchitektur bekrönt: hoch über den Dächern der Stadt erhebt sich auf einer umlaufenden Galerie ein architektonisches Gebilde, das die orientalisierenden Architekturphantasien ins Gedächtnis ruft, die den flämischen Malern als Jerusalemabbreviaturen dienten. Der zweigeschossige achteckige Pavillon trägt an seinem oberen Abschluss eine Metallkugel und verweist eindeutig und von weither sichtbar auf das Heilige Land. Die exotischen Minarettbekrönungen auf der zeitgenössischen Jerusalemansicht von Reuwich scheinen hier nachgebaut zu sein. An orientalische Architekturen erinnern auch die verschließbaren hölzernen Fensteröffnungen des Turmaufsatzes, der wie ein Belvedere betreten werden kann. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann das kuppelbekrönte Oktogon auch als Miniatur des Jerusalemer Felsendoms gedeutet werden, der hoch über der Stadt auf dem Plateau des Tempelbergs thront und damit als das von jeher wohl prominenteste Architektursymbol zeichenhaft für die Heilige Stadt steht.

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Der exotischen Dominante des Turmes ist als Versammlungsraum der Gemeinde im Süden ein schlichter holzgewölbter, mit einem einfachen Satteldach gedeckter Saalbau vorgelagert. Die Liegefiguren des Stiftergrabes in seiner Mitte richten den Blick nach Norden, wo sich vor der Abschlusswand der ebenerdig gelegenen Krypta ein künstlicher Felsen erhebt, von drei Kreuzen aus Blaustein überragt und mit den Werkzeugen der Passion geschmückt. Über dieser freien Nachbildung des Golgathafelsens lässt eine triumphbogenartige Öffnung den Blick auf den erhöhten Chor frei, welchen man vom Kirchenschiff durch zwei geradläufige Treppen an den Außenwänden erreicht.

Details der Chorschranke.

Unter den Treppen versteckt befinden sich die Zugänge, die die Krypta und das Heilige Grab erschließen. Erst 1523 wurde dieses in den Kapellenanbau transloziert, nachdem die Jerusalembruderschaft das Bestattungsrecht in der Krypta erworben hatte und dort Raum für ihre Gruft schaffen musste. Der Innenraum des heutigen Grabes mit dem Bankgrab auf der rechten Seite hat wohl dem Inneren eines zwölfeckigen Pavillons entsprochen, der einst inmitten der Krypta im Sockel des Turmes frei aufgebaut war. Während die ursprüngliche Gesamtgestalt der Heiliggrabkopie heute nicht mehr nachvollziehbar ist, sind Raumeindruck und Atmosphäre der Grabkammer in möglichst authentischer Gestalt erhalten worden. Die innerhalb eines einheitlichen Baukomplexes realisierte Kombination aus Längsbau (Kirchenschiff) und Zentralbau (Turm) mit den Nachbildungen Golgathas und des Heiligen Grabes ruft die Erinnerung an das Ensemble der Jerusalemer Grabeskirche wach: die Basilika als Ort der Eucharistiefeier und die Anastasisrotunde als eigentlicher Memorialbau über dem Heiligen Grab sind auch beim Original in architektonischer Steigerung hintereinandergestellt, die Golgathakapelle liegt auch in Jerusalem zwischen diesen beiden Bauteilen. Die Züge einer ganz persönlichen Erinnerungsarchitektur erhält die Jeruzalemkerk insbesondere durch die spektakuläre Inszenierung der Kreuzesgruppe, die sich auf dem nachgebildeten Golgathafelsen erhebt. Das Ensemble des Kalvarienbergs und der dahintergelegenen gitterartigen Brüstung erinnert zunächst an den gebräuchlichen Typus mittelalterlicher Lettneranlagen. Diese spielten mit ihrem zweigeschossigen Aufbau und ihrer bekrönenden Kreuzigungsgruppe vielfach auf die doppelgeschossige Struktur der Jerusalemer Golgathakapelle an.

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5m Querschnitt.

1m Golgathafelsen.


Das ungewöhnliche und wohl nur im Kontext der Erinnerungsarchitektur nachzuvollziehende Baukonzept der Kirche erschließt sich jedoch am eindrucksvollsten, wenn das eindringende Sonnenlicht die raffinierte Lichtregie des Baus offenbart: aus dem schwach beleuchteten Kirchenraum blickt der Besucher auf den Kalvarienberg, der durch das von oben in den Turm flutende Licht grell hinterstrahlt wird. Die hochliegende Lichtquelle ist nicht sichtbar, umso eindrucksvoller ist die Inszenierung der drei bedrohlich dunklen Kreuze vor dem hell erleuchteten Hintergrund.

Die pointierte Gegenüberstellung von gedrungener, dunkler Krypta und lichtdurchflutetem aufstrebendem Turm ist eine theatralische Inszenierung der christlichen Erlösungshoffnung im Angesicht des Todes. Im Untergeschoss stehen die Zeugnisse des Leidens und des Todes: vorn zur Kirche hin der Kalvarienberg und dahinter, wohl ursprünglich als freistehende Kleinarchitektur im Dunkel der Krypta verborgen, das Heilige Grab. Über diesem erhebt sich, gleich einem überdimensionalen Ziborium, der in den Himmel strebende Turm als zeichenhafter Verweis auf die immaterielle jenseitige Welt. Diese bildhafte Inszenierung des Ausspruchs Jesu: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen“ (Johannes 12, 32) stellte nicht nur eine mystische Erinnerung, sondern eine reale Hoffnungsperspektive für die Stifter dar, denen die Kirche als Familiengrablege diente.

5m

Das Privatoratorium der Adornes in der Ostwand des Turmes.

Ostansicht.

Die Jeruzalemkerk weist ein weiteres architektonisches Kuriosum auf: Die Kirche ist durch einen gedeckten Gang mit dem benachbarten Wohnhaus der Adornes verbunden. Am Ende dieses Ganges kann man, bevor man in den Chorbereich des Turmes gelangt, in ein kleines Privatoratorium eintreten, das in der Stärke der Wand verborgen liegt und nur nach außen etwas über die Flucht der Kirchenwand vorkragt. Ein schmaler Gang führt in eine winzige achteckige Kapelle, gerade groß genug für einen Betenden. Von hier aus konnte dieser durch ein Fensterchen die Messe am Altar des Chores mitverfolgen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Ein schmaler rechteckiger Sehschlitz, in der Laibung der rechten Lettnertür nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, ermöglichte auch den Blick hinunter auf den Kalvarienberg und die im Kirchenschiff versammelte Gemeinde.

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Das Heilige Grab in der Augsburger Annakirche

N Lageplan der Heiliggrabkapelle in der Augsburger Annakirche.

Das Heilige Grab in der Augsburger Annakirche beschränkt sich ausschnitthaft auf die Imitation der Jerusalemer Grabesädikula, alle anderen Elemente des Vorbildes sind weggelassen. Auffälligstes Element des Baus ist sein bekrönendes Ziborium: Sechs Zwillingssäulchen tragen eine ungewöhnliche turbanförmige Riffelkuppel über einem weit ausladenden dreifachen Gesims. Dieser Aufsatz ist im Verhältnis zum Unterbau in überproportionalen Ausmaßen gehalten und bildet so das eigentliche formale Erkennungszeichen der Heiliggrabkopie, dem gegenüber der Unterbau zum Sockel degradiert scheint. Wie ein nobilitierender Baldachin markiert das in den Himmel strebende Ziborium den Ort der Auferstehung und evoziert das Vorbild im Heiligen Land durch seine orientalisierende Formensprache.

Heiliges Grab: Nordansicht. Das Jerusalemer Original wird außer durch die aufwändige Inszenierung des Ziboriums in Augsburg sehr verkürzt zitiert: auf die Nachbildung der exakten Raumanordnung mit der vorgelagerten Engelskapelle ist verzichtet worden. Der auf unregelmäßig ovalem Grundriss errichtete einfache Unterbau beherbergt im Inneren lediglich eine tonnengewölbte Grabkammer mit einem schlichten Grabtrog auf der rechten Seite und einer kleinen Sakramentsnische in der Stirnwand. Nur die zehnteilige Blendarkade, die den Unterbau umgibt, ist als weiteres wörtliches Zitat zu werten.

N 1m Grundriss.

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Stifter der Ädikula und der umgebenden Kapelle am nördlichen Seitenschiff der Kirche war das Ehepaar Georg und Barbara Regel, geb. Lauginger. Die Stiftungsurkunde von 1508 gibt Auskunft über „aine überköstlich grab, die begrebnuss unsers lieben Herrn Ihesu Christi, in mass und form, wie es zu Iherusalem sein solle“. Über die Motivation der Stiftung ist wenig bekannt. Sie sollte als Erbbegräbnis der Familie dienen und steht damit in jedem Fall in der Tradition der Grabkapellen, die durch die architektonische Nachbildung des Erlösergrabes die Heilswirkung einer authentischen Reliquie für die Stifter und ihre Nachkommen erwirken sollten. Der unbekannte Baumeister des Augsburger Grabes muss für den Unterbau, der bereits vor 1506 fertiggestellt war, noch die mittelalterliche Gestalt der Jerusalemer Ädikula zum Vorbild genommen haben. Das Ziborium kann jedoch erst nach 1555 entstanden sein: In diesem Jahr wurde das Jerusalemer Vorbild nach jahrhundertelangem Verfall unter muslimischer Herrschaft durch Bonifatius von Ragusa grundlegend erneuert und bekam einen neuen baldachinartigen Aufsatz, der das mittelalterliche Ziborium um mehrere Meter überragte.

Längsschnitt und Grundriss der Kapelle.

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2m

Aus der Autobiographie des Augsburger Barockbaumeisters Elias Holl erfährt man, dass der Umbau des Augsburger Grabes im Zusammenhang mit der Jerusalemfahrt eines Laugingerschen Familienmitgliedes unternommen wurde, wahrscheinlich mit dem ausdrücklichen Ziel, das Familiengrab durch die formale Aktualisierung am Original in seiner Heilswirkung zu erneuern. Holl berichtet, sein Vater Johann habe 1590 „dem Herrn Langauer (Lauginger) in der Kirche bei St. Anna gleich bei dem Fuggerschen Chor eine schöne Capelle in Form und Größe wie das Heilige Grab zu Jerusalem erbaut, dann dieser Herr in Jerusalem bei dem Heiligen Grab selbst gewest“. Der umfassende Umbau von Ädikula und Kapelle muss demnach den Charakter eines Neubaus gehabt haben, bei dem nicht nur das Ziborium erneuert wurde, sondern auch die umgebende Kapelle „barockisiert“ und mit einem Hängegewölbe versehen wurde.

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Die annähernd rechteckige Kapelle, die die Heiliggrabkopie beherbergt, wird durch ein sechsteiliges Gitter abgeschlossen, das dem Ursprungsprojekt angehört. Sie kann durch zwei Türen betreten werden, wovon sich eine direkt auf den Altar hin öffnet, der ursprünglich wohl an der Ostwand der Kapelle stand. Heute wird eine Treppe an der Ostwand durch die Kapelle geführt, die nicht zur originalen Konzeption gehört, sondern um 1830 zur Erschließung der Kirchenempore errichtet wurde.

Westansicht und Querschnitt.

Dachaufsicht.

1

In einem weiten Bogen öffnet sich die Kapelle zur monumentalen Grabkapelle der Fugger im Westchor der Annakirche. Der räumliche Bezug zwischen dem vor 1518 erbauten RenaissanceGrabchor und der Heiliggrabimitation scheint ausdrücklich gewünscht gewesen zu sein. Auch das Fuggersche Grabdenkmal, das schon ganz humanistischem Gedankengut verpflichtet ist, sucht demnach die Nähe zu dem in mittelalterlichen Heilsvorstellungen verankerten, reliquienhaft verehrten Christusgrab.

2m

Die Stiftungsurkunde bestätigt, dass die Kapelle nicht nur als Grabkapelle dienen sollte, sondern darüber hinaus mit Altar und Sitzbänken ausgestattet war. Die Stifter hatten bestimmt, dass die Passion hier am Grab in monatlichen Zyklen liturgisch nachvollzogen werden solle. Nicht das szenische Nachspiel von „dispositio“ und „elevatio“ ist hier gemeint, sondern die fortlaufende Lesung der Passion an jedem Freitag, abwechselnd aus den vier Evangelien. Zudem sollte sich der Chor der Mönche täglich in Prozession singend in die Kapelle begeben und bei Anbruch der Dunkelheit das Tenebrae factae sunt singen, begleitet von Glockengeläut und vielleicht, wie in der Karliturgie üblich, vom langsamen Erlöschen der Kerzen, die auf das Gitter aufgesteckt wurden.

Ansicht der Heiliggrabkapelle vom Fuggerchor aus.

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Der Garten des Heiligen Grabes in Görlitz Die Görlitzer Passionslandschaft in einem Stich von 1670. Rechts die Petrikirche, deren Portal als „Haus des Pilatus“ gilt. Von dort führt die Via Dolorosa aus der Stadt hinaus in die offene Landschaft. Sie endet in einem mauerumgrenzten Garten, in dem die Golgathakapelle, das Salbhaus und die Ädikula des Heiligen Grabes als architektonische Nachbildungen zusammengefasst sind. Im Hintergrund rechts in topographischer Entsprechung zu den Jerusalemer Verhältnissen der zum Kidron erklärte Lunitzbach, der „Ölberg“ und die Wiese, auf der die Jünger schliefen, während Jesus Blut und Wasser schwitzte.

Kustodenhaus Heiliges Grab Salbhaus

Adams- und Kreuzkapelle

Gesamtanlage: Lageplan und Schnitt.

Das Heilige Grab in Görlitz ist Teil einer unter freiem Himmel inmitten eines Gartens angelegten Memorialanlage, die die wichtigsten Stätten der Passion Christi als Kopie nachbildet. Anders als bei den meisten topischen Nachahmungen des Heiligen Grabes ist die Grabesädikula hier nicht als Kleinarchitektur in einen Innenraum eingestellt, sondern ist als freistehendes Einzelbauwerk Teil eines Architekturensembles, das die Passionslandschaften der italienischen „Sacri Monti“ des 16. Jahrhunderts vorwegzunehmen scheint.

Heiliges Grab.

Heilig-Kreuz-Kapelle.

Die Konzeption der Anlage ist dem Görlitzer Bürger und späteren Bürgermeister Georg Emmerich zu verdanken, der im Jahr 1465 nach seiner Rückkehr von einer Pilgerreise in das Heilige Land mit der Stiftung einer ersten Kapelle zum Heiligen Kreuz den Grundstein legte. Später wurde sie um das Heilige Grab (1500), eine zweigeschossige Heilig-KreuzKapelle (1480-98) und ein Salbhaus erweitert.

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2m Heiliges Grab: Ostansicht

Auf einem Hügel nordwestlich des historischen Stadtzentrums von Görlitz gelegen bildet der Garten des Heiligen Grabes den Abschluss eines vom Portalbau der städtischen Petrikirche ausgehenden Kreuzweges. Nicht nur auf die in der Jerusalemer Grabeskirche zusammengefassten Orte des Leidensweges wird hier verwiesen, sondern die gesamte Stadt Görlitz wird durch die Jerusalemer Passionstopographie überlagert. Vom Portal der Petrikirche ausgehend, das als Richthaus des Pilatus aufgefasst wird, führt eine Via Dolorosa durch die Nikolaivorstadt bis zum Garten des Heiligen Grabes. Natürliche topographische Begebenheiten wie der hinter dem Garten fließende Lunitzbach und die nördlich davon gelegene Anhöhe werden als „Kidronfluss“ und „Ölberg“ zu Stellvertretern der heiligen Landschaft um Jerusalem.

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Im Görlitzer Garten liegen die Kleinarchitekturen in gleicher Anordnung und Entfernung wie im Innenraum der Grabeskirche zu Jerusalem, wenn auch spiegelverkehrt und in den Himmelsrichtungen um etwa 90° verdreht. Am Kustodenhaus vorbei erreicht man zuerst die in der Typologie doppelgeschossiger Karnerkapellen angelegte Heilig-Kreuz-Kapelle. Das übliche architektonische Schema des FriedhofsKarners – im Untergeschoss das Beinhaus, darüber eine Kapelle für die Totenmessen – wird hier programmatisch umgedeutet und macht die Heilig-Kreuz-Kapelle zu einer Lehrarchitektur, die in pastoraler Absicht Christi Erlösungswerk in Szene setzt. Wie in der Jerusalemer Grabeskirche sind hier Adams- und Golgathakapelle übereinander angeordnet, eine Konzeption, die aus der Legende erwächst, das Kreuz Christi auf Golgatha habe auf dem Grab Adams gestanden. In dieser Übereinanderordnung wird die Überwindung der menschlichen Sünde durch das göttliche Erlösungswerk, das allen Christen die Auferstehung von den Toten verheißt, architektonisch sinnfällig gemacht.

Heilig-Kreuz-Kapelle: Schnitt.

Golgathakapelle.

Adamskapelle.

Die Golgathakapelle im Obergeschoss.

Die Architektur der kryptenhaft niedrigen, von einem flachen Netzrippengewölbe überspannten Adamskapelle im Sockel des Görlitzer Nachbaus erweckt entsprechende Assoziationen von Tod und Grab. Im Norden, unter der zur Oberkapelle hinaufführenden Treppe, ist ein kleiner Nebenraum in die Wandstärke eingetieft, der vielfach als das Gefängnis Jesu in der Nacht des Verhörs angesehen wird, aber auch das Adamsgrab enthalten haben könnte.

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Der innerhalb der Jerusalemer Grabeskirche real anstehende, von der Golgathakapelle überbaute Fels, der die drei Kreuze des Kalvarienberges getragen haben soll, ist in der Görlitzer Oberkapelle durch eine Steinschwelle nachgebildet. Drei Löcher in der Schwelle markieren den Standort der Kreuze Christi und der beiden Schächer zu seinen Seiten.

5m Die Adamskapelle im Erdgeschoss.


Im Aufriss ist der künstliche Riss zu erkennen, der das gesamte steinsichtige Mauerwerk der Ostwand von der Kreuzigungsstelle ausgehend bis hinunter in die Adamskapelle durchzieht. Als Nachbildung des gespaltenen Felsens von Golgatha, der in das Mauerwerk der Jerusalemer Grabeskirche einbezogen wurde, soll der Riss an die Ereignisse in Jesu Todesstunde erinnern: „Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten. Und die Erde erbebte, und die Felsen spalteten sich, und die Gräber taten sich auf“ (Matthäus 27, 51).

Heiliges Grab: Südansicht.

Die unvollendeten Pilaster an der Außenfassade und die asymmetrischen Netzgewölbe der Golgathakapelle.

Auffällig ist, dass die Görlitzer Heilig-KreuzKapelle über die klaffende Fuge in der Wand hinaus an mehreren Stellen unvollendet oder in ihrer Geometrie unvollkommen erscheint. So wird durch das Einschneiden der Treppe das Grundrissquadrat gebrochen, das Dach verzogen und vor allem im Inneren die Symmetrie des Netzgewölbes gestört, die Wände sind zudem mit unvollendeten Pilastern gegliedert. Auch hier ist das Thema, das durch diese absichtlich gestörte Perfektion in einer Art von „spätgotischem Manierismus“ formuliert ist, die Unvollendung der erlösungsbedürftigen Welt, die erst durch Christi Erlösungswerk Vollkommenheit erlangen kann.

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Grundriss.

Sacro Monte di San Vivaldo (San Vivaldo in Valdelsa, Italien; um 1500). Wie der wenige Jahre früher entstandene Sacro Monte di Varallo bei Mailand sind in San Vivaldo die Stationen des Jerusalemer Kreuzweges in Form von kleinen begehbaren Kapellen unter freiem Himmel nachgebaut. Lage und Entfernung der Kapellen untereinander nehmen Bezug auf die Jerusalemer Anordnung.

Am Salbstein vorbei, der in Görlitz unter einer kleinen spätgotischen Architektur als Wetterdach Schutz findet, erreicht die Prozession den Endpunkt der Via Dolorosa wie in Jerusalem am Heiligen Grab. Der Görlitzer Grabbau hat verblüffende Ähnlichkeit mit den bildlichen Überlieferungen der Gestalt der Jerusalemer Ädikula Ende des 15. Jh., besonders in der Form des bekrönenden sechseckigen Säulenpavillons mit seinem orientalisierend wirkenden, dreifach gestaffelten Spitzbogenfries. Es beherbergt wie alle Kopien, die Wert auf eine exakte Nachbildung der Jerusalemer Örtlichkeiten legen, hintereinander die Engelskapelle in einem kubischen Bauteil und die Grabkammer in einem abgerundeten Baukörper, der von Blendarkaden geschmückt ist. Die Engelskapelle fällt recht geräumig aus und lässt eine besondere liturgische Nutzung während der Osterprozession vermuten. Die Frontfassade der Grabkapelle wird von zwei parallel liegenden Quadersteinen gerahmt, die als die „Wächtersteine“ gedeutet werden, auf denen die Kriegsknechte des Pilatus schliefen, als Jesus aus dem Grab auferstand.

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Räsonierende Bibliographie Gesamtdarstellungen Das Thema der „Jerusalemskirchen“ ist bisher nicht systematisch in einer vergleichenden architekturhistorischen Betrachtung behandelt worden. Die bisher veröffentlichte Literatur, die sich mit dem Gesamtkomplex der Heiliggrabimitationen befaßt, ist als Grundlage anregend und wertvoll, da sie aufwendige Sammelarbeit geleistet hat. Sie behandelt aber meistens Einzelaspekte oder stellt einen summarischen Überblick über das Thema dar, ohne Anspruch auf dokumentarische Genauigkeit im Sinne exakter Bauforschung zu erheben. Das Phänomen der Heiliggrabkopien wird dabei größtenteils ikonologisch oder religionswissenschaftlich betrachtet. Das systematischste Werk zur Heiliggrabthematik bleibt die Arbeit von Gustav Dalman: Das Grab Christi in Deutschland. Leipzig 1922, das etwa fünfzig Heiliggrabkopien aus dem deutschen Raum beschreibt, historisch einordnet und in einigen Fällen durch Aufmaßskizzen dokumentiert. Eine erste zusammenführende Betrachtung des Phänomens der Nachbauten des Heiligen Grabes in Jerusalem ist hiermit geleistet, doch bleibt ihre bauhistorische Dokumentation sowie eine Einordnung in das gesamteuropäische Kulturerbe als Desiderat bestehen. Das Phänomen der Kopie in der mittelalterlichen Architekturauffassung thematisiert Richard Krautheimer: Introduction to an iconography of mediaeval architecture (In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 5. London 1942). Krautheimer beschreibt am Beispiel der Heiligen Gräber die besondere Beziehung von Zitatarchitekturen des Mittelalters zu ihrem Original, die durch die selektive Übertragung von architektonischen Formen und Maßanalogien gekennzeichnet ist: die Formen und Maße des Originals werden nur insofern auf die Kopie übertragen, als sie Träger von Assoziationen zur Bedeutung des Vorbildes sind. Einen recht ausführlichen Überblick über die verschiedenen Bauanlässe und Bedeutungen der Heiliggrabkopien des Mittelalters gibt Geneviève Bresc-Bautier: Les imitations du SaintSépulcre de Jérusalem (IX.e – XIV.e siècles) (In: Revue d’histoire de la spirtualité, 1974). Anhand einer stark erweiterten Heiliggrabliste beginnt sie mit einer typologischen Klassifizierung, in der sie zunächst zwischen Kopien der Anastasis und Kopien des Heiligen Grabes unterscheidet und darüber hinaus eine weitere Einteilung in Grundrisstypen vornimmt. Die bauhistorische Genese des Ursprungsbaus in Jerusalem formuliert Jürgen Krüger: Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung. Regensburg 2000 in großer Anschaulichkeit. Dabei wird anhand historischer Schrift- und Bildquellen zum Heiligen Grab in Jerusalem die mehrmalige Umformung der Ädikula deutlich, während die europäischen Jerusalemsbauten als Zeugnisse ihrer mittelalterlichen Baugestalt fungieren. Zentralbauförmige Heiliggrabkopien Diese wichtigsten Arbeiten zu dem Komplex der Heiliggrabkopien werden durch summarische Überblicke, die das Thema zum Teil in übergeordnete Zusammenhänge stellen, ergänzt. Eine Darstellung der Heiliggrabkopien im Kontext der Wallfahrtsarchitekturen und Zentralbauten unternimmt Adolf Reinle: Zeichensprache der Architektur. Zürich, München 1976. Reinle klassifiziert die verschiedenen Bautypen und -anlässe der Heiliggrabkopien ebenso wie ihre stilistischen Merkmale und erörtert an-

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schließend ausführlich ihren Zeichencharakter innerhalb der „Sprachfunktion“ der Architektur. Die zentralbauförmigen Heiliggrabkopien werden von Wolfgang Götz: Zentralbau und Zentralbautendenz in der gotischen Architektur, Berlin 1968, S. 219-236, sowie Matthias Untermann: Der Zentralbau im Mittelalter. Darmstadt 1989, S. 53-77 behandelt. Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen die Imitationen der Anastasis. Heiliggrabbauten, die andere architektonische Mittel als das architektonische Zitat der Grabesrotunde zur Evokation des Vorbildes nutzen, können in diesem Zusammenhang nur am Rande interessieren. Einzeldarstellungen Monographische Arbeiten zu einzelnen Heiliggrabbauten leisten ebenfalls einen Beitrag zur architekturhistorischen Betrachtung des Gesamtkomplexes. Anläßlich einer Ausstellung in Bologna wird im Katalog von Franco Cardini: La devozione al Santo Sepolcro, le sue riproduzioni occidentali e il complesso stefaniano (In: Sette colonne e sette chiese. Bologna 1987) nach kursorischer Erörterung der Bauphasen des Heiligen Grabes in Jerusalem das Phänomen und die Formen reliquienhafter „Erinnerungen” der Pilger an das Heilige Land beschrieben, zu denen im weiteren Sinne auch die Imitationen des Christusgrabes gehören. Eine Zusammenschau der Heiliggrabbauten unternimmt Gisela Schwering-Illert: Die ehemalige französische Abteikirche Saint-Sauveur in Charroux im 11. und 12. Jh. Düsseldorf 1963, sie liefert wichtige Impulse zum Heiliggrab-Thema. Dabei ist ihre Aufstellung der Heiliggrabbauten gleichfalls skizzenhaft angelegt, zur Illustration des im Titel angesprochenen thematischen Kontextes. Die Arbeit von Lieselotte Kötzsche: Das Heilige Grab in Jerusalem und seine Nachfolge (In: Akten des XII. Kongresses für Archäologie Bd. 1. Münster 1995, S. 272-290) sucht die architektonische Gestalt der Heiliggrabädikula in Jerusalem zur Zeit der Kreuzfahrer anhand von historischen Darstellungen und Pilgerbeschreibungen zu rekonstruieren. Diesem Ziel ist auch die Einbeziehung der Nachbauten außerhalb Jerusalems untergeordnet. Auf der Grundlage präziser architektonischer Dokumentation werden die Heiliggrabkopien erstmals von Heribert Sutter: Form und Ikonologie spanischer Zentralbauten. Aachen 1998 analysiert.


Jerusalemskirchen Das Heilige Grab, die historische Stätte der Auferstehung Christi, ist das „architektonische Beweisstück“ der für den christlichen Glauben zentralen Vorstellung endzeitlicher Erlösung. Die Heiliggrab-Imitationen, von denen in Europa etwa fünfzig erhalten sind, geben Aufschluss über das mittelalterliche Verständnis der architektonischen „Kopie“, das keinesfalls der heutigen originalgetreuen Vervielfältigung entspricht: Es handelt sich vielmehr um eine individuelle Interpretation bestimmter Elemente des Originals. Als persönliche Erinnerungs- und Andachtsarchitektur heimgekehrter Kreuzfahrer, als „Stellvertreterheiligtum“ und Zielort einer „Ersatzwallfahrt“, gelegentlich auch als theologisch-didaktisches Lehrbauwerk wurden überall in Europa Nachbauten der Heiliggrabädikula errichtet. Dabei entstanden ganz eigenständige, teilweise grundlegend neue Raumkonzepte, die architektonisch deshalb besonders interessieren, weil es sich in der Regel nicht um wortwörtliche Zitate des Jerusalemer Vorbilds handelt, sondern um topische Nachbauten, die das Original ausschnitthaft interpretieren und je nach Widmung bestimmte Aspekte überhöhen. Das Phänomen der Nachbauten des Heiligen Grabes wurde anhand der Jerusalemskirchen in Tomar, Aubeterre, Eichstätt, Konstanz, Florenz, Brügge, Augsburg und Görlitz im Rahmen des Forschungsprojektes von Prof. Dr.-Ing. Jan Pieper untersucht. Ihre monographische Bearbeitung erfolgte auf der Grundlage verformungsgerechter Bauaufnahmen, so daß Maßanalogien, die bei der Übertragung des Baugedankens eine große Rolle spielen, nachvollziehbar werden. Die wichtigsten Bauanlässe und Darstellungsabsichten der Heiliggrab-Imitationen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wie das Jerusalemer Grab sind sie in erster Linie Beweisbauwerke, die durch das Paradoxon des leeren Grabes der Sichtbarmachung der eschatologischen Verheißung dienen und somit materielle Zeugnisse der christlichen Heilslehre darstellen. In diesem Zusammenhang sind sie als Grabstätten ihrer Stifter zu finden, als Friedhofskapellen oder aber als pastorales Lehrbauwerk für die Gläubigen, etwa mit szenischer Funktion für die Osterspiele.

ISBN 3-936971-10-2