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Tatsächlich bin ich auch nach mehrmaligem Nachlesen nicht wirklich aufgeklärt, aber eines erkenne ich klar und deutlich: gefragt ist weite, bequeme Kleidung, und, wichtiger noch: Massageöl. Ich beschließe, Nägel mit Köpfen zu machen und schicke einen Verrechnungsscheck, um wenigstens den Einführungstag mitzunehmen. Ich sehe immer alles viel zu negativ. Klar, sie werden mich geißeln, damit meine zynische Ader ausblutet. Aber wenn ich dann erst nackt und verheult vor ihnen stehe, werden sie mich fangen und halten und im hauseigenen Pool, von hohen Hecken vor des Nachbars Blick geschützt, wiedergebären, solange, bis ein durch und durch sinnlich-fühlender Mensch aus meinen Trümmern steigt, einer, der erst fähig ist, Gipfel wie höchste Ekstase überhaupt zu begreifen. Und dann ist es soweit. Wie alle spirituell angehauchten Seminare spielt sich auch dieses fernab jeder Autobahn im tiefen Wald ab. Ich parke neben dem mit rund zehn Autos zugestellten Parkplatz und mache, dass ich ins Haus komme. Es liegt auf einer Anhöhe, freistehend, idyllisch und einsam, gerade so, dass niemand mein Schreien hören wird. Im Eingangsbereich wird dann der erste Mythos zerschlagen. Es tummeln sich etwa fünfzehn Teilnehmer von Mitte 20 bis Ende 50, aber weder weitreichende Swinger-ClubErfahrungen noch andere Extravaganzen sprechen aus den müden Äuglein. Ich hatte mit Tätowierungen, Piercings und elegantem Fetisch-Outfit gerechnet, aber weit gefehlt: Beim Blick nach unten bemerke ich, dass längst alle mit Pantoffeln unterwegs sind, die Beinkleider zu Gunsten einheitlicher Ballonseide-Trainingshosen abgelegt haben.

Irritiert vom Kontrast meiner Erwartungen mit dem Anblick einer besonders raren Gattung pastellfarbener Baumwoll-Leggins atme ich tief ein, muss mich an einem Stuhl festhalten. Alles dreht sich. Dann zeichne ich mutig die Anwesenheitsliste und versuche, die Verantwortlichen auszumachen. Pronto. Ein Paar von Ende 30 stellt sich beiläufig als Initiator vor, sie mit hellen, wachen Augen, ein bisschen Marke Volksschullehrerin, er, braungebrannt, Bärtchen, bedächtige Stimme, ganz ruhige Bewegungen, sedierend schon der Anblick. Für Fragen bleibt natürlich keine Zeit. Jetzt schnell umziehen und dann ab in den Tagungsraum, auf Sitzkissen in den Kreis gesetzt. Knapp 20 Personen, ein Querschnitt wie eine Ladung Straßenbahngäste, nehmen Platz. Manche kennen sich untereinander, sind nicht zum ersten Mal hier. Andere blicken scheu in die Runde, nesteln an ihren Kimonos herum. Dann fällt der Startschuss: Jeder soll sich vorstellen, etwas zu seiner Person sagen. Ich erzähle ein bisschen, und noch ehe ich fertig bin, kommt die erste spitze Bemerkung. Er, etwas südländischer Teint, schwarze, schulterlange Haare, statisches Grinsen, wie gefroren, stört sich an irgendeinem Detail meiner Selbstauskunft, macht seinen kleinen, dumpfen Gag. Keiner lacht und ich tue so, als ginge es mich nichts an, halte mich bedeckt. Es fängt gut an. Dann ist die Runde durch. Jeder hat irgendetwas erzählt und ich muss darüber nachdenken, wie nett so ein Haus im Grünen wäre - der Tagungsraum liegt im Erdgeschoss und hat zwei komplett verglaste Außenwände, ich kann in den Garten sehen und fühle mich an meine Kindheit erinnert. Sehr schön.


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