Stadtteilmagazin für die Dresdner Johannstadt
Wissen Wieso Weshalb Warum in unserem Stadtteil
Was wir miteinander teilen in der Johannstadt Gelebte Erfahrungen • Kenntnisse • Daten und Fakten • Zeitzeugnisse • Beherzigungen
Herbst/Winter 2021 www.johannstadt.de
BILDSTRECKE Ein Fotograf, der das Licht der Dämmerung wertschätzt. Licht, das die Oberflächen der Dinge modelliert. Mit der Kamera seines Mobiltelefons wird für Augenblicke die poetische Weite der Welt
sichtbar, wie sie den Stadtteil streift. Kristian ist Autor der großformatigen Fotos wie auch der Bildstrecke in der dritten Ausgabe der ZEILE.
Mehr unter > https://pixelfed.social/z428
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VORWORT
Editorial Eigentlich wissen wir nichts. Unser Zeitgeist spielt uns dennoch das Gegenteil vor. Was wir an Erkenntnissen anhäufen in einem riesigen Aushub an Daten und
Fakten, wird gespeichert, verlinkt und archiviert und erhält mit per-
manent neuen Informationen die nötige Dosis Treibstoff, in einer riesigen Wissenschaft, die uns hoch beschäftigt hält. Wo fängt Wis-
sen an, wo wird es gehütet? Wir sind auf Erfahrungen gestoßen. Auf Schicksale, weise Steine und uralte Bäume.
Mit jedem Menschen weist sich eine Spur. Besondere Fähigkeiten und Kenntnisreiches, Spontanes und Aufsehen Erregendes, das zu-
sammengetragen gebündelten Reichtum – einen gemeinsamen
Schatz an Wissen ergibt, innerhalb des Stadtteils, in den die dritte Ausgabe der ZEILE einen Einblick gibt.
AUS DEM INHALT
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Wissen der Ältesten
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Die Johannstädter Schokoladenseite
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Meine Johannstadt
Wir sind auf Erinnerungen gestoßen, die wissen, was hinter vermau-
erten Hauseingängen liegt. Was kaum eine*r noch weiß. Geheimes Wissen. Insiderwissen. Auf Geschichten, die dringend erzählt werden wollen, um Dinge richtig zu stellen. Schlafendes Wissen, das
geweckt werden will. Wissen, das im Kanon nicht aufgenommen ist. Jemand meldet sich zur rechten Zeit und weiß etwas. Wissen, das
geteilt und weitergegeben sein soll. Angeschlossen ans kollektive Gedächtnis. Und Wahrgesprochenes, was hinter die Dinge schaut.
Die Grenzen sind offen. Wo liegt der Übergang zur Weisheit? Wo der
Glaube? Einer stieß auf historische Fakten, beinahe totes Wissen, das erst die Phantasie wieder zu Leben erweckt.
Wieso? Weshalb? Warum? – Das sind die berühmten Kinderfragen
und die Antworten sind unendlich. Wir haben zugehört und trauen
uns, das Eingeständnis in die Mitte zu rücken, selbst nicht weiter zu wissen und deshalb Fragen zu stellen. Im Drang nach Austausch
und Verständigung. Diese Ausgabe der Zeile ist der Ausdruck geteilten Wissens. Jedes Puzzlestück ist einzigartig.
Eure Stadtteilredaktion
Bisher weiß niemand, wie er genau aussieht. Entwerft einen Charakter für Inspektor Jo! Sendet Comic-Zeichnungen, Skizzen, Streetart ein: Der beste Charakter übernimmt die nächste ZEILE! Einsendungen an redaktion@johannstadt.de
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WISSENSTRANSFER
Blick hinter die Kulissen
Die WISSEN-Ausgabe der ZEILE gibt Anlass und Motivation, Hintergründe der Johannstädter Stadtteilredaktion vorzustellen
Der ganze Stadtteil auf johannstadt.de – Was lokales Engagement bedeutet
Nachrichten, Neuigkeiten, Geschichten und Stadtteilgespräch einlädt.
Die Johannstadt hat Einiges zu bieten, was nicht in jedem Stadtteil Dresdens zu finden ist. Sichtbar und oftmals auch deutlich hörbar, hat es im Stadtteil zahlreiche bauliche Sanierungsarbeiten und Neuerungen gegeben, die der Verbesserung der Infrastruktur dienen, aber auch dem Wohnungsangebot zugute kommen. Bemerkenswert ist die hohe Aktivität von Vereinen, Initiativen und Projekten von Quartiersbewohner*innen im öffentlichen Raum der Johannstadt. Die Johannstadt wird als gestaltbarer Wohn- und Lebensraum wahrgenommen und die Lebensqualität im Stadtteil verbessert sich. Eine der Neugründungen in der Johannstadt ist das Stadtteilmagazin und mit ihm die Stadtteilredaktion, die das Viertel zum Austausch von
Wie zwei Stränge derselben Sache
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Bertil Kalex ist Wissensträger im Stadtteil
Tagesaktuelles Onlinemagazin johannstadt.de in Trägerschaft des Stadtteilvereins Johannstadt e. V.
Zweimal jährlich erscheinende Printausgabe der ZEILE, vom Projekt PLATTENWECHSEL – WIR IN AKTION des Johannstädter Kulturtreff e. V. herausgegeben
WISSENSTRANSFER
Quartiersmanagement – Grundlagen für johannstadt.de Durch die vom Quartiersmanagement Nördliche Johannstadt vorbereitete Internetplattform und die gute Vernetzung zu Akteur*innen im Stadtteil konnten Online- und Printmagazin bereits im ersten Jahr ihres Bestehens in der Johannstädter Stadtteillandschaft gut Fuß fassen. 2015-2020 Aufbau
einer Internetseite für die Johannstadt als Stadtteilplattform mit regelmäßigen Veröffentlichungen und Archiv der Inhalte in angelegten Rubriken für Veranstaltungen, Angebote, Bürgerprojekte, Menschen, Orte, Gremien.
November 2019 Gründung einer Stadtteilredaktion und Einrichtung eines nahezu täglich aktualisierten Stadtteil-Blogs: johannstadt.de wird Online-Stadtteilmagazin. Mai 2020 Übertragung
der Stadtteilplattform johannstadt.de vom Quartiersmanagement an den Stadtteilverein Johannstadt e. V., betreut durch Bertil Kalex. Die Stadtteilredaktion ist fest im Sattel.
Geburtsstunde einer Stadtteilredaktion Philine Schlick war Ende 2019 im richtigen Moment zur Stelle, um den vielfach kreisenden Wunsch nach einem Johannstädter Stadtteilmagazin aufzugreifen. Als Journalistin und freie Autorin brachte sie genügend gesammelte Erfahrung und selbstmotivierte Neugier mit, um den im Stadtteil lange gehegten Traum Wirklichkeit werden zu lassen: Das Onlinemagazin johannstadt.de wurde geboren: Ein lokal gestaltetes Stadtteilmagazin! johannstadt.de veröffentlicht seitdem mehrmals in der Woche tagfrisch recherchierte Meldungen aus dem Stadtteilgeschehen für die Bewohner*innen der Johannstadt.
Aus einem Topf städtischer und gespendeter privater Gelder
Im Rahmen der Zukunftsstadt Dresden eingerichtet, erproben Johannstadt und Pieschen-Süd/Mickten als erste zwei Dresdner Stadträume seit Juli 2019 die Selbstverwaltung von Mitteln. Über die Verwendung der durch den Stadtbezirksbeirat zur Verfügung gestellten Mittel ent- Torsten Görg beim scheidet der Stadtteilbeirat, ein Bewerben der Stadtteilbeiratswahl Gremium aus Bewohner*innen im November 2021 und Vertreter*innen wichtiger Einrichtungen im Stadtteil. So erhalten Einrichtungen und motivierte Bürger*innen finanzielle Unterstützung an die Hand zur Verwirklichung eigener nachhaltiger Projekte für mehr Lebensqualität in der Johannstadt.
Der Stadtteil schreibt ZEILE Im Spätherbst 2019 war Anja Hilgert als zweite feste Schreiberin zur Redaktion dazugestoßen. Auf dem damals von Anwohner*innen organisierten und ebenfalls vom Stadtteilbeirat geförderten Hofflohmarkt-Fest im Hinterhof der Tenza-Schmiede war es zur initialen Begegnung Hilgert-Schlick gekommen, die das Engagement für johannstadt. de weiter ins Rollen brachte.
Anja Hilgert und Meike Weid präsentieren das Projekt der ZEILE auf der Stadtteilbeiratssitzung
UTOPOLIS – Wie Soziokultur ins Quartier gelangt Berufserfahrung aus Kunstwissenschaft und Pädagogik mitbringend, führten Lernbereitschaft und Neugier die neue Autorin zur Infoveranstaltung Soziale Stadt: Dort wurde die Begegnung mit Meike Weid, Projektleiterin Plattenwechsel – WIR in Aktion am Johannstädter Kulturtreff e. V. zu einem weiteren Schlüsselerlebnis: Das Vorhaben, Soziokultur im Stadtteil mithilfe künstlerischer Formate zu fördern, entfachte die Begeisterung zur verantwortlichen Mitarbeit und Realisierung einer gedruckten Ausgabe des Stadtteilmagazins.
Die Umsetzung wurde möglich mit einem Projektantrag beim Stadtteilfonds Johannstadt:
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THEMA
Die trat auf den Plan, als gedrucktes Magazin im Mitmach-Format, in dem der Stadtteil selbst seine vielfältige(n) Geschichte(n) schreibt. Von Anfang an waren Schreibende, Wirkende, Unterstützende mit da, die das Erstes ZEILE-Autor*inProjekt Stadtteilmagazin auf nentreffen Juli 2021 seinen Weg gebracht und weitergetragen haben: Aller Dank geht in diesen Kreis, der versammelnd und verbindend wirkt!
Mitmach-Formate – Wo die Inhalte herkommen Das für die Nördliche Johannstadt für vier Jahre gebahnte Modellprogramm „UTOPOLIS – Soziokultur im Quartier“ macht den Johannstädter Kulturtreff e. V. zum Herausgeber der zweimal jährlich erscheinenden und rund 44 Seiten umfassenden ZEILE. Die Stadtteilredaktion liefert Themenschwerpunkte aus der laufenden Berichterstattung auf johannstadt.de und übernimmt die Sichtung sämtlicher Inhalte, die vom Redaktionsteam und aus der Beteiligung von Menschen im Stadtteil stammen und somit unmittelbare Ausschnitte aus dem täglichen Stadtteilleben wiedergeben. Geschrieben, gezeichnet, bebildert, geteilt von Johannstädter*innen für Johannstädter*innen. Wer mitmachen will, ist jederzeit herzlich willkommen!
Partizipation – Teilhabe im Stadtteil Sowohl johannstadt.de als auch die ZEILE leben von vielfältigem überwiegend ehrenamtlichem, beherztem Engagement, das sich über mehrere Hände und verschiedene Köpfe verteilt. Es ist nicht Luxus, wie manche mutmaßen, der zu diesem Engagement antreibt. Die, die hier beteiligt sind, sind quer über den Stadtteil verteilt und als Menschen sowohl altersmäßig als auch familiär, kulturell, sozial und letztlich finanziell sehr unterschiedlich aufgestellt: Freiberuflich, pensioniert, Minijob, prekär angestellt, Vollverdienst, Festanstellung, Familienleben, soloselbständig, alleinstehend, geschieden, verheiratet, älter, jünger, schon immer Johannstadt oder erst seit ein paar Jahren, alteingesessen oder zugezogen – hier regiert kein allgemeines Maß.
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Was uns in aller Verschiedenheit miteinander verbindet, ist die Vision, den Stadtteil in seiner Vielfältigkeit abbilden und und ins Spiel bringen zu wollen. Deshalb wirbt die Stadtteilredaktion immer weiter für Mitschreibende, die das Ganze, ob online oder in gedruckter Version, in jeweiligen Teilen mitgestalten möchten: Das macht Vielfalt, Varianten, Beweglichkeit, Andersartigkeit, Überraschungen und spontane Einfälle des Zusammenlebens aus, die – Zeile für Zeile – aufs Neue entstehen. Die neue Kommentarfunktion bietet Leser*innen die Möglichkeit, in Dialog zu den Themen der Johannstadt zu treten.
Nächstes Kapitel – Reife und ein Spendenknopf Was gerade mit positivem Echo aus dem Stadtteil seine Entfaltung erfährt und zu immer reichhaltiger werdenden Geschichten der früheren und heutigen Jo- Verteilung ZEILE 1 mit der Lastenrad-Riksha, hannstadt führt, das möchte Dezember 2020 fortbestehen und wachsen. Über die zeitlich absehbar endende Förderperiode und den räumlichen Wirkungsbereich hinaus soll das Stadtteilmagazin möglichst für den ganzen Stadtteil etabliert werden, also ausgedehnt von Johannstadt-Nord bis Süd. Dieses nächste Kapitel, das die Stadtteilredaktion zu schreiben hat, wird gerade erst skizziert. Wir werben um Unterstützung von Unternehmen und Stiftungen im Stadtteil. Der neu installierte Spendenknopf auf johannstadt.de ist eine Möglichkeit für Stadtteilbewohner*innen und zukünftige Partner*innen, die redaktionelle Arbeit durch einen finanziellen Beitrag zu unterstützen. Mitmachen ist einfach und nur einen Klick entfernt: Hier können sich große und kleine Unterstützer*innen einbringen, die, auch ohne selbst zu schreiben, für den aufblühenden Stadtteil Johannstadt eine fundierte lokale Berichterstattung sinnig, nötig, bereichernd, bildend, erfrischend, wertvoll, nachhaltig, innovativ, förderlich oder kreativ finden und schlichtweg gutheißen, dass es sie gibt: Die Stadtteilredaktion in Form von johannstadt.de und der ZEILE. von Anja Hilgert
ZEILE 2 Frühjahr/Sommer 2021, Schwerpunkt WOHNEN
Warum werden auf dem
Gelände vom Blauen Haus nun doch die Bäume gefällt?
Warum steht eigentlich der Container noch auf der Grünfläche an der Pfeifferhannsstraße?
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SCHULE & BILDUNG
So sieht Schule aus in Johannstadt-Nord!
Schulen und Ausbildungsstätten sind Orte, in denen der Stadtteil in die Zukunft blüht: In Johann-
stadt-Nord unterstützen Grundschule, Oberschule und Gymnasium junge Werdegänge. Die drei
großen Schulnachbarn versammeln Heranwachsende aus einem weiteren städtischen Umkreis, um sie im Lernen zu begleiten. Visionär gepolt und an sich einzigartig ist jedes Schulkonzept.
Clowns im Unterricht, Schulpausen unter der Diskokugel, ein Hochhaus im Schulgarten, Politik mit Schüler*innen – das sind keine erfundenen Geschichten von Erich Kästner. So sieht Schule in Johannstadt-Nord aus! Die 102. Grundschule „Johanna“, die 101. Oberschule „Johannes Gutenberg“ und das neue Gymnasium Johannstadt bilden in enger Nachbarschaft ein starkes Trio im Viertel.
Ordnung durch Anarchie Bunt leuchtet der Zaun der Grundschule „Johanna“ schon von Weitem. Das Außengelände haben Kinder während der Bauhüttenwochen gemeinsam mit dem Zukunftsstadtprojekt „Schullebensraum“ selbst gestaltet: Sich die Hände schmutzig zu machen gehört hier zum Lehrplan. Entstanden sind Klettergerüste, selbst behauene Sandsteinbänke und spielerische Versteckmöglichkeiten. An der Querseite des Schulgebäudes zur Hopfgartenstraße hin verbirgt sich ein idyllischer Schulgarten. Hier soll das Insektenhochhaus zwischen Margeritenwiese und einem Steinhaufen aufgestellt werden. „Wir haben absichtlich wilde Ecken gelassen, um Tieren einen Lebensraum zu bieten”, erklärt Schulleiterin Keßler. Im Garten wird anschaulich, dass nicht nur geordnete Kartoffel- und Kräuterbeete ihren Zweck haben, sondern Zwei an einer Adresse: Oberschule und Gymnasium der Johannstadt
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auch das so genannte Unkraut wie z. B. Disteln. „In der dritten Klasse machen wir ein Schmetterlingsprojekt, bei dem wir Distelfalter züchten”, so Frau Keßler. Aus in die Wand eingelassenen Nisthöhlen luken laut pfeifend Spatzen heraus, die bekommen noch ein Sandarium zum Sandbaden. Im Schulgebäude findet sich auch Ungewöhnliches: Hier unterrichten regelmäßig die zwei Clowns Hendrik Müller und Elisabeth Gröschel und schaffen durch Chaos Ordnung. „Der Schulalltag ist geprägt von Regeln und Struktur”, sagt Elisabeth Gröschel im Anschluss an die Auftritte. „Deshalb wollten wir für etwas Leichtigkeit sorgen.” Seit 2018 sind die beiden als Schulclowns in der Grundschule fest eingeplant. Lehrstunden nahmen sie beim Baba-Jaga-Darsteller Rainer König . Die Schneiderei der Staatsoperette war so freundlich, die weiten Clownshosen passgerecht anzufertigen – die Kosten trug der Förderverein der Grundschule. Vier Regeln gelten in der Schulclownerie: Erstens
Alle lachen gemeinsam.
Zweitens Die Kinder sollen kulturell gebildet werden. Drittens
Ein soziales Thema wird angesprochen.
Viertens Die Clowns sollen zu Identifikations-
figuren der Schule werden.
Die Grundschule Johanna in zentraler Lage mitten in Johannstadt-Nord
SCHULE & BILDUNG
und bereits die ersten Verbindungen zum Viertel und der Nachbarin 101. Oberschule entstanden sind, war es kein Start wie aus dem Bilderbuch für das Gymnasium Johannstadt, erzählt die SchulleiteGleich gegenüber schlagen 101. Oberschule und rin Sonja Hannemann. das neu eingezogene Gymnasium Johannstadt der „An das Gymnasium Johannstadt kamen zahlreiche Physik ein Schnippchen und beweisen, dass ein Schüler*innen, die an anderen Schulen keinen Platz Körper sehr wohl genau dort sein kann, wo ein mehr gefunden hatten”, berichtet Sonja Hanneanderer auch ist. Beide Schulen teilen sich ein mann. Für Eltern und Kinder bedeutete das PlanänGebäude – noch. Denn die 101. Oberschule mit ihrem derungen, weite Anfahrtswege und damit Wut und internationalen Schülerkreis wird bis 2028 an die Unsicherheit, denen man beim ersten ElterngeCockerwiese ziehen. In dem Neubau wird es Platz spräch begegnen musste. Die Rückmeldungen seifür Werkstätten geben, in denen Schüler*innen en dann aber erleichternderweise positiv gewesen. praxisbezogen und berufsorientiert lernen können. Für einen gelungenen Start hätte sich Sonja HanInsgesamt zehn Gewerke sollen so erprobt wernemann mehr Zeit den, sieht das Konzept gewünscht. Zum Bevor. Für Dresden sei gegnen, zum Auslodiese Entscheidung eine ten und Absprechen. Chance, sich als weltofBesonders auch mit fen, kulturbegeistert Juliana Dressel-Zagaund zukunftsorientowski, der Schulleitiert zu präsentieren, terin der 101. Obersagt die couragierte schule. Schulleiterin Juliana Anfang Mai 2020 Dressel-Zagatowski. erfuhr Hannemann Ein Alleinstellungsvon ihrer Besetzung merkmal ist der Schulals Schulleiterin. klub im Keller des Von Mai bis Juli arSchulgebäudes. Sofas, beiteten sie und ihr eine Diskokugel, eine Kollegium noch an Musikanlage, KickerSchulhof-Sonne während der Bauwochen in der 102.Grundschule anderen Schulen an tische und Regale voll anderen Orten – im August ging es los in der Jomit Brettspielen: Hier können sich Freundschaften hannstadt. Die erste Vorbereitungswoche fand in und Gespräche jenseits des getakteten Schulalltags leeren Räumen statt. „Ein paar Tische und Stühentwickeln. Hier werden Probleme thematisiert und le wären schon hilfreich gewesen”, resümiert sie. Konflikte diskutiert. Jenseits von Corona kommen Nichtsdestotrotz starteten Schule und Schülerschaft hier täglich 100 bis 120 Schüler*innen zusammen. interessiert und motiviert ins Viertel: „Ich habe ein Der Schulklub ist in jeder Mittagspause und an junges, motiviertes Team, das wunderbar zusamdrei Nachmittagen in der Woche geöffnet. Zur Zeit men arbeitet”, schwärmte die Schulleiterin. „Dass allerdings unter Einschränkungen. Auch der Schulwir uns neue Strukturen erarbeiten müssen, bietet klub wird mit ins neue Haus umziehen. „Dass unseauch viel Potential.” Drei Monate war das neu gere Schule zu 65 bis 75 Prozent von Migrant*innen gründete Gymnasium Johannstadt geöffnet, dann besucht wird, ist eine Riesenchance. Wir sind ein musste es wegen der Pandemie die Pforten wieder großes lernendes System”, sagt Dressel-Zagatowski schließen. Ein schwerer Start mit wenig Kontakt über ihre Schule, die sich an dem neuen Projekt zwischen Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen. der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung “Vielfalt „Es war ein krasses erstes Jahr”, sagt Hannemann. entfalten – Gemeinsam für starke Schulen” beteiligt. Ein Lichtblick in dieser Zeit war das erfolgreiche Ganztages-Angebot “Johannissimo”, die Schülerzeitung des Gymnasiums Johannstadt, dessen erste Potential in neuen Strukturen Ausgabe kurz vor Weihnachten 2020 erschienen ist. Ein Neuankömmling in der Johannstadt ist das “Nach nur fünf Wochen! Ich war komplett baff ”, Gymnasium. Obwohl der Empfang herzlich ausfiel staunt die Leiterin immer noch.
Alleinstellungsmerkmale eines lernenden Systems
von Philine Schlick
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WISSEN DER ÄLTESTEN
Das alte Wissen der Bäume Der
Japanische
Pagodenbaum
(Sophora japonica), ist auf der Pfoten-
hauerstraße vor dem Turbinecasino 27 Jahre alt, Ecke Hertelstraße/Tatzberg 101 Jahre alt.
Standortnummer 1 und 2 des Themenstadtplans bezeichnen an der
Die Blumenstraße steht voller
Sportstätte Pfotenhauer Straße 79
Blumen-Eschen (Fraxinus ornus)
eine Winterlinde (Tilia cordata) im
im zarten Alter von 16 Jahren.
Alter von 121 und eine Gewöhnliche Stiel-Eiche (Quercus robur) im Alter von 151 Jahren. Sollte diese der älteste Baum in der Johannstadt sein?
An der Dürerstraße lässt sich eine
schmalkronige Schwedische Mehlbeere (Sorbus intermedia ‚Brouwers‘)
im Alter von 17 Jahren bewundern und am Bertolt-Brecht-Gymnasium ein junger Mammutbaum von 20 Jahren.
Auf der Blasewitzer Straße, Höhe Trinitatisplatz steht eine 104 Jahre alte Gewöhnliche
Sommer-Linde
(Tilia
platyphyllos), zur Fiedlerstraße hin
eine 127 jährige Kastanie (Aesculus species).
Der
älteste
Baum
am
Bönisch-
platz ist eine 90 jährige Amerikanische Rot-Eiche (Quercus rubra). Der Spitz-Ahorn (Acer platanoides) am
Güntzplatz übertrifft diese mit 105 Jahren und die Flatter-Ulme (Ulmus
laevis) am Sachsenplatz hat 144 Jahre Die Johannstädter Baumspaziergänge machten Halt an Raritäten des Viertels
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vorzuweisen.
“Diese Stieleiche: Mein Lieblingsbaum, ist im Herbst ein Traum.” Foto: Karla Lenkeit – ausgewählt für den Wandkalender Johannstädter Lieblingsbäume 2020
Trompetenbaum
Auf einem speziellen Themenstadtplan der Stadt Dresden sind bislang rund 98.700 registrierte Bäume verzeichnet. Wenn man die grünen Punkte auf dem digitalen Stadtplan anklickt, erfährt man unter der Standortnummer dieses Baumes seine Daten: Baumart, Name, Standort, Alter. Es entsteht ein besonderer Blick für die großen, in sich ruhenden Wesen, die mit uns und um uns im Stadtteil sind und die mit ihrem Grün die Luft, die wir zum Atmen brauchen, herstellen. “Zeig mir deinen Lieblingsbaum!” – Unter diesem Motto haben Marie Engelien, erste Jugendvertreterin im Stadtteilbeirat und Bertil Kalex vom Stadtteilverein Johannstadt drei thematische Spaziergänge zu Bäumen als ausgewiesenen Stadtteilältesten organisiert. Im Zuge eines gleichnamigen Fotowettbewerbs wurde die hier zugrundeliegende Karte erstellt, die Baum-Lieblinge von Stadtteilbewohner*innen verzeichnet. Verbunden mit dem Anliegen, „ein Bewusstsein für die Bedeutung von Bäumen zu schaffen und Bürger*innen für ihren Schutz zu sensibilisieren”, wurde eine Spur durch den Stadtteil gelegt zur Rolle der Bäume in Stadtraum, Kulturlandschaft, Naherholung, Gartenkultur, Streuobstwiese und stillem Gedenken. Diplomingenieur Andreas Köhler, selbstständiger Fachagrarwirt für Baumpflege, hat für Johannstädter*innen, die mit spaziert sind, dazu seine Expertise eingebracht. „So sehr viele alte Bäume gibt es in der Johannstadt dem Gefühl nach nicht. Die meisten Bäume sind erst nach dem Krieg oder noch später gepflanzt worden. Für die Neubauten, von denen die meisten aus den 1974er/75er stammen, sind damals sämtliche Flächen eingeebnet worden. Bäume fallen solch großflächigen Bauaktionen zum Opfer und werden erst danach wieder aufgepflanzt. Somit sind die meisten Bäume in der Johannstadt um die 40-50 Jahre alt“, erklärt Andreas Köhler. Mit dem Themenstadtplan zur Hand, kann man sich vergewissern: Wie alt an Jahren sind solche üppigen Baumexemplare wie z. B. die Eichen am Sachsenplatz oder die Kastanie auf dem Weg zur Trintatiskirche? Es ist überraschend, mit wie vielen Hundertjährigen wir es im Stadtteil doch zu tun haben!
Grundschule, Pfotenhauerstraße 40,
von Anja Hilgert
schule „Lea Grundig“ hieß, war zur
Karte und Themenstadtplan Stadtbäume unter > www.johannstadt.de/orte/johannstaedter-lieblingsbaeume > https://stadtplan.dresden.de/?TH=GA_BAUM (Landeshauptstadt Dresden, Amt für Stadtgrün und Abfallwirtschaft)
Die Linden am Käthe-Kollitz-Ufer sind zwischen 17 und 121 Jahre alt.
Die Leierblättrige Eiche (Quercus ly-
rata) am Fetscherplatz ist zur Jahrhundertwende 1900 in die Erde gesetzt worden (121 Jahre alt). Die Platane
(Platanus species) auf der Fetscherstraße wurde sogar zur Gründerzeit um 1886 (135 Jahre alt) gepflanzt.
Baumriesen in der Allee am Käthe–Kollwitz–Ufer
Der
Gewöhnliche
(Catalpa bignonioides) an der 102. die damals 102. Polytechnische OberEröffnung 1974 bereits elf Jahre alt. Die
Japanische Nelken-Kirsche (Prunus
serrulata ‚Kanzan‘) an der 101. Oberschule/Abendgymnasium – Pfoten-
hauerstraße 42 ist fünf Jahre älter als der benachbarte Trompetenbaum.
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WISSEN DER ÄLTESTEN
Curt Kirschner und die gerettete Sparkasse Ein Sohn erzählt die Geschichte seines Vaters und kämpft bis ins hohe Alter um die Wieder-
anbringung einer Gedenktafel. Das Gebäude in der Johannstadt, das dank der Verdienste von Curt Kirschner erhalten geblieben ist, dient heute noch der Sparkasse Dresden als Hauptsitz. Curt Kirschner war nach dem Krieg ihr erster Direktor.
Der Sparkassendirektor pumpt sein Rad auf, 1949 Quelle: Walter Kirschner
Curt Kirschner in den Nachkriegsjahren; Quelle: Walter Kirschner
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WISSEN DER ÄLTESTEN
„Das war es, warum ich angefangen habe, Radios zu bauen – das mache ich bis heute“, beginnt Walter Kirschner, Jahrgang 1938, die Einblicke in seine Kindheit. Gleich nach dem Krieg habe er damit angefangen, Radios zu reparieren, „bei einem, der war im Krieg Funker gewesen. Der hatte in mir einen zum Reden und ich habe mit zehn Jahren gelernt, alte Radios zu reparieren“, berichtet der Ingenieur heute.
Kurzwellen-Radios und die Schornsteinklappe im Keller Damals, am 13. Februar 1945 war sein Vater zu einem Freund gegangen. Der hatte ein sehr gutes Radio, „mit gespreizter Kurzwelle“, wie Walter Kirschner bemerkt, bevor er fortfährt zu erzählen. „Mein Vater ging regelmäßig zu ihm, um den Londoner Rundfunk, BBC (British Broadcasting Corporation) zu hören. Der Vater hörte die Nachrichten, als schon überall in der Stadt die Sirenen losgingen. “Meine Mutter hat mich aus dem Bett gerissen, mit dem Nachthemd in den Keller. Im Kellergang war eine Bank, da haben wir alle drauf gesessen. Es kamen drei Sprengbomben, zwei hinters Haus und eine direkt auf den Wäscheplatz. Das Haus neben uns war bis zum Keller weg durch die Bomben. Unseres stand noch halb da. Mein Schlafzimmer war zur Hälfte weg und auf dem Kopfkissen lag das Fensterblech.” Dann kam sein Vater nach Hause. Als etwas Ruhe herrschte, war er eiligst losgerannt. Im Radio war gemeldet worden: ‚Schwere Bomber unterwegs Richtung Dresden’, doch als er das hörte, hatte er nicht mehr loslaufen können, weil die Bomber schon da waren. “Ich habe im Keller an einer Schornsteinfegerklappe gesessen. Das war eine Betonklappe mit zwei Deckeln, wo nach dem Kehren der Ruß herausgeholt wurde. Keiner hat da an etwas gedacht. Ich war acht Jahre alt. Der Luftdruck von außen war so groß, dass ein riesiger Überdruck herrschte, der über den Schornstein sofort da war. Die Klappe sprang auf und mir direkt ins Kreuz. Ich flog an die gegenüberliegende Wand. Ein paar Zähne hat’s mir abgeknallt und seitdem habe ich mit der Wirbelsäule die Probleme.“ Walter Kirschner erzählt weiter: „Ich höre heute noch über Satellit Auslandsradio, nachts, wenn ich wegen der Kreuzschmerzen nicht schlafen kann.”
Buchstaben aus Beton „Mein Vater war Angestellter bei der Städtischen Sparkasse. Die Hauptstelle war auf der Schulgas-
se, direkt am Altmarkt, in Lack und Leder, Furnier, Granit, und was so ging. Die Eltern meines Vaters hatten einen Zeitungshandel am Sachsenplatz, vor dem Gericht. Er selbst ist in der Johannstadt als Arbeiterkind aufgewachsen. Die ganze Familie hing der Sozialdemokratie an. Als Lehrling arbeitete er bei Rechtsanwälten und 1926 fing er bei der Sparkasse an, durchlief alle Abteilungen, mit Schwerpunkt auf Immobilien und Kredite. Da er das Talent dazu hatte, machte er neben seiner Tätigkeit auch die Sparkassenwerbung: Er hat Kalender herausgegeben, Postkarten drucken und Sparbüchsen machen lassen. Später sogar, da war er bereits Direktor, goss er in seinem Garten auf dem Weg ausgelegte Leisten mit einem Eimer Beton aus, in Form von großen Buchstaben. Daraus ließ er den Schriftzug der damaligen Sparkasse fertigen. Solche in Beton gegossenen Sparkassen-Buchstaben sind heute auf dem Dorfplatz in Lockwitz noch aufgestellt zu sehen. Dass die Sparkasse ein stattliches Aussehen bot, das war ihm wichtig. Nach dem Krieg war der Hauptsitz der Sparkasse zerbombt. Eine Zweigstelle befand sich in der Johannstadt in dem renommierten Erlwein-Stadthaus* am Güntzplatz. Auch dort war ringsum alles abgebrannt. Die Häuser am Sachsenplatz hatten zum Teil noch gestanden, wie die Jägerkaserne, mit Pracht-Fassaden aus Sandstein. Aber in der Johannstadt ist dann, was an gründerzeitlichen Fassaden noch stand, von den neuen Stadtplanern weggesprengt und dem Erdboden gleich gemacht worden. Daß das Stadthaus den Bombenangriff in der Johannstadt einigermaßen gut erhalten überstanden hatte, war seiner neuen Stahlbeton-Bauweise zu verdanken, mit hohen Mauern, wenig Material, großer Tragfähigkeit. In den unteren Arkaden des Gebäudes waren damals Läden und neben dem Schnapshändler, dem Hartmann, ein Café – die hatten Tassen mit einem knallroten Ring. Aus denen haben wir nach ’45 getrunken, weil wir ausgebombt waren und nichts mehr hatten. Wir waren, als wir mit unseren Betten im Freien standen, bei einem alten Mann von gegenüber untergekommen. Dessen Bett haben wir in die Stube geräumt und sind zu dritt in seine Schlafstube eingezogen. Die Tassen aus dem zerstörten Café hatte mein Vater dorthin mitgebracht.
* Hans Erlwein, der ab 1905 die Leitung des Hochbauamtes in Dresden inne hatte, baute in den folgenden zehn Jahren in der Stadt verteilt ca. 150 Gebäude, die der neuen Zeit Ausdruck verleihen sollten. Eines der renommierten Bauwerke war das damalige Johannstädter Stadthaus von 1914 – Erlwein signierte das Gebäude mit seinem typischen Namenssymbol, einer von einem Wappen gefassten Reliefplastik, die einen von Erlenzweigen umrankten Knaben in einer Weinkelter darstellt.
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WISSEN DER ÄLTESTEN
Per Jeep zum Sparkassendirektor
Hof. Da stand mein Vater mit meiner Mutter auf der Bühne. Die Belegschaft hatte ihm eine Ehrentafel aus Bronze gießen lassen. Die wurde ihm feierlich übergeben und wurde an derselben Seite des Gebäudes angebracht, wo jetzt auch wieder die Gedenktafel hängt, als Ehre und Anerkennung seiner Leistung. Bei der Übergabe wurde das folgende Gedicht vorgetragen (Quelle: Walter Kirschner):
Unmittelbar nach dem Krieg gab es noch keine Verwaltung. Alles Administrative wurde vom Stadtkommandanten der russischen Besatzungsmacht befohlen. Eines Tages fuhr vor unserer Bleibe ein Jeep vor. Da saß einer mit einer Kalaschnikov, dann der Fahrer und hinten saß einer, der das Sagen hatte: ‘Kirschner!’, orderte der Offizielle. Mein Vater trat vor Herr Direktor Kirchner: und wurde mitgenommen. Die Kommandantur war in der Lackfabrik. Dicke Backen, große Platte, ‘ne Früher gab es große Wagen, Abends um neune war mein Vater Zigarre von Format! 12 Zylinder mußten‘s sein. Heute ist das alles anders, Am Steuer saß ein Goldbetreßter, immer noch nicht wieder da. ‚Was heut‘ fährt ein Direktor Rad! denn Uniform wirkte immer fein! wollen denn die?‘, machten wir uns Gedanken, bis der Jeep schließlich Die Mitte war dann leer ----- vor Erfurcht, erst hinten fing es wieder an. wiederkam und meinen Vater absetzDenn dort saß in tiefen Polstern te. Wie das bei den Russen so war… meistenteils der große Mann. Mein Vater musste erst einmal ins Bett... Am nächsten Morgen konnten wir ihn ansprechen: ‚Was haben sie denn mit dir gemacht?‘ Er sagte bloß: ‚Ich bin heute schon der neue Sparkassendirektor.‘ Schrauben und Alukannen Als einer, der jetzt repräsentieren sollte, wurde ihm ein Auto vor die Türe gestellt. Es war nicht üblich, Dann war er Direktor, wie ein Direktor Direktor dass man ein Auto hatte, und mein Vater konnte gar ist. Das große Eckzimmer hatte der Sparkassenpränicht fahren. Also fuhr er weiter Fahrrad, auch als sident des Landes Sachsen als Dienstzimmer und Sparkassendirektor. mein Vater als Direktor der Sparkasse Dresden war In dieser Funktion erwirkte er beim Stadtkommandaneben im zweiten Zimmer. Dort war er in seiner danten, dass das Johannstädter Stadthaus, das seiFunktion öffentlich zugänglich. Bis zum Jahre 1951, ner Fassade nach noch gut erhalten da stand, nicht das alles zur Wendung brachte. (…) abgerissen, sondern bewahrt wurde. Ihm wurde Curt Kirschner wurde im Jahr 1951 vom Dienst als zugebilligt, es für die Sparkasse wiederaufzubauen. Direktor entlassen, nachdem im gleichen Moment Als sein Junge war ich mit dabei und habe mit acht seine plötzliche Verhaftung erfolgte und er für und neun Jahren, mit meinem kaputten Kreuz den nahezu ein ganzes Jahr im Gefängnis gehalten Schutt rausgefahren und meine Mutter auch. Damit wurde – ohne jemals eine Anklageschrift oder eidas erst einmal losging mit dem Aufbauen. Die Sparnen Haftbefehl zu sehen. Von der Polizeiwache auf kasse war meinem Vater das Wichtigste. Dort haben der Schießgasse wurde er überführt auf die Wache wir mindestens ein Dreivierteljahr Schutt geräumt. am Nürnberger Platz. Dort konnten wir ihn einmal Mein Vater hatte aus Reick die Bauern mit hergebesuchen, aber es durfte über nichts gesprochen nommen, dass sie mit ihren Pferdefuhrwerken den werden. Weder Haftbefehl, noch Haftbescheinigung Schutt aus dem Sparkassenhaus rausfuhren. – mit gar nichts, ohne Papiere ist er 1952 aus dem Der russische Kommandant rief ihn jede Woche zu Gefängnis entlassen worden. Er kam nach Hause und sich. Noch funktionierte der Geldkreislauf nicht. sagte: ‚Ich habe nichts auf der Hand. Ich weiß nicht, Die Sparkassen-Leitungstätigkeit erfuhr einigerwarum ich da drinnen war. Ich weiß nicht, warum maßen Druck. Ab Mai 1949 waren die Räume im ich entlassen worden bin.’ Da war er Ende 50. Erdgeschoss behelfsmäßig nutzbar. Der SparkasNach der Haftentlassung stand er ohne Arbeit da. sendirektor stand selbst am Schalter und zählte das Der Zugang zu seinem Beruf blieb ihm verwehrt. Bare aus, z. B. an die Kriegswitwen, die für ihre Schlussendlich schickte er sein Parteibuch ins ZK toten Männer Entschädigung bekamen. ein. Im schwarzen Arbeitsbuch, das zu der Zeit jeder 1949 gab es eine offizielle Einweihung der neuen Erwerbstätige hatte, steht bei Curt Kirschner an der Sparkasse, mit einer Betriebsfeier im Strehlener einen Stelle „Sparkassendirektor“ und anschließend
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WISSEN DER ÄLTESTEN
„Schraubenwäscher“. Um erst einmal Geld zu verdienen, arbeitete er als Hilfsarbeiter, wusch ölige Schrauben und putzte im volkseigenen Betrieb Alukannen für die Kuhmelker. Einmal, auf einem Gang nach Hause, las er dann bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) ein Schild mit dem Gesuch für eine Bürokraft. Lohnbuchhaltung, Schriftverkehr, Korrespondenzen, Verträge, damit kannte er sich aus und wurde eingestellt. Nach kurzer Zeit war er wieder Curt, jeder kannte ihn dort. Dort ist er auch wieder mit Schlips und Kragen zur Arbeit gegangen. Das macht die Haltung. Sie haben ihn dort geachtet. Damit hat er bis zur Rente überlebt und seine Arbeit war anerkannt. „Ich bin der Sohn vom Sparkassendirektor und ich habe das erlebt“, sagt Walter Kirschner und fügt hinzu: „Und sie werden von mir auch kein Foto finden, wo ich nicht Hemd und Schlips an habe.“ Für die Anerkennung der Verdienste seines Vaters und die Wiedergutmachung am Schicksal eines Einzelnen setzte sich sein Sohn bis ins hohe Alter über Widerstände hinweg. Bestärkt durch die beharrliche Kraft von Seiten seiner Frau und Dank engagierter Unterstützung durch das Landesamt für Denkmalpflege wurde 2015 die heutige Ehrentafel zur Würdigung Curt Kirschners am Haus der Sparkasse in der Johannstadt angebracht und offiziell eingeweiht.
Weitere Informationen siehe Historischer Rundweg, Johannstadt auf Tafeln, Stele 10: > www.johannstadt.de/orte/standort-10-guentz-sachsenplatz/ Der ganze Artikel von Anja Hilgert unter > www.johannstadt.de/2021/05/curt-kirschner-und-die-gerettete-sparkasse/
Das Gespräch mit Walter und Inge Kirschner führte Anja Hilgert.
Walter Kirschner sorgte für die Wiederanbringung der Gedenktafel am Haus der Sparkasse
Oben: Detail Sparkassenhaus Unten: Curt Kirschners Schützling vor dem Sparkassenhaus: Die historische Litfasssäule
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WISSEN DER ÄLTESTEN
Wissen Unvergessen: ist Macht Frau Schuch Dies besagt ein altes Sprichwort. Ich denke, jede*r von uns verfügt Ruheplatz unter einem Baum über ein Wissen und auf dem Trinitatisfriedhof demzufolge auch über eine gewisse Macht. Jede*r auf eine gewisse Art und Weise, egal ob Akademiker*in oder der einfache kleine Mann und die einfache kleine Frau. Das Wissen gilt es zu bündeln, es einander mitzuteilen und es sollte irgendwie für die Nachwelt erhalten werden. Schließlich ist das Wissen von heute ein Grundstein für morgen. Als ich vor vielen Jahren aufbrach, um meine Johannstadt neu zu erkunden, war ich erst einmal an mir bekannten Stellen unterwegs. Doch im Laufe der Zeit begannen mich Orte immer tiefer zu faszinieren, welche ich in meiner Kindheit und Jugend gar nicht bewusst wahrgenommen habe. Wo sollte ich also zu recherchieren anfangen? Naheliegend ist das Internet. Dort ist aber längst nicht alles zu finden und einiges wird auch falsch weitergegeben. Es folgte die Universitätsbibliothek, insbesondere die Deutsche Fotothek. Aber auch dort fand ich nicht viel mehr. Wie also weiter? Durch das Projekt „Johannstadt auf Tafeln“ lernte ich Siegfried Treppnau kennen: Geboren in der Johannstadt, den Krieg überlebt und fortan Sammler und „Berichterstatter“ über die Geschichte seines Stadtteils. Bilder aus seinen Sammlungen zieren heute noch Projekte und auch ihm zu Ehren hat der Johannstädter Kulturtreff die Ausstellung ”Johannstädter Postkarten” gewidmet. Siegfried Treppnaus Macht war sein Wissen über die Johannstadt und wie gerne gab er dieses Wissen weiter! Ein einfacher kleiner Mann, aber er war und bleibt eine Riesenbereicherung in meinem Leben. Bei meinen Streifzügen verweile ich oft auf der Bank an seiner Grabstelle auf dem Trinitatisfriedhof und versuche, mich an die Gespräche mit Sigi zu erinnern. Seine Sammlung über die Johannstadt war einzigartig. Meine Fragen konnte er stets beantworten und freute sich darüber, dass er sein Wissen weitergeben konnte. Wenn ein alter Mensch stirbt, geht ein Buch. Diesen Satz habe ich als Kind einmal gehört und heute noch denke ich darüber nach. von Gerd Hammermüller
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Vielen war sie wohl aufgefallen in den letzten Wochen: Die klaffende Lücke, die das gelbe Auto von Doris Schuch neben der Konsumhalle hinterlassen hat. Sie wird sich nicht schließen. Wir trauern um eine starke Frau, tüchtige Gärtnerin und seltene Blume. Frau Doris Schuch aus Weinböhla gehörte mit ihrem gelben Verkaufsauto zur Johannstadt wie die vier Jahreszeiten. Bei Wind und Wetter stand sie, die Hände rau und erdgefärbt, zwischen Konsum und Hochhaus an der Pfotenhauerstraße und reichte selbstangebautes Obst und Gemüse über den Tresen. Eine tatkräftige, bodenständige Frau, wacker und zuversichtlich. Nie um einen kessen Spruch verlegen, zugewandt, auf das Wesentliche besonnen. Eine Frau, der das Wachsen am Herzen lag, die von ihrer reichen Ernte abgab und nie versäumte, die Blumen am Wegesrand zu würdigen.
Das Marktauto von Doris Schuch. Zeichnung: Theresa Wenzel
Nach langer Krankheit hatte sie sich zurückgekämpft und es grünte die Hoffnung. Nun plötzlich blieb ihr Fleckchen leer. Frau Schuch ist verstorben, zu der Zeit der wunderbaren, groß blühenden Chrysanthemen. Frau Schuch, die Johannstadt wird sie vermissen. Wir wollen im Frühling Ihrer gedenken, wenn sich mit neuerlicher Kraft die Schneeglöckchen durch die Eiskruste stemmen. Wir wollen Ihrer gedenken im Sommer, wenn die Kirschen prall werden und die Äpfel rote Backen bekommen. Im Herbst, wenn die Erde Kartoffeln schenkt und im Winter, wenn der Grünkohl auf den Tellern dampft. Wir gedenken mit Ihnen den Schätzen des Lebens und danken Ihnen für alle, die sie mit uns geteilt haben, für Werte, die unvergesslich sind. Der ganze Artikel von Philine Schlick unter > johannstadt.de/2021/11/ unvergessen-frau-schuch/
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WISSENSWERT
Aushängeschilder Wohnen in der Johannstadt, das bedeutet auch, Wandel zu beobachten. An der Florian-GeyerStraße 13 war das „blaue Haus“ jahrelang ein Blickfang inmitten von wildem Grün. Eine Kita vom Kinderschutzbund war hier ansässig, und die Firma Mare-Floors. Die Banner blieben, als alle längst ausgezogen waren. Als die Bagger 2021 über die Reste des blauen Hauses fuhren, weil die Genossenschaft Wohnen in Dresden (WiD) an dieser Stelle ein Wohnhaus mit Tiefgarage baut, waren sie sorgsam abgenommen und verwahrt worden. Man war sich einig: Die sind zu schade zum Wegwerfen! Ihr Verbleib wurde im Stadtteilbeirat diskutiert. Die WiD ist an einer Weiterverwendung grundsätzlich interessiert. Über die Jahre sind die an Ösen gespannten Banner allerdings porös geworden – aber farbenprächtig und eindrücklich sind sie wie eh und je. Wie weiter mit den ramponierten Wandbannern der Florian-Geyer-Straße 13? Die Frage schwebte im Raum, als bei der Stadtteilredaktion eine Nachricht einging. Eine Frau schrieb, dass sie den Urheber kenne – das sei nämlich ihr Vater Matthias Thomas, einer der zwei Gründer der Firma MareFloors, die ihren Sitz in Striesen hat.
Der Tukan zierte die Seitenwand auf der Florian-Geyer-Straße 13.
Beim Besuch in der Druckerei für Banner und Poster erzählte er vom Ursprung der charakteristischen „Aushängeschilder“: „Die Banner haben wir aufgehangen, um blaue Farbe zu sparen.“ Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner René Schiller hatte er 2001 die Firma Mare-Floors gegründet. Ihre Spezialität: Langlebige Bilder auf Fußböden. Das Patent war weltweit gefragt, Aufträge kamen vom Automuseum in Peking und dem Museum für Science and Technology in Shanghai. Bedruckte Banner wurden zum zweiten Standbein der Firma und weil es in den Räumen in Striesen zu eng wurde, entschieden sich die beiden für einen Umzug in die Johannstadt. 18
Im Gebäude war Asbest verbaut, erzählt Matthias. Mare-Floors investierte an die 100.000 Euro, um das Haus zu sanieren, das bald aufgrund seines Anstrichs nur noch “das blaue Haus” heißen sollte. Mit der Renovierung im Jahr 2005 entstanden auch die großen Banner, die die Fassade bedeckten. Die Bilder dafür stammten vom amerikanischen Hersteller der ersten Druckmaschine von Mare-Floors. Sie kamen lizenzfrei auf einer CD nach Dresden. “Es war ein tolles Flair!”, sagt Matthias. Besonders der Garten um das Haus hatte es ihm angetan. “Dort wuchsen noch zwei sehr seltene weiße Maulbeerbäume!” Wenn die liebe Nachbarschaft nicht gewesen wäre: „Bei uns stand jeden Monat mindestens einmal die Polizei vor der Tür.” Die im Gewächshaus angebauten Tomaten erregten den Verdacht einer Cannabis-Plantage, eine auf dem Dach angebrachte Solarzelle wurde aus dem benachbarten Hochhaus ebenso zur Anzeige gebracht wie zum Firmenjubiläum aufgestiegene Luftballons. Obwohl die Anzeigen ins Leere liefen, sei es kaum auszuhalten gewesen, sagt Matthias Thomas. Nach gut zehn Jahren ließ Mare-Floors die selbst angebauten Kiwis im Garten und den Walnussbaum am Tor
Der Abriss kündigt sich an…
zurück, um sich am Stammsitz Spenerstraße bis in die zweite Etage auszudehnen. “Ich möchte die Zeit nicht missen”, resümiert der Geschäftsführer. Dass die Banner noch immer vorhanden und gut aufgehoben sind, freut ihn sichtlich: “Das ist ja ein Teil Geschichte.” Er könne sich gut vorstellen, nötige Ausbesserungen in seiner Werkstatt vorzunehmen. Wer weiß, wo die Bilder einen neuen Platz finden – vielleicht sogar am neuen Stadtteilhaus? Der ganze Text von Philine Schlick unter > www.johannstadt.de/2021/09/ florian-geyer-strasse-13-werbebanner/
Im Sommer werden die Weinblätter auf Vorrat gepflückt.
Frische Weinblätter werden für die orientalische Küche in Salzlake konserviert und dann befüllt.
Nicht nur in Syrien, auch in der Türkei ist Yaprak als Speise bekannt.
Warum Frauen Weinblätter klauen Essen ist Heimat – das weiß niemand besser als Menschen, die ihre Heimat verloren und Sehnsucht haben. Dieser Text erklärt, warum Weinblatt-Diebinnen nur auf ihren Bauch hören und wie sehr vertraute Speisen durch den Magen bis ins Herz gehen. In den Nachrichten wurde von einem seltsamen Diebstahl berichtet: „Ungewöhnliche Beute: Die Polizei hat Weinblatt-Diebe geschnappt. Das Frauen-Trio hatte massenhaft in Weinbergen die Weinblätter von frei zugänglichen Rebstöcken abgerissen.“ Natürlich fragt man sich, worum es geht. Und schnell wird klar: Hier geht es um eine orientalische Spezialität: Gefüllte Weinblätter. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass deutsche Frauen von ihren syrischen Freundinnen gefragt werden: „Wo können wir frische Weinblätter herbekommen? Oder weißt du irgendwelche Weinberge in der Nähe?“
Ein Koffer voll von Gerüchen und Geschmäckern Diese Leidenschaft zum Essen begründet sich in der Sehnsucht nach allem, was im Herzen steckt. Die Beziehung zwischen Menschen und ihrem Essen ist sehr alt und stark verbunden. Durch die Zeit hat sich das grundlegende menschliche Bedürfnis zu einer Kunst entwickelt, mit der sich unterschiedliche Gesellschaften charakterisieren lassen. Der Geruch des Essens bringt Menschen zurück zu ihrer Heimat, wo gemeinsam verbrachte Zeiten mit der Familie und Freunden in Erinnerung sind. Jeder Mensch hat in seinem Kopf einen Koffer voll von den Gerüchen und Geschmäckern des Essens, das ihn mit seinem Herkunftsort verbindet. Man kann sich nicht von solchen starken Gefühlen befreien. Im Gegenteil, solche Gefühle verstärken sich Jahr für Jahr. Deswegen hängen sich viele Menschen mit Fluchterfahrungen, vor allem Frauen, an die Essenszubereitung und die Kulinarik von zu Hause oder wählen diese Arbeit als Beruf, um Geld zu verdienen. Sie versuchen, ihre Beziehung zur Vergangenheit zu schützen, um die Gegenwart und den Mangel, den sie erdulden, besser zu ertragen.
Die orientalische Spezialität Yaprak Gefüllte Weinblätter heissen Yaprak: Das ist ein berühmtes orientalisches Essen im Nahen Osten und in der Türkei. Man braucht viel Erfahrung und Tüchtigkeit, um es zuzubereiten. Deswegen wird es gekocht zu wichtigen Anlässen oder für besondere Gäste. Es ist für gewöhnlich am Anfang jedes Sommers, wie in Syrien zum Beispiel, dass viele Frauen frische Weinblätter zu sammeln beginnen, um sie in gesalzenem Wasser zu lagern. So können die Blätter bis ins nächste Jahr ihren Geschmack halten, ohne Konservierungsstoffe zu benutzen. Es gibt viele Quellen, um Weinblätter zu kaufen. Eine ist, sie auf dem Markt der Saison zu kaufen. Oder die Frauen bekommen sie von eigenen Rebstöcken oder als Geschenk von Nachbarn oder Freunden. Oder aber, und das ist das Schlimmste, als Diebstahl vom Weinberg. Hier in Deutschland haben diese Frauen gedacht, dass die letzte Quelle die einzige Quelle für ihre Weinblätter ist, ohne sich zu beschäftigen, ob das legal ist oder nicht. Natürlich muss man die Erlaubnis vom Besitzer haben, sonst gilt es als illegales Vorgehen, das bestraft wird. Eine Sache, die das Frauen-Trio nicht gewusst hat, wie ich denke. Die antike Welt kannte Weinblätter gut. Nicht nur als Lebensmittel, sondern auch für die medizinische Nutzung. Auch spielen sie eine wichtige Rolle in der Mythologie. Zum Beispiel glaubten die alten Griechen an Dionysos als den Gott, der den Wein in die Welt gebracht hat. In der arabischen Welt wurden Träume mit Weinblättern als Reichtum und Segen für den Träumer gedeutet. Das ist kein Wunder, wenn wir wissen, welchen wichtigen Stellenwert Weinblätter im Nahen Osten haben. Der ganze Artikel von Mohammed Ghith al Haj Hossin unter > www.johannstadt.de/2020/06/ sommerliche-diebstaehle-warum-frauenweinblaetter-klauen
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WISSENSWERT
WISSENSSPEICHER
ZEILE-Serie: Straßennamen “Ich fände es interessant, wenn z. B. in einer alphabetischen Serie … LG die Herkunft von Straßennamen erklärt wird …” LGThorsten“ Thorsten Kommentar auf johannstadt.de
Arnoldstraße Die Arnoldstraße führt von der Gerokstraße vorbei am Trinitatisfriedhof bis zum Thomas-Müntzer-Platz. Sie ist seit 1893 nach Johann Christoph Arnold (1763–1847) benannt. Arnold betätigte sich als Verleger, Zeitungsbesitzer, Kunstmäzen und Stadtpolitiker. Er war außerdem Begründer der Arnoldischen Buchhandlung. Zu Zeiten des Nationalsozialismus trug der bebaute Teil der Arnoldstraße den Namen Litzmannstraße. Der NSDAP-Reichstagsabgeordnete und General der Infanterie Karl Litzmann (1850–1936) wirkte auch als
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letzter Alterspräsident der Weimarer Republik. Am 24. Juli 1945 erfolgte die Rückbenennung. Am 1. August 1898 eröffnete in der Arnoldstraße Nr. 1 eine Kinderpoliklinik unter der Führung von Arthur Schloßmann als weltweit erste Poliklinik zur stationären Behandlung von Säuglingen. Weitere Information vgl. Historischer Rundweg, Stele 5 unter > www.johannstadt.de/orte/standort-5-arnoldstrasse
WISSENSWERT
Palaver in der Johannstadt
Noch hat er ein Hinkebein, der sonderbare Pavillon im Park an der Sachsenallee. Die farbigen
Stelzen, aus denen der offene Kubus besteht, werden gerade ausgetauscht. Die Farben sehen nach Kinderspielplatz aus, doch fehlt das Spielgerät. Optisch ist die Konstruktion sogar in den Boden hinein versenkt, trotzdem wirkt die ganze Sache wie schwebend. Für einen Treffpunkt
steht das Gerüst allzu offen und lose in der Landschaft, es wirkt verunsichernd, ob und was da wirklich ist. Das Kunstwerk, um das es sich bei diesem Pavillon handelt, ist ein Vermächtnis an die Stadt und es handelt sich um ein ausdrückliches Kommunikationsangebot.
Mit meinen Kindern bin ich, als diese noch kleiner waren, häufig vom Weg ab und auf die Wiese bei der Sachsenallee gezogen, wo auf farbig bunten Stützen ein besonderes Kuppeldach stand, unter dem man nur zu flüstern brauchte und schon wurde das Gesagte laut und deutlich in den Raum übertragen. Eine tolle Akustik war unter dem Dach und es machte uns Spaß, mit der Lautverstärkung und dem Hall zu spielen, uns zuzurufen, wenn wir wechselnd an den blauen, gelben und roten Pfeilern standen, die in rätselhafter geometrischer Ordnung die Überdachung tragen. Wir nannten es „Flüsterhalle“.
und die Straßenbahn rattert. Spaziergänger*innen verschlägt es selten hierher. Erst dadurch, dass das eigenwillige Häuschen dort steht, kommt dem Nirgendwo Aufmerksamkeit zu. Häufig übernimmt Kunst diese Funktion, Stellen des öffentlichen Raums zu beleben, die ansonsten leer, trist und verlassen wären. Die dreidimensionale Form der Skulptur eignet sich vorzüglich, um unbewegten Raum zu aktivieren. Eine gut gelungene Skulptur bezieht den Betrachter körperlich mit ein, versetzt ihn dazu, seinen Standpunkt zu verlassen, andere Positionen einzunehmen, um einen Gesamteindruck zu erlangen.
Städtisches Nirgendwo
Palaver anstelle von kolonialem Denken
Der über die Grenzen Dresdens und Deutschlands hinaus weltweit bekannte Künstler Georg Karl Pfahler errichtete 1997 sein sogenanntes Palaverhaus im Zuge einer städtischen Förderung von Kunst im Stadtraum. Seine Farb-Raum-Plastik besteht aus den Grundformen Kreis, Drei- und Viereck sowie den Grundfarben Blau, Rot, Gelb im Gerüst und Schwarz beziehungsweise Weiß in der Kuppel. Das Palaverhaus ist ein Geschenk des Künstlers, das die Stadt für die Öffentlichkeit im Außenraum verwahrt und derzeit restauratorisch in Stand setzt. Beim Aufstellungsort handelt es sich um einen von Verkehrsachsen ausgesparten Fleck einer Grünanlage mit alten Eichen. Drum herum verkehren vierspurig Autos, rauschen unzählige Fahrräder entlang
In dem kleinen Park stand bis unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes Kolonialkriegerdenkmal – zu Ehren der Krieger, die für Deutschland im sogenannten Deutsch-Südwestafrika gekämpft und ihr Leben gelassen hatten. Im Januar 1947 war dieses Denkmal als kolonialistisch und kriegsverherrlichend erkannt und (fast) restlos beseitigt worden. Überreste des rückgebauten Kolonialkriegerdenkmals sind bis heute in der Vorhalle der Garnisonskirche angebracht. Somit tritt das Palaverhaus als künstlerische Interaktion vor Ort die zeitgenössische Nachfolge an und bringt sich selbstermächtigt ins zeitpolitische Geschehen ein. Allein aus diesem Gesichtspunkt wirkt es anregend für gesellschaftliche Diskurse.
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WISSENSWERT
Ein Ort, der Dynamik und Ruhe auslotet
Lebensnah palavern
Entgegen seiner bautechnisch stabilen Konstruktion erscheint der Pavillon beim Näherkommen dynamisch und in sich beweglich. Im Zugang auf das Kunstwerk kippen die Linien, spreizen sich die Streben vermeintlich weit in den Raum, als optischer Effekt. Die farbigen, wie Mikadostäbe tanzenden Balken verleiten dazu, um die Skulptur herum, sogar durch sie hindurch zu gehen. Ein Besuch im Palaverhaus wird von selbst spontan und spielerisch. In den Boden eingesenkte rote und himmelwärts aufstrebende blaue Dreiecke kreuzen sich wie zur Form eines Yantras, einer fernöstlichen Meditationsform, die auf geometrischen Grundformen beruht. Für Menschen, die es besuchen, wird das Palaverhaus zum Ort, der Dynamik und Ruhe kreativ auslotet. Wo einst das kolonialistische Kriegerdenkmal stand, steht heute eine Raumskulptur, die an Ort und Stelle Beweglichkeit, Reibung und die offene Auseinandersetzung initiiert. Die Kuppel als Dach verstärkt die Akustik des Standorts und schafft einen Klangraum, der zur Benutzung einlädt: Johannstädter*innen sind herausgefordert, ihre vielen verschiedenen Stimmen im Stadtteil verlauten, klingen zu lassen! Für mehr Palaver!
Mitunter trägt der Begriff „Palaver“, vor allem im Deutschen, einen leicht negativen Beigeschmack – gemeint ist das ewige Palaver als belanglos scheinende, sich im Kreis drehende Debatte, die außer viel Wind nichts bringt. Beim Palaver als Form des offenen Austauschs geht es aber gerade darum, Turbulenzen und Unstimmigkeiten nicht zu unterdrücken, sondern alles zu Gehör zu bringen, was vorliegt, um eine tatsächlich umfassende Sicht aller Beteiligten zu erhalten. So kann eine Sache ohne blinde Stellen für alle klärend ausgehandelt werden. In allen alten Kulturen wurden regulär Zusammenkünfte gepflegt, bei denen zum Wohl der Gemeinschaft sämtliche Betroffene gehört wurden, um die Gruppe entscheidungsfähig zu machen. In vielen Kulturen Afrikas gilt das Palaver als Form von großem Gespräch, zu dem die Beteiligten in den Kreis gerufen werden. Es geht darum, vor Entscheidungen locker ins Reden miteinander zu kommen und dabei das Gegenüber, mit dem gemeinsam eine Entscheidung zu erringen ist, besser kennenzulernen. Palaver ist lebensnah, authentisch und unmittelbar. Für die Johannstadt mit ihrer Vielfalt unterschiedlichster Menschen, Sprachen und kontroverser Stimmen ist das Palaverhaus gegenwärtig tatsächlich ein Geschenk. Der ganze Artikel von Anja Hilgert unter > www.johannstadt.de/orte/palaverhaus-von-georg-karl-pfahlersachsenallee-johannstadt
ZEILE Palaver
Einladung an alle in und um die Johannstadt • Zusammenkommen unterm Kuppeldach • Lichtdurchlässig und spielerisch ins Gespräch kommen • ZEILE-Themen mit Lesungen und kulturellen Beiträgen • Eine Unterhaltung mit offenem Ausgang • Für Fragen und Antworten über Wissen und Unwissen • Sinn und Unsinn im Stadtteilleben
Termine unter johannstadt.de Anmeldung zum ZEILE-Newsletter unter redaktion@johannstadt.de
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KENNTNISSE & FÄHIGKEITEN
„Als Köchin ist meine Geheimzutat Zimt, manchmal auch Muskatnuss. Mit diesen Gewürzen gelingt jedes Gericht. Am liebsten koche ich für meine Familie und Freunde. Seit meiner Kindheit ist mein Lieblingsessen Spaghetti.“ Bettina S.
“Ich weiß etwas, was keiner weiß: Dass Pfefferkuchen keine Lebkuchen sind! Pfefferkuchen bestehen aus zwei verschiedenen Teigen: Gewürzteig und Honigteig. Lebkuchen werden aus nur einem Teig hergestellt. Damit die besonderen Aromen sich entfalten können, muss der Pfefferkuchenteig vier bis sechs Monate im Keller reifen bevor er weiterverarbeitet wird. Der Pfefferkuchen ist ein Manufakturprodukt, d.h. er wird nicht in der Fabrik hergestellt, sondern er entsteht mit viel Handarbeit und Liebe – und vor allem ohne Zusatz – und Konservierungsstoffe.” Antje Wehner
„Die Standorte der Händler auf dem Markt dürfen nicht verändert werden! Die Leute wissen genau, hier steht der Bäcker oder der Fleischer oder der Pfefferkuchenmann. Wenn der drei Meter daneben steht, dann wird der komplett ignoriert und verkauft nichts. Wenn der Honigmann fünf Meter von seinem gewohnten Platz entfernt steht, wird der nicht gesehen und auch nicht von den Kunden gesucht. Der hat an seinem Platz zu stehen, denn nur dort kann er verkaufen. Das weiß ich, weil ich das schon 20 Jahre mache.“
Wieso werden aus dem
Bönischgarten die Sitzbänke weggeschafft?
Wo in der Johannstadt blüht es am schönsten?
Gustav Göhler 23
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Selbstorganisierte Freiräume Lernen und Lehren
Verschwundene Orte
Direkter Kontakt (ohne Maske)
Frauenrollen
Gefühle kann man nicht übersetzen
Innehalten
Mein Lieblingsrezept
Muttersprache
Wie relevant ist die Kunst?
Verlorene Erinnerungen
Bücher aus Papier
Gemeinschaftlich genutzte Gärten
Postkarten verschicken
Geografischer Überblick
Zusammenhalt Verbindlichkeit & Nachbarschaft
Alte Berufe
Umarmungen
Unverplante Zeit Das Spielen auf der Straße
Autonomes Wissen
WBA – Wohngebietsausschuss der Nationalen Front (in der DDR)
Unterschätztes Wissen „ARK Dresden – Arche für unterschätztes Wissen“ fand statt als kleines Festival, als Ort der Begegnung und des Austauschs am Elbufer vom 09. – 12. Juli 2021. Auf der Personenfähre Johanna gab es Mini – Performances zu erleben über individuelles Wissen, Erfahrungen und Kenntnisse, die im Laufe der Zeit und aufgrund gesellschaftlicher Veränderung nicht verloren gehen sollen. Die hier abgedruckte Auswahl entstammt Geschichten und Erfahrungen, die wir im Vorfeld mit unseren kleinen Mobilen Arche in der Johannstadt und in längeren Gesprächen mit verschiedensten Menschen gesammelt hatten. Zurück am Ufer luden wir auf Inseln des unterschätzten Wissens zum Austausch darüber ein.
Hier fanden auch viele weitere partizipative Kunstaktionen statt, wie z. B. das gemeinsame Comiczeichnen mit Nazanin Zandi, Collection von Josef Panda, ein Podcast von Schüler*innen der 101. Oberschule mit Jarii van Gohl und die Möglichkeit, auf einer interaktiven Elbe-Karte des Konglomerat e. V. Zukunftsvisionen beizusteuern. ARK Dresden ist der lokale Teil des Europäischen Projekts ‚Moving Borders‘, das von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste initiiert und durch das Creative-Europe-Programm der EU gefördert wurde. Kooperationspartner waren Konglomerat e. V., Kulturtreff Johannstadt e. V., missingdots Dresden und das Montagscafé am Staatsschauspiel Dresden. von Katja Heiser
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VERLORENES WISSEN
Verschwundene Orte
Postkarten
Landeinwärts der Elbwiesen sind die vernarbten Gesichter der Johannstadt. Ich wohnte mal dort, in der Blumenstraße 63. Diese Straße mit ihren sandsteinernen Altbauten endet abrupt vor einer Plattenbauwand. Einmal besuchte mich ein Freund. Er suchte ewig nach meinem Haus. Er hatte sich fälschlicherweise die Nummer 36 notiert. Ein Zahlendreher. Erstaunt stellte er fest, dass es diese Nummer nicht gab. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Häuser der Straße neu zu nummerieren. Start bei der 60 – Ende bei 106. Blumenstraße Nummer 1 bis 59 ist eins der vielen Löcher von 1945.
Wissen Sie noch? Früher bekam man mehr Post! Briefe und Postkarten. Im Urlaub suchte man die schönsten Motive aus. Und schickte sie nicht per WhatsApp, sondern mit einer Briefmarke versehen. Diese praktischen Bilder, die dann gleich am Kühlschrank oder über dem Schreibtisch oder über dem Bett ihren Platz fanden. Nur ein Bild! Und ein paar Worte. „Hab an dich gedacht!“, „Schau mal, wie schön es hier ist.“ Oder die alltäglichen Nachrichten, wenn der andere nicht zuhause war oder zu weit weg wohnte. „Lieber Manfred, hilfst Du beim Vorrichten? Wir treffen uns am nächsten Samstag um 9 Uhr.“ Man hatte ja kein Telefon!
von einer Bewohnerin der Johannstadt
Lehren und lernen von Housam
Ich war Mat Mathelehrer in Syrien. Hier ist es nicht möglich für mich, als Lehrer zu arbeiten, das ist halt ein Problem mit der Sprache. Ich hab in Deutsch schon A2, B1 und B2 gemacht. C1 hab ich dreimal angefangen. Das erste Mal habe ich abgebrochen, weil mein Vater gestorben ist, das zweite Mal hatte ich einen Bandscheibenvorfall und beim dritten Anlauf kam dann Corona und der Kurs fiel aus. Ein Online Kurs C1 ist nicht möglich, wir haben schlechtes Internet und dann sind ja zur Zeit alle drei Kinder zu Hause, zwei davon teilen sich den Computer und machen selbst Homeschooling. Aber als Mathelehrer zu arbeiten hat mir gut gefallen.
von einer älteren Dame
Innehalten von Hasan
Gibt eine H Handvoll Sand von einer Hand in die andere. Was ich am meisten vermisse, ist die Einkehr. Das Innehalten. Der Tag vergeht hier viel schneller. Der Tag in Syrien hatte genauso viele Stunden, aber er war irgendwie länger und man hat an einem Tag viel mehr erlebt als hier. Hier arbeitet man den ganzen Tag vor sich hin. Man kommt nie zur Ruhe. Man vergisst sich. Und man vergisst Gott. In meiner Heimat wird man fünf Mal am Tag daran erinnert. Man ist mit sich, man ist mit Gott. Man hält inne. Azan heißt es. Das ist, wenn der Muezzin zum Gebet ruft. Fünf Mal am Tag. Man hört es überall. Ich habe es mir hier als App heruntergeladen. Spielt es ab. Aber das ist nicht das Gleiche. Ja, … ich vermisse diese Momente am Tag. Sie haben auch etwas Gemeinschaftliches, alle beten gemeinsam, weil sie gleichzeitig beten. Das fehlt mir.
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VERLORENES WISSEN
Gegen das Vergessen queerer* Menschen Ich habe Lili Elbe kennengelernt durch den Film “The Danish Girl”, der ihre Lebensgeschichte porträtiert. Damals war ich fasziniert von der unglaublich starken Frau, die sich 1930 für eine unerprobte Operation entschied. Diese sollte ihr endlich ihr richtiges Geschlecht verleihen. Lili Elbe war eine dänische Malerin, die in einem männlichen Körper geboren worden ist. Mithilfe des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld in Berlin und später von Kurt Warnekros an der Frauenklinik Dresden, unterzog sich Lili Elbe der ersten geschlechtsangleichenden Operation weltweit. Damit hatten sie und ihre Ärzte einen Meilenstein in der medizinischen Geschichte gesetzt. Nach zwei erfolgreichen Operationen wollte Lili Elbe ihrem Wunsch nachkommen, selber einmal Kinder zu bekommen und ließ sich eine Gebärmutter transplantieren. Drei Monate später starb sie infolge von Komplikationen. Als ich nach Dresden kam, erfuhr ich, dass ihr Grab sich auf dem Trinitatisfriedhof befindet. Ich war voller Aufregung, also verknüpfte ich einen Wochenendspaziergang mit einem Besuch von Lili Elbes Ruhestätte. Vor diesem Grabstein zu stehen war für mich etwas ganz Besonderes. Es war das erste Mal, dass ich einer meiner queeren* Vorbilder so nah war und zu einem Ort gehen konnte, wo ihr gedacht wird. Denn Menschen mit einer diversen Sexualität oder Geschlechtsidentität werden in unserer Geschichte häufig gar nicht erwähnt. Sie werden ausgeklammert und vergessen. Als hätte es sie niemals gegeben. Aber das ist nicht der Fall! Seit es Menschen gibt, gibt es Menschen mit diversen Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten. Sei es in den altgriechischen Gedichten von Sappho, die von lesbischer Liebe berichten; Hijras, die als transgeschlechtliche Frauen seit der Antike ein fester Bestandteil des kulturellen Lebens Südasiens sind; Oscar Wilde, der wegen seiner Homosexualität 1895 verurteilt wurden ist; Magnus Hirschfeld, der als schwuler Mann in den 1920ern führender Sexualforscher war und sich für queere Menschen aller Art einsetzte oder Marsha P. Johnson, die als Transfrau entschlossen gegen die Unterdrückung queerer Menschen durch die New Yorker Polizei kämpfte. Die Liste lässt sich ins Unendliche fort28
setzen und doch begegnen wir diesen historischen Persönlichkeiten kaum in unserem Alltag. Wie kann es sein, dass Menschen, welche für ihre Rechte und die Rechte anderer gekämpft haben, einfach auf stumm geschaltet werden? Die Sichtbarkeit von Menschen mit diversen Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten in unserer Geschichtsschreibung ist unglaublich wichtig. Wenn queere Menschen und ihre Errungenschaften in unser Geschichtsschreibung auftauchen, haben junge queere Menschen Vorbilder, die ihnen sonst fehlen. Die queere Community ist sich dann ihrer Vergangenheit bewusst, welche identitätsbildend ist, denn man kann sich auf sie berufen und auf sie stolz sein. Wenn queere Menschen nicht in den Museen, Geschichtsbüchern, Denkmälern und Bildungseinrichtungen dieser Welt sichtbar gemacht werden, wird schnell vergessen, dass es geschlechtliche und sexuelle Vielfalt schon immer gab und immer geben wird. Dann werden die Stimmen wieder laut, dass dies alles nur eine Erfindung der Neuzeit sei, ein Trend. Queeren Menschen wird dann oft ihre Identität abgesprochen und ihnen gesagt ihre Identität sei nur eine Phase. Deshalb ist es so wichtig, dass das Grab von Lili Elbe wieder aufgebaut worden ist. Dass sie nach ihrem Kampf für eine Geschlechtsangleichung nicht in Vergessenheit gerät und dass es einen Ort gibt, wo wir hingehen und ihr gedenken können. Noch mehr freut mich, dass in der Johannstadt jetzt eine neue Straße nach Lili Elbe benannt wird. Somit wird ihre unglaubliche Geschichte sichtbar gemacht auf einem öffentlichen Platz. So wird ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. Ein Schritt gegen das Vergessen und für die Erhaltung des Wissens über ihren Lebensweg, über ihren Kampf und ihre unglaublichen Errungenschaften. von Frederike v. Bothmer Weitere Beiträge zu Lili Elbe unter > www.johannstadt.de/2021/04/ neue-strassen-neue-namen > www.johannstadt.de/2021/09/ pionierin-der-gleichstellung-zum-90-todestag-von-lili-elbe-am-12-september
*Queer: Beschreibt alle Menschen, die eine Sexualität und/oder Geschlechtsidentität haben, die von der Norm abweicht.
Frederike von Bothmer setzte im Rahmen ihres Freiwilligen Sozialen Jahrs im Johannstädter Kulturtreff das Projekt „Queere Platte“ um – mit Filmen, Workshops und der viel beachteten Fotoausstellung UNSICHTBAR.
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ARCHIVIERTES WISSEN
Wissen ist … Macht.
Wissen ist relativ.
Wissen ist gelerntes Wissen. Lernen muss man lernen.
Man sollte nie aufhören zu lernen. Nie aufhören bereichert. Es bildet.
Bildung ist Deine Zukunft. Wissen ist Deine Zukunft. Lerne,
bilde Dein Wissen, es ist Deine Zukunft! von Annett Bachmann
Von wo hat man die
beste Aussicht auf die Johannstadt?
Warum rollen
Bagger auf der
Stephanienstraße?
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ARCHIVIERTES WISSEN
Was sollen wir singen?
Über zehn Jahre ist es nun her, dass ich mit dre i Freundinnen das Lied lernte. Wir studierten „Kodamo moro“ gemeinsam in Bamberg un d teilten das Interesse Osteuropa. Eine von un für Lieder aus s fand dieses Lied auf ein er CD mit finnischen Lie sangen wir, was uns dern. Damals gefiel, gern auch Stücke , die für unsere Ohren klangen. „Kodamo mo ungewöhnlich ro“ war ein Stück für vier Stimmen, getrage Für mich klang es off n aber kraftvoll. en, nach großer Weit e und auf eine Art au der Text bedeutete, wu ch magisch. Was ssten wir damals nicht. Allein, dass das Lied au stammte, war uns beka s Mordwinien nnt. Mordwinien ist ein e Teilrepublik der rus tion, ungefähr 600 km sischen Föderaöstlich von Moskau lie gt die Hauptstadt Saran der Bevölkerung gehö sk. 40 Prozent ren zur Minderheit de r Mordwinen, die nebe die finno-ugrischen Sp n dem Russischen rachen Ersjanisch und Mokschisch sprechen. unsere eigene Version Wir gestalteten des Liedes, sangen es au f der Straße, bei Festen und Konzerten. Als ich 2016 zurück na ch Dresden zog, lernte ich einen Mordwinen zu ihm nach Hause ge kennen. Ich war fahren, um eine elektr ische Kaffeemühle abzu Ebay angeboten hatte holen, die er auf . Wir unterhielten uns eine Weile und er erz aus Russland komme. Oh ählte mir, dass er ne große geographisch e Kenntnisse über Russl fragte ich, aus welcher and zu haben, Region genau er komm e. „Mordwinien. Das Doch. Ich kannte es. Un kennt keiner.“ d ich erz ählte von „Kod amo moro“. Wahrsche auch eine der Stimmen inlich sang ich in seinem Wohnzimme r, bevor ich ihn zum Ko Dresden hatte ich nach nzert einlud. In meiner Rückkehr das Vo kalensemble „Treta Mo det, mit dem ich natür minka“ gegrünlich auch „Kodamo mo ro“ singe. Anfang 2020 brachte ich das Lied mit zum Johannstädter Plattenc meinsam mit Karoline hor, den ich geFriedländer und Jakob a Schönbrodt-Rühl lei mochte es die Teilnehme te. Auch hier verr*innen zu verzaubern . Eine der Mitsängerinn vor kurzem, dass das en erz ählte mir Lied nun auch begeist ert von ihrer Familie gesungen werde. Im Int in Sü dd eutschland ernet findet man mittl erweile mehrere Versi Übersetzung des ersjan onen, sowie eine ischen Textes, die mich doch sehr überrascht die trockene Jahreszei hat. Es geht um t: Was für ein Lied sollen wir singen? Was für ein Lied sollen wir beginnen? Wir werden ein Lied üb er einen Sommertag sin gen. Wir beginnen ein Lied über die trockene Jahres zei t. Das Lied der trockenen Jahreszeit ist: oh Wiese, oh Wiese. Kodamo moro minj mo ra Atano di kodamo, kodam o moro ustav
a ata(ja)no
Kidze chinj moro minj( i) mora Atano di kodamo, kodam o moro di ustava ata(ja )no Kidze chinj(i) morosj(i) vaje, luga Atano di manej shka an i morosj(i) vaj, luga, ad a lu(ju)ga
Der Plattenchor probt immer dienstags von 18 bis 20 Uhr im Johannstädter Kulturtreff. Neue Mitsänger*innen jeden Alters und ohne nötige Vorkenntnisse sind jederzeit herzlich willkommen.
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Die Johannstädter Schokoladenseite Gründerzeit: Die Schokoladenfabrik Clauß 1917 verlegte der Zuckerwarenfabrikant Bruno E. Clauß (1872–1930) die nach ihm benannte und 1914 gegründete Schokoladenfabrik aus der Leipziger Vorstadt auf die Grundstücke an der Hopfgartenstraße 28 und der Stephanienstraße 49. Um Süßwaren zu erschwinglichen Preisen anbieten zu können, importierte die Firma Kakao, Tee und Kaffee direkt aus den Herkunftsländern und vermarktete ihre Produkte über eigene Geschäfte und Lastwagen. In der Fabrik und den Filialen arbeiteten bis 1943 rund 300 Angestellte. Ein Werksverkauf befand sich in der Elisenstraße 60, Ecke Hopfgartenstraße.
Werbeanzeige der Schokoladenfabrik. Quelle: Adressbuch der Stadt Dresden, 1934
Das rote Backsteingebäude der Schokoladenfabrik überstand als einziges Gebäude der früheren Bebauung die Bombardements vom Februar 1945. 1949 konnte die Produktion wieder aufgenommen werden und Walter Clauß führte die Geschäfte bis März 1953 fort. Dann erfolgte die Zwangsenteignung, das Unternehmen wurde aus dem Handelsregister gestrichen, die Maschinen des Betriebs gelangten an den VEB Dresdner Süßwarenfabriken „Elbflorenz“. Die früheren Claußschen Firmengebäude gehörten 32
Gussformen für Schokoladenherzen, 19.Jahrhundert, Antiques&Garden Dresden-Loschwitz
anschließend zum Plattenwerk an der Gerokstraße. 1996 erhielten die Erben von Bruno E. Clauß die Schokoladenfabrik zurück. Seit 1999 vermietete die Erbengemeinschaft den Bürotrakt des Gebäudes zu erschwinglichen Konditionen hauptsächlich an Studierende der Architektur. 2019 gründete sich der Schokofabrik e. V., der den westlichen Gebäudeteil mit Kunstateliers, Grafikbüros und den Ballroom Studios für Musikproduktion nutzt. 2019 erwarb der Kinderschutzbund Ortsverband Dresden e. V. den östlichen Gebäudeteil mit der ehemaligen Werkhalle und übernahm damit eine verfallene Industriebrache mit einem stark sanierungsbedürftigen Gebäudekomplex, der nun umgebaut und neu erschlossen wird.
Der Standort der ehemaligen Schokoladenfabrik ist Teil des aus zwölf Stationen bestehenden historischen Rundweges in der Johannstadt. Eine Infotafel wird künftig an der Ecke Hopfgarten-/Pfeifferhannsstraße unter anderem auch über die Geschichte der Schokoladenfabrik informieren. Weitere Infos unter > www.johannstadt.de/orte/standort-3-hopfgartenstrasse
Original Verkaufstüten der Schokoladenfabrikation Bruno Clauß
Aus dem Leben erzählt: Bärbel Franz, Großnichte des Süßwarenfabrikanten Clauß Bärbel Franz kommt seit vielen Jahren zwei bis drei Mal im Jahr nach Dresden – aus einem inneren Bedürfnis heraus, denn ihre Bildwelt ist reich an Kindheitserinnerungen. Ihre Eltern sind beide Dresdner gewesen und Bärbel Franz hat sehr viel Zeit mit ihren Großeltern verbracht: „Mein Großvater, der Straßenbahner war, hat mir die Stadt gezeigt und ich habe ein unheimlich lebendiges Bild von Dresden. Ich bin ihm heute noch dankbar“, erzählt Bärbel Franz (Jahrgang 1937) und erinnert sich an das alte Carolahaus: „Da war ein schöner Teich mit Goldfischen, wo ich immer Pause gemacht habe mit meinem Opa. Wir haben auf der Bank gesessen und mein Opa hat mit den verwundeten Soldaten gesprochen, die im Krieg hier untergebracht waren.“
„Süßwaren für den kleinen Mann“: Die Gründerzeit Bärbel Franz ist eine Großnichte des Gründers der Schokoladenfabrik Bruno Clauß, der sich in der Johannstadt seinen Namen gemacht hat. Dresden war im 19.Jahrhundert neben Leipzig eines der Zentren deutscher Schokoladenfabrikation, vielleicht sogar die Stadt mit den meisten Süßwarenindustriellen. „Der Firmengründer Bruno Clauß hat in Pieschen angefangen“, berichtet Bärbel Franz, „die haben Bonbons gekocht in einem Waschkessel. Mein Onkel, der Sohn Walter Clauß‘, erzählte mir, dass sie als Kinder die Bonbons nach der Schule eingewickelt haben und dann mit dem Vater auf die Jahrmärkte gezogen sind, um die Bonbons zu verkaufen. Die Produktion im großen Stil haben sie um 1917 in der Johannstadt angefangen. Bruno Clauß’ Gründungsgedanke war, dass auch ‚der kleine Mann‘ sich Süßwaren leisten können sollte. Da gab es z. B. den Lebenswecker, ein Pfefferminzbonbon. Man fertigte einen rosa oder weißen Strang in einer Rolle – schräg geschnitten ergibt das kleine Pyramiden: Das war der Renner. Bruno Clauß fertigte zunächst Süßigkeiten aus Fondant, jener weichen, pastosen Zuckermasse, ergänzt durch die verschiedensten Gewürze, z. B. hatte er in der Johannstadt angefangen mit Baumkringeln aus Fondant, die kann man noch in Schokolade tauchen oder zu Ostern gab es die Süßigkeiten, die wie Spiegeleier aussehen. Dann wurden auch Riegel aus dunkler Schokolade gefertigt, die während des Krieges in Papppapier eingewickelt waren. Dieses Firmenmotto „Schokolade und vor allen Dingen Süßwaren für den kleinen Mann“ hat der Sohn Walter Clauß fortgeführt. Die Schokoladenfabrikation Clauß ist in der Reklame nie groß aufgetaucht, weil Walter Clauß nicht einsah, den Aufpreis dafür seiner Kundschaft abzuverlangen: „Die Ware muss Werbung genug sein“, das war sein Prinzip.
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Erst die Maschinen, dann die Konditorei Wie sein Vater wollte Walter Clauß auch Konditor werden, doch das passte nicht in die Geschäftsplanung: ‚Wir müssen selbständig sein‘, hatte sein Vater gesagt, ‚du musst Maschinenbauer lernen‘. Also lernt Walter Clauß bei IM Lehmann in Heidenau Maschinenbau. Dadurch kam es später zur direkten Zusammenarbeit der Schokoladenfabrik Clauß mit IM Lehmann, dem damals weltweit anerkannten Hersteller für Maschinen zur Schokoladenproduktion. Es gab ein Abkommen: Die Maschinen kamen unmittelbar in der Schokoladenherstellung Clauß zum Einsatz und mein Onkel führte interessierte Kunden zur Besichtigung in der laufenden Produktion: Die Maschinen in Betrieb getestet zu sehen, war die beste Reklame. Denn beide Beteiligten hatten zu der Zeit aus nichts heraus ihre Firmen gegründet. Dann kam der Krieg und nach dem Bombardement auf Dresden war nahezu alles kaputt. Allein da, wo jetzt der Kinderschutzbund baut, war das Gebäude der Schokoladenfabrik stehen geblieben und einige Maschinen hatten es einigermaßen überlebt. Walter Clauß fing gleich nach Kriegsende wieder an, denn durch seine Lehre konnte er die Maschinen selber wieder in Gang bringen. Nach dem Krieg hat er beständig in der Fabrikation mitgearbeitet und dabei auch gelernt, Konditoreiwaren herzustellen. Letztlich beherrschte er beides: Die Herstellung von Konditoreiwaren und die Betreuung der Maschinen. Das ist auch meine Empfehlung: Alles machen, was über den Weg kommt. Man weiß nie, wann man’s brauchen kann. Du darfst Dir für nichts zu schade sein – das sage ich allen. Wenn der Anschluss an das, was man sich vorgestellt hat, nicht gleich kommt, muss man doch irgendetwas machen und das Ziel weiter im Auge behalten. Es kommt irgendwann der Tag, wo Du dankbar bist, auf die Erfahrungen, die Du in der Wartezeit gemacht hast, zurückgreifen zu können.
Enteignung und Neuanfang im Westen Walter Clauß hat 1949 in der Johannstadt wieder angefangen. Zwischen 1950 und 52 war die Produktion wieder angelaufen. 1952 ist er dann enteignet worden. Der sozialistischen Staatsidee zufolge wurden unter der sowjetischen Besatzungsmacht in der DDR Firmenvermögen und Produktionsmittel enteignet und in Volkseigentum überführt. Walter
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Clauß hatte noch den Versuch unternommen, seine Maschinen zu retten, aber er hat nichts behalten. Und er hatte geahnt, dass es nicht weiter geht. Zudem war er lungenkrank und wusste irgendwo auch, dass er mit dieser Krankheit nicht weiter im Lebensmittelbetrieb arbeiten können würde. Also galt der Entschluss, schnell gesund zu werden. Er fuhr zur Kur in ein anerkanntes Lungenheilsanatorium im Westen. Als seine Firma am 25.04.1953 aus dem Handelsregister gestrichen wurde, war das der Ausschlag, nicht mehr zurückzukehren. Mein Onkel hatte sich in Dresden solch einen guten Namen gemacht, dass sich Menschen an seiner Seite für ihn verbürgten. Ihm wurde von einer Süßwarenkette im Westen der Posten des Generalmanagers angeboten, doch mein Onkel lehnte das Angebot ab, weil er unbedingt unabhängig und selbständig bleiben wollte, was er sein ganzes Leben lang gewesen war. Bei meinem Onkel paarten sich zwei Charaktereigenschaften, das war seine Sturheit auf der einen und eine große Weitsicht auf der anderen Seite. Z. B. hatte er noch zu Lebzeiten seines Vaters 1932 für die Angestellten der Firma Clauß einen Sozialfonds eingerichtet. Das hatte viele Jahre später die Folge, dass Leute, die schon früher bei ihm gearbeitet hatten, als sie hörten ‚der Clauß fängt wieder an‘, zu ihm kamen, um wieder bei ihm zu arbeiten. Viele der früheren Geschäftsfreunde waren bereits vor ihm im Westen und denen galt: ‚Wenn der Clauß etwas anfängt, das unterstützen wir.‘ Als er wieder neu begann, hatte er faktisch nichts. Dennoch gab ihm aufgrund guter Fürsprecher eine Bank Kredit. So fing er mit 60 Jahren noch einmal ganz klein an und hatte schon bald ein kleines Filialnetz aufgebaut. Walter Clauß hatte ein besonderes Geschick – er konnte wahnsinnig gut einkaufen. Im Ladengeschäft haben er und seine Frau in diesen Anfangsjahren voll mitgearbeitet und keinen Pfennig dafür einberechnet. Nach meiner Flucht aus der DDR im November 1957 stieg ich im Ladengeschäft bei meinem Onkel mit ein und arbeitete als Angestellte mit eigener Sozialversicherung. Zugleich wohnte ich bei Onkel und Tante im Haus. Im Weihnachtsgeschäft haben wir am Ende oft barfuß gearbeitet, weil wir nicht mehr konnten – so gut lief die Nachfrage nach den Produkten. Leider gab mein Onkel mir den Raum nicht frei, mich mehr an den Geschäfte zu beteiligen. Ich hatte Interesse am Marketing, doch am bereits erwähnten Starrsinn ging kein Weg vorbei. So begriff ich, meine eigenen Wege gehen zu müssen.
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Als im Westen die ganzen Süßwarenketten aufkamen, konnte Walter Clauß nicht mithalten, dafür war er nicht groß genug. Und doch habe ich von ihm gelernt: Du kannst nur mit einem Beispiel zeigen, dass es sich lohnt zu kämpfen.
Mein Onkel hat noch mitbekommen, dass seine Firma in das Süßwarenkombinat „Elbflorenz“ überführt wurde. 1978 ist er in Gelsenkirchen, wo er neu angefangen hatte, verstorben. Im Jahr darauf verstarb auch seine Frau.
als eine neu in Kraft gesetzte Brandschutzverordnung von uns nicht eingehalten werden konnte. In Dr. Ehwers, dem damaligen sehr engagierten Amtsleiter des Stadtbezirksbeirats, hatten wir einen Unterstützer an unser Seite. Die Räumlichkeiten wurden soweit gesichert, dass Jugendliche sich hier mit eigenem Einsatz, dem mein Respekt noch heute gilt, einen Aufenthaltsort gestalten konnten. Dieses Projekt unterstand dem Patronat des Kinderschutzbundes und war geduldet. Aufgrund von wiederholtem Einbruch und Vandalismus im Gebäude kam die
Nach der Wiedervereinigung Das Gebäude der alten Schokoladenfabrik gehörte dann dem Gelände des ehemaligen Plattenwerks an. Ein Berliner Investor hat es gleich nach der Wende erworben. Da waren wir Erben schon aus dem Grundbuch gelöscht. Wir haben gekämpft, daß hier Regelungen in den offenen Vermögensfragen getroffen wurden und schließlich wurde uns Ende 1996 unser Eigentum zugesprochen, und wir sind wieder ins Grundbuch aufgenommen worden. Mir und meinen Brüdern als Erben lag an der Erhaltung und einer gemeinnützigen Weiternutzung der Gebäude, doch wir konnten gerade das Nötigste an Instandsetzung leisten. Dass nur die Unkosten Der westliche Gebäudeteil mit ehemaliger Werkhalle 2016
Der östliche Gebäudeteil der Schokofabrik als Atelierhaus Hopfgartenstraße 1a
gedeckt waren, vermieteten wir das Backsteingebäude, das noch in einem besseren, wenn auch keinem guten Zustand war, an Künstler*innen und Student*innen als Arbeitsräume. Daraus hat sich wenig später der Schokofabrik e. V. gegründet. Den anderen Gebäudeteil mussten wir schließen,
Nutzung jedoch im März 2005 an ein jähes Ende. Durch die Zusammenarbeit von Stadtteilakteur*innen im damaligen Quartiersbeirat der Johannstadt kam schließlich wieder Bewegung in die lange brach liegende Geschichte der Schokoladenfabrik: Aus dem Vorstand des Schokofabrik e. V. wurden 2016 Überlegungen für eine Instandsetzung und Nachnutzung des Gebäudes vorgetragen. Damit war eine Initialzündung für das Projekt des Kinderschutzbundes gegeben. Als dann später die Anfrage im Stadtteil im Raum stand, hat unsere Erbengemeinschaft es dem Kinderschutzbund möglich gemacht, das Nebengebäude zu guten Konditionen zu erwerben: Mir ist wichtig, so gut ich kann, etwas zurückzugeben. Bärbel Franz zu Besuch auf dem Bönischplatzfest 2021
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Das Integrative Familienzentrum (IFZ) Der Umbau eines Großprojektes in der Johannstadt hat begonnen - erst einmal mit Aufräumen. Wo über die Jahre die Gemäuer der ehemaligen Werkhalle der Schokoladenfabrik immer mehr verfallen sind und wildes Wachstum das einstige Industriegebäude überwuchert hat, ist seit Frühjahr 2021 Bewegung auf der Baustelle, um den erhaltenswerten Grundbestand an historischem Mauerwerk freizulegen. Geplant ist ein neues Gebäude, dessen Architektur Geschichte erzählt und gleichzeitig modernsten Anforderungen eines zeitgenössischen Begegnungszentrums entspricht. Der backsteingemauerte Schornstein, der als Relikt alter Zeiten über die brach liegende Fläche hinausragt, könnte für die Johannstadt sogar eine identitätsstiftende Wirkung haben, der aus ihrer reichen Geschichte kaum ein Wahrzeichen geblieben ist. EG Die ehemalige Werkhalle der Schokofabrik wird
als glasüberdachter Innenhof inszeniert. Der lichte, offene Raum wird mit Sitzelementen, Hochbeeten, eingepflanzten Bäumen und einer mehrsprachig sortierten Stadtteilbibliothek als großzügiger Treffpunkt gestaltet, den Jung und Alt des Stadtteils als Aufenthalt und Begegnungsort nutzen können. Ein begrünter Hof, der nach außen den Blick hält zu einem kleinen angelegten Obstgarten, einem Basketballfeld für die Einen und Sitzmöglichkeiten um die Bäume für die Anderen.
1.OG In der ersten Etage wird sich die Geschäftsstelle des Kinderschutzbundes befinden, mit Beratungs- und Fortbildungsangeboten zu Kinderschutz, Kindeswohlgefährdung und Ehrenamt. Außerdem werden das Team der Ambulante Hilfen zur Erziehung, die Fachberatung des Bundesprogramms „Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ und der
Jugendclub „Eule“ mit einziehen. In einem kleinen Konferenzzentrum besteht die Möglichkeit auch für Stadtteilakteure und Privatpersonen, zwei Räume mit angeschlossener Küche und Sanitärbereich für individuelle Veranstaltungen zu mieten. 2.OG Im oberen und zugleich geschützten Bereich des Gebäudes wird die Intensivwohngruppe „Trampolin” Kindern und Jugendlichen ein temporäres Zuhause bieten, mit Aufenthalts- und Therapieräumen sowie einer Dachterrasse.
Entwurf und Planung von Sanierung und Ausbau der alten Schokoladenfabrik übernehmen Alexander Pötzsch Architekten, in enger Zusammenarbeit mit Fachplanern von ICL Ingenieur Consult GmbH und Petschow+Thiel Projektmanagement GmbH. Ingenieurbüro Röder steuert das Gesamtprojekt. Das Projekt wird mit Städtebaufördermitteln von knapp 4,2 Millionen Euro aus dem Förderprogramm „Investitionspakt – Soziale Integration im Quartier“ unterstützt. Bund und Freistaat Sachsen stellen 90 Prozent der Fördermittel, die Landeshauptstadt Dresden 416.540 Euro aus Eigenmitteln bereit. Bis spätestens 2023 sollen alle Arbeiten fertiggestellt sein.
Eine Industriebrache der Dresdner Johannstadt wird wachgeküsst: Die mit ihrem Schornstein stadtteilprägende, markante Fertigungshalle der ehemaligen Schokoladenfabrik wird saniert, umgebaut und erweitert. Der ruinöse Baukörper wird erweitert, die Fertigungshallen zukünftig als zwei Innenhöfe genutzt. – Alexander Pötsch Architekten BDA
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Im Gespräch Heike Heubner-Christa ist in der Johannstadt ein Urgestein: 1993 als gelernte Erzieherin in den Stadtteil gekommen, hat sie hier viele Jahre direkte Familienhilfe geleistet. Der Kinderschutzbund Ortsverband Dresden e.V. nahm 1991 die Arbeit auf, mit dem anonymen Kinder- und Jugendtelefon als erstem Angebot. Unter der Devise „Starke Eltern, starke Kinder“ betreibt der Kinderschutzbund seit Ende der 1990er Jahre kontinuierliche Aufbauarbeit im Feld der Erziehungshilfe. 23 Jahre mit Heike Heubner-Christa in der Geschäftsführung. Nun verspricht der Traum vom eigenen Haus in der Johannstadt wahr zu werden. ZEILE: Wenn Sie sich zurückbesinnen: Was waren in den Anfängen des Kinderschutzbundes prägende Themen Ihrer Arbeit in der Johannstadt? H.H-C.: Wir haben damals im Team alle alles gemacht: Der Schwerpunkt der Arbeit lag auf den festen aufsuchenden Terminen mit Familien, die Hilfe zur Erziehung brauchten. Auf der Gerokstraße 5-11 wohnten nahezu ausschließlich Familien mit enormem Unterstützungsbedarf. Dort habe ich wirkliche Schicksale kennengelernt: Eltern, die in niedrig qualifizierten Arbeiten als Hilfsarbeiter oder Heizer beschäftigt gewesen waren, hatten nach der Wende ihre Jobs verloren, wurden in der neuen Zeit nicht mehr gebraucht. Die Menschen waren frustriert, desillusioniert, empfanden sich als Wendeverlierer. Die Bündelung an sozialem Notstand färbte sich auf die Kinder ab. Als 1994 die Kinderkrippe auf der Florian-Geyer-Straße 13 zur Vermietung stand, sind wir mit dem Kindertreff ‚Schlossgeyer’ und dem Jugendtreff ‚Basegeyer’ dort eingezogen. Die Einrichtungen wurden sofort Anlaufstellen, mit kostenfreien Angeboten für die Kinder, wo sie lachen, spielen, toben und grundständig essen konnten. ZEILE: Hat sich daraus das Motto des Kinderschutzbundes „Starke Eltern, starke Kinder“ entwickelt? H.H-C.: Anfangs wirkte der Name ‚Kinderschutzbund‘ auf viele Eltern nicht gerade vertrauenserweckend. Dabei ging es uns gerade darum, Eltern zu unterstützen, dass ihre Kinder bei ihnen in ihrem Zuhause bleiben können. Nie standen die Kinder allein im Fokus. Wir haben auf Augenhöhe mit den Familien alle Schritte ins Jugendhilfesystem gemeinsam erschlossen. Später im Sozialpädagogik-Studium habe ich gemerkt, dass das Schlagwort ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ genau das war, was wir intuitiv gemacht haben. Wir haben Elterntrainings entwickelt und Urlaubsfahrten für Familien angeboten. Das war eine sehr schöne Zeit. Kindern kann es nur dann gut gehen, wenn es den Eltern gut geht, deshalb unsere Devise: Starke Eltern, starke Kinder! ZEILE: Was waren weitere Meilensteine Ihrer Arbeit? H.H-C.: Wir mussten aus dem asbestverseuchten Gebäude auf der Florian-Geyer-Straße ziemlich Hals über Kopf ausziehen und waren dann drei, vier Jahre schon einmal in der Schokofabrik! Dort war eine win-win-Situation: Wir zahlten wenig Miete und trugen Sorge für die Verkehrssicherung im Gebäude. Trotzdem ist die städtische Förderung der Treffs damals plötzlich geplatzt. Das übrig gebliebene Team der erzieherischen Hilfen zog in eine
E r d g e s c h o s s -Wo h nung auf der Marschnerstraße. Von dort haben wir unter meiner Geschäftsführung dann angefangen, den Kinderschutzbund sukzessive aufzubauen mit den Angeboten, die bis heute prägend sind im Stadtteil: Kita Dürerstraße – Kita Sonnenblumenhaus – Haus Gerokstraße vor Hort der 102. Grunddem Abriss schule – Kindertreff JoJo – Abenteuerspielplatz (ASP) – Jugendtreff Eule. Wegen Abriss mussten wir auch dort wieder ausziehen und sind schließlich 2003 mit unseren Intensiv-Wohngruppen für Kinder und Jugendliche auf der Pfotenhauerstraße 45 im Herz der Johannstadt gelandet. ZEILE: Was bedeutet für Sie der Bau des Integrativen Familienzentrums? H.H-C.: Nach zehn Jahren mit viel Kraft für die Suche nach einem eigenen Haus kam es zu den glücklich gefügten, maßgeblich durch Frau Ostermeyer vom Stadtplanungsamt vermittelten Umständen, die uns den wirklich segensreichen Weg in die Schokofabrik gebahnt haben. 2018 war der Kauf, mit großem Respekt vor dem gigantischen Unternehmen. Mir ist besonders wichtig, dass das IFZ ein Familienzentrum wird, das inklusiv und vielfältig ist – das die Menschen in der Johannstadt in die komfortable Situation versetzt, die Wahl zu haben, dorthin zu gehen, wo sie sich wohlfühlen. Mein persönliches Baby ist die Stadtteilbibliothek im Inneren des Lichthofes, als riesige Sitztreppe gestaltet: In deren Stufen, die zugleich Sitzflächen sind, werden an den Rückwänden die Bücher stehen, die Menschen hier einstellen und andere sich kostenfrei ausleihen und mitnehmen können, sortiert nach den verschiedensten Sprachen, die im Stadtteil gesprochen werden. ZEILE: Wir bedanken uns für das Gespräch und sind gespannt auf die neuen Qualitäten des IFZ im Charme der ehemaligen Schokoladenfabrik Clauß. Beitrag von Anja Hilgert
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AUF EINEN BESUCH BEI...
In die Wahrhaftigkeit kommen Zu Yvonne Burmann führt der Weg einer genau formulierten Frage. Damit kommt man an ihre Wohnungstür und über die knarrenden Dielen des wohl letzten teilsanierten Hauses der Johannstadt ins Arbeitszimmer, das mit Yvonne Burmann liest Rattan-Stühlen, rundem wahr aus den Karten Tisch, großen Zimmerpflanzen und Blumendekor ein gastliches Ambiente abgibt. Mit der Wahrsagerin in Person, ihrem wallenden Rock, dem Silberschmuck ums Handgelenk kommt die Magie ins Zimmer. Und legt sich gleich wieder, denn im Moment des Gegenübers wird die Ausstrahlung klar und erdend. Die meisten Leute kommen zu ihr in einer belastenden oder verunsichernden Lebenslage, sind unruhig oder aufgeregt, wenn sie den Raum der Wahrsagung betreten. „Irgendwann kommen wir alle an einen Punkt, wo wir nicht alles alleine regeln können und nach Antworten jenseits unseres abgesteckten Radius’ suchen, und diese Erfahrung ist ganz wichtig, dass wir uns als Menschen gegenseitig brauchen.“ Yvonne Burmann spricht präzise, mit Kraft in der Stimme: „Wir sind alle nicht objektiv in unseren Themen. Durch unsere Herkunft, übernommene Ängste aus der Ahnengalerie oder Erfahrungen, die wir gesammelt haben, tragen wir Filter auf unserer Wahrnehmung, das schränkt die Blickweise ein.“ Die Weisheit der Karten eröffnet eine andere Tiefe zum Dasein: „Für meine Arbeit ist wichtig, dass die Leute wissen, was sie wissen wollen. Am Anfang verwenden wir genügend Zeit darauf, die Frage gut zu formulieren“, sagt Yvonne Burmann und greift nach dem in einem Tuch eingewickelten Kartendeck: „Mit dem Kartenlesen gebe ich Unterstützung, eine andere Perspektive einnehmen zu können, um ins bewusste Handeln zu kommen. Der Schlüssel liegt für jede*n an einer anderen Stelle.“ Die Tarotkarten, mit denen Yvonne Burmann arbeitet, sind nach zwanzig Jahren der Benutzung abgegriffen, die Farben verblichen: „Wenn eine Karte verloren geht, funktioniert das Deck nicht mehr – auf die Vollständigkeit aller Teile kommt es an.“ Sie übergibt die Karten zum Mischen – die Session beginnt. Die Symbolik der Bildkarten übt eine Anziehungskraft aus, noch bevor etwas zur Sprache kommt.
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Die geordnete Systematik der Schwerter, Stäbe, Kelche und Scheiben, den Kräften der Elemente entsprechend, birgt Tugenden wie Umsicht, Tapferkeit, Fülle, schlägt aber auch ins Gegenteilige von Fehlschlag, Enttäuschung oder Unterdrückung um. Die Bildsprache ist mächtig: Mit Aspekten wie dem Turm, dem Wagen, König und Königin, der Sonne, dem Narren verkörpert sich uraltes, religionsübergreifendes Menschheitswissen. Archetypen und absolute Begriffe heben Philosophie und Psychologie als Wissenschaften mit auf den Plan. Es komme auf Wahrhaftigkeit an, d.h. dem höchsten Wissen gegenüber treu zu sein, betont die Wahrsagerin. Das Wahrsagen war ein langer autodidaktischer Weg, den sie in früher Jugend zu gehen begonnen hat, mit etlichen Hindernissen verbunden, sagt Yvonne Burmann und fasst zusammen: „Im Grunde ist das Kartenlegen das Mittel für mich, schnell, aufschlussreich und in einer wahrhaften Tiefe Menschen zu helfen, dass sie eine Entscheidung für ihre weitere Entwicklung treffen können.“ Und die Karten wiegend fügt sie hinzu: „Es ist ganz wichtig, dass wir jede*r unseren Weg gehen, im Vertrauen ins Leben an sich, in der Freude am Leben. Die Freude ist wesentlich und was ihr am meisten im Weg steht ist der verbitterte Ernst, mit dem wir uns selbst zu wichtig nehmen.“ von Anja Hilgert Kontakt über > www.tarotkarten-legen-dresden.de
JOHANNSTADT POETISCH
Meine Johannstadt Ich wohne schon lange in Johannstadt und erzähle Euch, was das Viertel so zu bieten hat. Schöne alte Häuser, zum Teil saniert für sehr viel Geld, das ist es, was uns hier gefällt. Schaut man in manchen Hausflur ’rein, da staunt man nur, wie ist das fein! Stuckkanten und Figuren mit allerhand Gold, viele Gemälde mit manchem Mädchen hold. Dies alles erinnert an den Jugendstil, was herrschte damals noch für Zeit und auch Gefühl! Ja, an Johannstadt, da hängt man sehr, es hat doch ein gewisses Flair. Für Filmarbeiten rückte man hier schon öfters an, für „Stine“, „Jockey Monika“ und „Der Dolch des Badu Kkan“. Doch wie sah es früher hier einmal aus? Ein kleiner Laden fast in jedem dritten Haus! Frau Kühnel hatte für Kinder viel Süßes stets bereit und zu Reinholds um die Ecke, war’s schließlich auch nicht weit. Bei Scholz & Säuberlich war Gemüse frisch und lecker, Stollen wurden gebacken beim Fischer-Bäcker. Beim Fleischer Bernhard stand man lange an, damit man von der Wurstbrühe etwas abbekam. Schuster Kügler und Schuster Schmidt machten unsere Schuhe ganz, der Augenoptiker hieß Schicketanz. Wer musikalisch war begabt, ist zu Musik-Fiedler hin getrabt. Drogerie Voigt – auch nicht schlecht, Mutter und Sohn betrieben ein gutes Fachgeschäft. Hatte man einen Garten an der Elbe oder im Birkenhain, Kaufte man Samen und Pflanzen bei Güttlers gern ein. Sollten die Haare mal wieder etwas kürzer sein, so gingen die Herren beim Friseur Adler aus und ein. Und zu Rohr oder Krallack konnten wir gehen, die beiden Friseure machten die Damenwelt schön. Der Apotheker Wolf hatte die verschiedensten Pillen gegen Schmerzen, bei Buchausleihe Büttner gab’s was zum Lesen für die Herzen. Die Hertelklause gab es ebenfalls schon, dort konnte man holen das Bier im Siphon. Da fällt mir ein, noch fast zum Schluss, Die Frau im Milchladen hieß Pistorius. Das war mal so ein kleines Resümee über das alte, aber schöne Wohnkarrée.
von Inge Kirchhübel (Jg. 1939) 39
Mit Heinz Kulb hat die Stadtteilredaktion für die Reihe “Damals in der Johannstadt…” einen erfahrenen Johannstädter Autor gewonnen, der sich auf den Spuren „der ganz normalen Menschen“ durch Archive wühlt und mit spitzer Feder den Staub von vergangenen
Ereignissen pustet: Auf den Tag genau vor 108 Jahren wurde „der neue“ Fußballplatz an der Pfotenhauerstraße eröffnet – der heutige Platz des SSV Turbine.
Leider spielte das Wetter nicht mit. Sich wiederholende kräftige Schauer und herbstliche 12 Grad drohten an diesem Sonntag, den 5. Oktober 1913, die lang herbeigesehnte Eröffnung des neuen Fußballplatzes1 an der Pfotenhauerstraße in der Johannstadt zu einem Wasserbad werden zu lassen. Von Altweibersommer war nichts zu spüren. Dennoch strömten einige tausend Fußballbegeisterte in die neue Spielstätte. Darunter auch, von Mutti gut eingemummelt, Telegrafenmeister Egon Hempel aus der Pfotenhauer 37 mit seinen Söhnen Franz und August. Sie ergatterten günstige Plätze auf den Stehterrassen an der Seite zur Neubertstraße. Das imposante Bürgerhofspital rechts von ihnen wirkte in diesem diesigen Grau des Nachmittags wie ein verwunschenes Schloss aus dem Märchen.
Gott bewahre! „Wer sind die Leute dort drüben?“, fragte der jüngere August seinen Vater und zeigte auf die gegenüber befindliche Tribüne. „Der mit der Federbuschhaube ist der Kriegsminister Generaloberst Freiherr von Hausen. Daneben der schmächtige kleine Herr ist ein Staatsminister. Den Namen weiß ich nicht. Und rechts davon, der mittelgroße Dicke ist der Oberbürgermeister von Dresden, der Geheimrat Dr. Beutler.“ August hakte nach: „Was machen die hier? Spielen die etwa Fußball?“ Egon Hempel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Auch die Umstehenden grinsten. „Gott bewahre. Würden die spielen, wäre das für den Fußballsport eine Blamage. Und für den Gegner ein gefundenes Fressen. Nein, nein. Die sind hier, um den Platz an unseren SV
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GutsMuts zu übergeben. Haben ja auch viel Geld dafür ausgegeben.“
Erste Schritte auf dem Rasen Dann ein Fanfarenstoß und der Vorsitzende des Dresdner Sportvereins GutsMuts, Erich Knebel, begrüßte alle und dankte den Honoratioren aus Stadt und Königreich dafür, aus der alten Radrennbahn eine moderne Fußballspielstätte mit modernem Rasenplatz gemacht zu haben. Eine Spielanlage, die es mit allen Topplätzen in ganz Deutschland aufnehmen könne. Zwischenzeitlich liefen unter dem Beifall der Anwesenden die Spieler des SC GutsMuts und die Gastmannschaft des Berliner Torball- und Fußballklubs Victoria auf. „Schaut mal. Euer Onkel Max spielt auch mit!“ Dabei zeigte Egon auf den blonden Hünen in der Mitte der Lilien, den Bruder seiner Frau. ‚Lilien‘, so lautete der Spitzname für die Fußballer des SC. Wegen des Wappens und der Farben blau und weiß. Und der neue Sportplatz hieß im Volksmund ganz schnell „Pfote“. „Und ich war dabei, als wir 1902 unseren Verein gründeten. Wir, das waren ein gutes Dutzend Pennäler2 vom Kreuzschulgymnasium und ich mit noch einigen Fußballern vom Turnverein GutsMuths Striesen“, erzählte er stolz seinen Söhnen. „Damit der SC nicht mit dem Turnverein verwechselt wurde, ließ man beim GutsMuts des SC einfach das „h“ weg. Die Vereinsfarben blau und weiß kamen vom Mützenband der Schüler des Kreuzgymnasiums. Und das Wappen malte ein talentierter Gymnasiast.“ Anerkennende Blicke erntete er von den aufmerksam zuhörenden umstehenden Zuschauern.
FUNDSTÜCKE
Einzug in die leere Radsportarena „Wer war denn dieser GutsMuts, Vater?“, fragte nun, etwas mehr interessiert, der ältere Franz. Vater Egon war in seinem Element. Nun konnte er mit seinem Geschichtshalbwissen glänzen. „Der lebte vor hundert Jahren und hieß mit vollem Namen Johann Christoph Friedrich GutsMuths oder so ähnlich. In Quedlinburg soll er geboren sein, war ein Lehrer und ging dann nach Schnepfental in Thüringen und schuf dort den ersten deutschen Turnplatz.“ „Und wo habt ihr Fußball gespielt?“, fragte der Große. „Hier im früheren Radsportstadion?“ Egon schüttelte den Kopf: „Wo denkst du hin. Erst mal auf verschiedenen Wiesen. Anfangs an der Tittmannstraße, dann durften wir für ein Jahr auf den Sportplatz an der Stübelallee. Dann waren wir auf der Spielwiese drüben bei Anton´s3. Ich schied dann vom aktiven Spiel aus. Die Mannschaft nutzte noch mehrere Jahre die Wiese am Wasserwerk Tolkewitz. Und dann kam uns zugute, dass einige Pennäler von damals studiert hatten und inzwischen gute und einflussreiche Posten bekamen. Die Radsportarena stand inzwischen leer. So nahm man Einfluss auf die Stadt und die Staatsministerien. Und das Ergebnis seht ihr hier.“ Inzwischen wurden mehrere Hochrufe auf den König, den Kaiser und dem Verein dargebracht. Die Menschen hüpften von einem Bein auf das andere, um sich der nasskalten Witterung zu erwehren und warteten nur noch auf eins: Dass endlich das Spiel beginnen möge!
Das Spiel beginnt Victoria Berlin war nur mit einer abgespeckten Mannschaft angereist. Ihre Topspieler weilten zum Städteturnier in Wien. Aber sie machten es den Dresdnern trotzdem nicht leicht. Torwart Damsch vom SC GutsMuts bekam reichlich Arbeit und tosenden Beifall für jeden gehaltenen Ball und tolle Abwehrparaden. Und Onkel Max in der Verteidigerposition erhielt anfeuernde Rufe von seinen Neffen für jede Abwehrhandlung. Nach einer Viertelstunde nahm Winkler den Druck von den Lilien und schoss das erste Tor. Das zweite ballerte unter großem Jubel der Star des SC auf der Position des Rechtsaußen im Mittelfeld, Rudolf Leip, ins Netz von Victoria und Büttner machte das Trio zur Pause perfekt. In dieser besichtigten die Ehrengäste die Gesellschaftsund Unterkunftsräume. Der zweite Vorsitzende vom SC GutsMuts hob hervor, dass der Fußballsport in Dresden immer mehr Anhänger gewinne. Und alles diene der Ertüchtigung der Jugend, erwiderte er
unter dem wohlwollenden Nicken des Kriegsministers. Die Mitgliederzahlen im Bereich des Verbandes mitteldeutscher Ballspielvereine4 stiegen innerhalb der letzten 10 Jahre von 8.000 auf 180.000, warf dessen Vorsitzender in die Runde ein. Auch er wollte der anwesenden Presse zeigen, dass er da war. In der zweiten Halbzeit schoss Gäbler gleich zu Beginn Tor vier. Dann wachte Victoria endlich auf und kam zu einem Ehrentreffer. Aber GutsMuts war im Torrausch. Noch dreimal landete der Ball unhaltbar im gegnerischen Tor. Der Platz tobte vor Begeisterung. Durch einen Elfmeter kam Victoria zu einem weiteren Treffer. Am Ende stand es 7:2 für die Dresdner, wie in einem Bericht von der Sportplatzeröffnung in den Dresdner Neuesten Nachrichten am 7. Oktober 1913 zu lesen war. Aber die Berliner grämten sich nicht. Es war ja ein Freundschaftsspiel und man gönnte den Gastgebern ihren Sieg. Anschließend feierten beide Mannschaften einträchtig im neuen Vereinslokal bis in die Nacht hinein. Und Egon Hempel und seine Söhne gingen leicht verfroren, aber glücklich den kurzen Weg nach Hause. Das Abendbrot wartete. Der ganze Artikel von Heinz Kulb unter > www.johannstadt.de/2021/10/damals-in-derjohannstadt-die-lilien-von-der-pfote
Anmerkungen 1 In der Literatur und auf Websites der Wikipedia werden verschiedene Eröffnungsdaten präsentiert. Es gab aber nur für den 5. Oktober 1913 belegte Daten der Eröffnung des Fußballplatzes an der Pfotenhauerstraße. 2 Ein spöttischer Ausdruck aus der Studentensprache. So bezeichnete man im 18. Jahrhundert die Studenten des ersten Studienjahres, die mit Papier und Schreibzeug jede Vorlesung mitschrieben. Im 19. Jahrhundert wurde es zu einem Schimpfwort für Gymnasiasten, später ein Scherzwort für diese Schüler. 3 An der Elbe, unweit des heutigen Fährgartens Johannstadt gelegen. Seit 1898 der Stadt gehörig. Beliebtes Ausflugslokal und später auch Badeanstalt. 1945 bei der Bombardierung Dresdens zerstört. 4 Der Verband mitteldeutscher Ballspielvereine (VMBV) umfasste als regionaler Sportverbund etwa die Vereine aus den heutigen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, das damalige Sudentenland sowie einige kleinere Gebiete im heutigen Norden Bayerns, im Südosten Niedersachsens und im Süden Brandenburgs. Fotos: Harald Werrner, SSV Turbine Dresden e. V.
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DIE LETZTE ZEILE
ZEILEN-Märchen E w 1 – 1 Müller, 1 Tochter, 1 Esel, 1 geldgieriger König + 100 Mäuse – Müller: Tochter: Stroh OH, OH, OH zu Gold! HaHaHa … Nacht, König: Stroh zu Gold! Hahn kräht, nur Stroh, Du tot! Tochter: Ohweh, Ohweh, Ich weiß nichts! … Rascheln: Ich weiß! … Gib mir deine Kette! – Hahn kräht, Gold! OHOHOH! – Nacht, König: Mehr Stroh zu Gold! Hahn kräht, nur Stroh, Du tot! Tochter: Ohweh, Ohweh, Ich weiß nichts! … Rascheln: Ich weiß! … Gib mir deinen Ring! – Hahn kräht, Gold! OHOHOH! – Nacht, König: Viel Stroh zu Gold! Hahn kräht, Gold, Du meine Frau! Tochter: Ohweh, Ohweh, Ich weiß nichts! … Rascheln: Ich weiß! … Gib mir DEIN Kind! – NEIN, NEIN, DOCH … Oder war es MEIN Kind? Wer weiß? Weißt DU es? von Frank-Ole Haake
Zugeflogenes Fundstück, Finder: Torsten Görg
ZEILE – Stadtteilmagazin für die Johannstadt, Dezember 2021 HERAUSGEBER: Johannstädter Kulturtreff e. V., Elisenstr. 35, 01307 Dresden // Projekt: Plattenwechsel – WIR in Aktion Tel.: 0351 447 28 23 E-Mail: kontakt@johannstaedterkulturtreff.de www.johannstaedterkulturtreff.de Registernummer: VR 3735 Amtsgericht Dresden KONZEPT: Anja Hilgert, Meike Weid REDAKTION: Anja Hilgert, Matthias Kunert, Philine Schlick, Meike Weid AUTOR*INNEN DIESER AUSGABE: Annett Bachmann, Frederike v. Bothmer, Bärbel Franz, Frank-Ole Haake, Gerd Hammermüller, Katja Heiser, Marieluise Herrmann, Mohammad Ghith Al Haj Hossin, Anja Hilgert, Inge Kirchhübel, Heinz Kulb, Philine Schlick ABBILDUNGEN NACH FOTOGRAF*INNEN: ©Kristian: Titelfoto, 02, 17, 20, 24, 25, ©Anja Hilgert: 04 o., 05 r.o., 08 r., 15, 18, 22, 30 u., 32, 33 r.u., 38, 39, ©Victor Smolinski: 04 u., 06 l., 11 u., 23, 30 o., 31, ©Philine Schlick: 05 l. u. r.u., ©Meike Weid: 06 r., 07, ©Torsten Görg: 08 l., 42, ©Sigrid Böttcher-Steeb: 09, ©Karla Lenkeit: 11 o., ©Bertil Kalex: 10, ©Walter Kirschner: 12, 14, ©Gerd Hammermüller: 16 l., ©Theresa Wenzel: 16 r., ©Mohammed Ghith Al Haj Hossin: 19, ©René Zieger: 26, 27, ©Johannstädter Kulturtreff e. V.: 29, ©Bärbel Franz: 33 o., ©Johannstadt Archiv: 33 u., ©Günter Gonschorek: 33 l., ©Matthias Kunert: 33 r.o., ©Alexander Pötsch Architekten: 36, ©Harald Werrner: 40, 41 GESTALTUNG: Linda Kühne (lindakuehne.de) Gedruckt auf Recyclingpapier. Die Inhalte des Magazins wurden nach bestem Wissen und Gewissen durch Hinweise, Informationen und Adressen ergänzt. Der Johannstädter Kulturtreff e. V. übernimmt keine Haftung für die Aussagen und Inhalte Dritter.
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VORSCHAU
ZEILE 4 Thema: FREUNDSCHAFT
Erscheint im FRÜHJAHR/SOMMER 2022
Wo erlebst Du
Freundschaft? Mit wem?
Was bedeutet Freundschaft für Dich?
MITSCHREIBEN Die Themen der Johannstadt sind ungezählt wie die Steine am Elbestrand
– Alles ist einen Blick wert! SCHREIBST DU SELBST? Dann reiche gern Deinen Beitrag bei der Redaktion ein: Wenige Worte sind schon ein Beitrag! MAGST DU ERZÄHLEN? Die Geschichte kannst Du mit uns gemeinsam entwerfen, wir helfen mit Worten! Melde Dich, wir sind bereit für ein Treffen zu Deinem Thema! HAST DU SONST EINE IDEE? Hütest Du alte Fotos und willst sie aus der Kiste daheim befreien? Magst Du Geschichten erzählen, die Dir Bilder oder Dinge in Erinnerung rufen, die Du zuhause hast? Hattest Du neulich eine schöne oder seltsame Begegnung in Deiner Nachbarschaft? Über was machst Du Dir Gedanken, die vielleicht die Stadtteilredaktion *mit Dir* bewegen könnte? BIST DU ÄHNLICHER ODER ANDERER MEINUNG? Dann bereichere die Onlinebeiträge mit Deinem Kommentar auf johannstadt.de. HAST DU BUCHHALTERISCHES GESCHICK? Wir suchen ehrenamtliche Unterstützung für Abrechnungen und zur Betreuung unseres Spendenkontos! Rückmeldungen aller Art an redaktion@johannstadt.de
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