Digitaler Nachschlag 02/2011

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Die Zeitung für Medizinstudenten und junge Ärzte

ZEITUNG

Digitaler Nachschlag

Digitaler Nachschlag der Ausgabe 02/11 März/ April 2011 ∙ In Kooperation mit dem Georg Thieme Verlag ∙ www.medi-learn.de

Rostock setzt neue Maßstäbe

Bewerbung an der Charité

„Evolutionäre Medizin“

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Weltpremiere in der Abteilung Gefäßchirurgie des Uniklinikums Rostock gelungen: Hier operierte Oberarzt Privatdozent Dr. Carsten Bünger eine Nierenarterienverengung laparoskopisch.

Ich stehe im Wohnzimmer an den Computertisch gelehnt und starre auf den großen gelben Umschlag in meiner linken Hand: Eine Einladung zum Auswahlgespräch an der Charité.

Die Fakultät Leipzig führt neuen Studiengang „Human Evolution and Anthropology“ ein. Dieser wird ab dem Sommersemester die medizinische Lehre erweitern und ist einzigartig in Deutschland.

Famulatur im Emergency Room Vier Wochen zu Gast in Floridas Hauptstadt Tallahassee von Kirsten Standke (Fortsetung aus der MEDI-LEARN Zeitung 2/2011)

M

ein Arbeitsplan war für die erste Woche vorgesteckt. In dieser Woche sollte ich möglichst viele verschiedene Ärzte kennen lernen, um mir dann für die nächsten Wochen auszusuchen, mit wem ich gerne arbeiten würde. Obwohl natürlich jeder seinen eigenen Stil hat, ist die grundsätzliche Arbeitsweise doch recht ähnlich. In der Mitte einer jeden Unit ist ein Tresenbereich, welcher wiederum das Ärztezimmer mit dem Schwesternzimmer verbindet. Im Tresenbereich befindet sich ein Ständer auf dem auf Klemmbrettern jeweils ein Patientenaufnahmeblatt befestigt ist. Hier ist auch das Dringlichkeitslevel angegeben. Bei Dienstbeginn schnappt man sich nun das Brett mit dem höchsten Level, liest auf dem Weg zum Patientenzimmer die Notizen des Pflegepersonals zum Aufnahmegrund und führt dann erst einmal ein kurzes Aufnahmegespräch und eine symptombezogene Untersu-

chung durch. Meist hat das Pflegepersonal zu dieser Zeit schon das Blut abgenommen.

unterschIeDe DeutschlanD Ist Der famIly-Doctor

grÖssten zu

Nun werden mit dem Patienten weitere Untersuchungsschritte besprochen. Das war es erst einmal! Zurück im Arztzimmer kann man teilweise schon die Blutergebnisse ansehen, Röntgenuntersuchungen etc. anmelden. Handschriftlich erfolgt dann die Notiz aller bisherigen Maßnahmen (Anamnese, körperliche Untersuchung usw.). Jetzt ist für diesen Patienten erst einmal nichts mehr zu tun - und so geht es dann zum nächsten. Insgesamt hat jeder Arzt dann meist

um die 5 Patienten gleichzeitig, wobei er dann natürlich immer wieder zwischen den einzelnen Aufnahmen im PC nach eventuell neu eingetroffnen Ergebnissen der apparativen Diagnostik schaut. Das Verhältnis mit dem Patienten endet dann entweder mit der Übernahme des Patienten auf eine Station oder aber - und eigentlich der häufigere Fall - mit der Entlassung des Patienten nach Hause. Einer der größten Unterschiede zu Deutschland ist der Family-Doctor. Sobald der Patient ins Krankenhaus aufgenommen wird, kümmert sich sein Family Doctor (vergleichbar mit unserem Hausarzt) um den Patienten. Dieser kennt den

Patienten im Idealfall schon Jahre und betreut dann auch die Behandlung im Krankenhaus weiter. Der Unterschied ist für den Patienten lediglich, dass weitere Fachärzte in Konsilform hinzugezogen werden. Beispielsweise kommt ein KHK-Patient mit einem Myokardinfarkt in die Klinik, dann bleibt er natürlich stationär zur Überwachung und Therapie dort. Alle Regelanordnungen trifft weiter - wie auch vorher Zuhause - der Family Doctor und lediglich die speziellen Maßnahmen werden dann von den Ärzten der Kardiologie getroffen. Der Vorteil liegt vor allem darin, dass die Medikamente bei multimorbiden Patienten nicht hin- und hergesetzt werden, wie es

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Vier Wochen zu Gast in Floridas Hauptstadt Tallahassee Fortsetzung von Seite 1

in Deutschland leider häufiger der Fall ist. Auch hat der Patient weiter seine Bezugsperson und vertraut dem Arzt. Den Nachteil dabei kann man am ehesten spüren, wenn man auf der Station ist bzw. reichte es manchmal auch schon im ER, wenn

dann neben dem normalen Ablauf einfach noch 3-4 Family- Doctors dort herumwuselten… Trauma-Time bedeutet in der Regel, dass man über die Leitstelle (welche direkt im ER sitzt) schon ca. 30min vorher Bescheid bekommt, dass gleich ein Trauma kommt und auch mittels welchen Vehikels.

Der erste arzt, Welcher Das trauma zu gesIcht bekommt, Ist Der er-Doc In einer kurzen Absprache erfolgt, wer den Patienten annimmt, wobei immer auch ein zweiter der

Schicht ein Auge mit auf die Geschehnisse im Traumaraum hat und wenn nötig dazu kommt. Da bei Trauma-Patienten häufig keiner weiß, wie der Patient heißt, werden die Patienten einfach immer dem Alphabeth nach durchgezählt- Trauma Astro, Trauma Bravo usw. Gebracht werden die

Traumata von Paramedics - weder die RTW´s noch die Hubschrauber sind mit Ärzten bemannt. Notärzte in dem Sinne gibt es nicht und der erste Arzt, welcher das Trauma zu Gesicht bekommt, ist der ER-Doc. Dies hat auch zur Folge, dass der Tod (wenn er zum Beispiel unklar ist oder erst während des Transportes eingetreten ist) immer erst im ER erklärt werden kann. Ich habe einige Traumata gesehen, welche reanimationspflichtig (manchmal länger als 45min) waren und erst im ER dann entschieden wurde, diese einzustellen. Ein im wahrsten Sinne des Wortes großes Problem sind die Super-AdipositasPatienten. Mal ganz von der Kraft,

die man zum Reanimieren braucht, sind diese häufig extrem schwer zu intubieren. Eine Patientin konnte keinen ZVK bekommen, weil eben noch nicht einmal die Clavicular zu tasten war, von der nicht einsehbaren Leiste ganz zu schweigen. Während meiner Zeit habe ich so einige Trauma-Patienten gesehen, wobei erst einmal alles Trauma genannt wird, bei dem Lebensgefahr

besteht. Die Trauma-Patienten werden mit Trauma (Vorname) und Astro ( Alphabethfolge… Nachname) benannt. Leider habe ich auch viele Kinder gesehen von Status Asthmaticus, über plötzlichen Kindstod bis hin zu einem Schulbusunfall.

DIeser katastropheneInsatz verlIef unglaublIch georDnet

Letzter war ein überaus seltenes Großereignis: denn plötzlich wurde über die Leitstelle bekannt gegeben, dass ein Schulbus mit über 30 Kindern zwischen 6-18 verunglückt sei auf dem Highway und innerhalb der nächsten 40 min wohl mit mehr als 20 Kindern zu

rechnen sei. Dieser Katastropheneinsatz verlief unglaublich geordnet- Notfall-Liegen wurden überall in die Flure geschoben, aus den anderen Abteilungen des Krankenhauses kamen Ärzte und fragten, ob und wie sie helfen konnten. Erst kam der Hubschrauber, dann der Reihe nach Krankenwagen. Zwar wurde natürlich schon über den Transportweg (Hubschrauber oder RTW) die Schwere der Verletzung grob eingeschätzt, allerdings kam es dennoch bei den Kindern der weniger stark verletzten Kategorie zu unerwarteten befunden. Ein 9-Jähriges Mädchen war wach, ansprechbar und hatte keinerlei Probleme außer Schmerzen am Bein, jedoch kam dann beim Röntgen des Thoraxes plötzlich ein rupturiertes Diaphragma zum Vorschein. Für ein 7- Jähriges Mädchen, welches aus dem Bus geschleudert wurde, kam leider jede Hilfe zu spät; sie verstarb an einer SAB nachdem sie im ER zunächst noch stabilisiert werden konnte. Das Busunglück war wirklich ein Beweis dafür, wie gut alles im amerikanischen ER strukturiert war, was nicht zu Letzt daran liegt, dass ERDoktor ein eigener Facharzt ist und zusätzlich Krankenschwestern relativ viel selbstständig erledigen dürfen. Denn im Vergleich dazu, wird in der Regel in Deutschland die Notaufnahme durch den/ die Diensthabenden besetzt, was eben dazu führt, dass vieles weniger professionell abgewickelt wird als durch ausgebildete ER-Fachärzte. In letzter Zeit denkt man auch in Deutschland über einen entsprechenden Facharzt nach. Zum Abschluss möchte ich Mitstudierende ermutigen, Menschen im Ausland, aus dem Ausland einfach anzusprechen. Vieles wird möglich- wenn man in die Offensive geht und einfach die Menschen anspricht. Und man wundert sich, wie viel Hilfsbereitschaft manchmal einem Fremden gegenüber entgegengebracht wird.


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Mit laparoskopischer Technik verengte Nierenarterie operiert Am Uniklinikum Rostock wurden neue Maßstäbe gesetzt Ingrid Rieck (idw)

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n der Abteilung Gefäßchirurgie des Uniklinikums Rostock ist vermutlich eine Weltpremiere gelungen. Hier operierte Oberarzt Privatdozent Dr. Carsten Bünger eine Nierenarterienverengung, die bei einem 27-jährigen Studenten einen hohen Blutdruck verursachte, laparoskopisch. Also durch kleine Schnitte in die Bauchhöhle. Üblicherweise wird sonst bei dieser Operation ein großer Schnitt im Bauchraum nötig. „Ich habe mir überlegt, dass man im Interesse des jungen Patienten das Problem auch minimalinvasiv, sprich mit kleinsten Schnitten, beseitigen kann“, sagte Dr. Bünger. Dabei überträgt eine Miniaturkamera das Bild aus dem Bauchraum des Patienten auf einen Monitor. So kann sich der Operateur optimal orientieren und die kleinen endoskopischen Instrumente präzise steuern. Diese spezielle Chirurgie an der Bauchschlagader ist wenig verbreitet und wird nur in einzelnen Zentren praktiziert. „Es bedarf schon einer gewissen Phantasie des Arztes, wie die laparoskopische Technik dabei angewandt wird“, sagte Dr. Bünger, der unter Kollegen auch Skeptiker hatte. Doch er war sicher, dass es klappt. „Wenn ich auf diese Weise keinen Erfolg gehabt hätte, wäre eine offene Operation, wie sonst üblich, immer noch möglich gewesen“. Dr. Bünger hatte mit dem Patienten genau besprochen, wie er operieren wollte. Er war einverstanden und sehr froh, als er aus der Narkose erwachte und keinen großen Schnitt hatte. Weniger Schmerzen, schnellere Belastbarkeit und Eingliederung in den Studien- oder Arbeitsprozess sind die Vorzüge. Auch der kosmetische Aspekt spielt natürlich eine Rolle. Der 27-jährige Patient erfreut sich inzwischen bester Gesundheit. Er braucht keine blutdrucksenkenden Tabletten mehr nehmen, hat mehr Lebensqualität. „Ich bin beeindruckt, dass nur winzige, kaum zu erkennende Narben geblieben sind“, sagte der Student. „Schmerzen habe ich nach der Operation fast nicht gehabt“.

Wer schon in jungen Jahren an hohem Blutdruck leidet, bei dem kommt es frühzeitig zu Verkalkungen. Dr. Bünger, der das Fachgebiet der Gefäßchirurgie vor über zwei Jahren vom heutigen Universitäts-Rektor Prof. Dr. Wolfgang

Schareck übernommen hat, liebt die handwerklichen Herausforderungen seines Berufes im Klinikalltag. Das bringt für Patienten große Vorteile. So mussten bis letztes Jahr Patienten, bei denen im Übergangsbereich von Brust- und Bauchschlagader gefährliche Erweiterungen diagnostiziert wurden, in andere Zentren von Mecklenburg-Vorpommern überwiesen und dort operiert werden. „Das machen wir jetzt selbst“, so Dr. Bünger, der in der nächsten Woche eine Weiterbildung für niedergelassene Ärzte zur differenzierten Therapie der Bauchschlagader anbietet. „Die OP-Technik hat Bünger sich bei Professor Michael Jacobs im Europäischen Gefäßzentrum AachenMaastricht angeeignet. Bei dieser Operation wird der Patient durch den Einsatz einer Herz-LungenMaschine geschützt, mit deren Hilfe sämtliche wichtigen Organe während der kritischen Phase mit kör-

pereigenem Blut versorgt werden. Bünger setzt dabei auf interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Herzchirurgen, Anästhesisten, Intensivmedizinern und Kardiotechnikern. „Gefäßerkrankungen nehmen vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung zu“, sagte Dr. Bünger, so auch die Erweiterung der Bauchschlagader (Aorta) unterhalb der Nierengefäße. „Je größer eine Aorta wird, umso größer wird der Druck, der auf den Gefäßwänden lastet. Wenn die Ader platzt, besteht akute Lebensgefahr. Am besten ist es, wenn die Erkrankung vorher erkannt wird. Dann gibt es sehr gute Behandlungsverfahren“, so Bünger. In der Rostocker Uni-Chirurgie wird in solchen Fällen zunehmend die Kathetertechnik angewandt. Dabei wird ein Kathetersystem über die Leistenarterien eingebracht. Durch eine für den Patienten ausgemessene so genannte Stent-Prothese werden die erweiterten Arterien ausgeschaltet. Bei diesem Verfahren arbeiten Chirurgen und Radiologen eng zusammen. Sollte diese Technik nicht anwendbar sein, verbleibt

die operative Ausschaltung der Erweiterung als sehr gute Alternative, im Übrigen eine Technik, die sich über 50 Jahre bewährt hat. „Das heißt aber nicht, dass wir dabei noch große Schnitte machen müssen“, sagte Dr. Bünger, „denn mit der Schlüsselloch-Chirurgie können wir inzwischen auch minimal-invasiv bei der Operation vorgehen“. Diese Operationstechnik eignete Bünger sich bei dem Düsseldorfer Spezialisten Prof. Dr. Ralf Kolvenbach an. Der setzt auf OP-Methoden, die mit nur kleinen Schnitten oder sogar ganz ohne Schnitte auskommen. Die Zeit, in der große Schnitte einen großartigen Chirurgen ausmachten, seien vorbei, so Bünger. In der Gefäßchirurgie des Uni-Klinikums Rostock wird die minimal-invasive laparoskopische Gefäßoperation generell bevorzugt. „Jede Operation ist für einen Patienten ein Trauma“, weiß Bünger. „Man braucht Wochen, um sich zu erholen. Die Lebensqualität ist vorübergehend eingeschränkt.“ Bei der laparoskopischen Gefäßoperation ist der Patient deutlich schneller mobil im Vergleich zur offenen Operation, und der Patient hat weniger Schmerzen. „Mit der neuen Technik kommt es außerdem zu weniger Verwachsungen im Bauchraum“, nennt Bünger einen weiteren Vorteil für Patienten.

IMPRESSUM Herausgeber: MEDI-LEARN Verlag GbR, ISSN 1860-8590 Elisabethstraße 9, 35037 Marburg/Lahn Tel: 04 31/780 25-0, Fax: 04 31/780 25-29 E-Mail: redaktion@medi-learn.de, www.medi-learn.de Redaktion: Jens Plasger (Redaktionsleitung), Christian Weier (V.i.S.d.P.), Trojan Urban, Dr. Marlies Weier, Dr. Lilian Goharian, Dr. med. Dipl.-Psych. Bringfried Müller, Thomas Brockfeld Lektorat: Kare Ahlschwede, Jens Plasger Layout & Graphik: Kristina Junghans Berichte: Kirsten Standke, Natalie Oberländer, Olga Kogan, Susanne Eichacker (idw), Luise Dirscherl (idw), Ingrid Rieck (idw), Susann Huster (idw) Bildnachweis: www.photocase.com, www.istockphoto.com, www.sxc.hu, www.pixelquelle.de, Artikelautoren, www.flickr.com Erscheinungsort: Marburg Der digitale Nachschlag erscheint zu jeder MEDI-LEARN Zeitung als Ergänzung, die du dir als PDF auf der MEDI-LEARN Seite herunterladen oder online anschauen kannst. Er beinhaltet Fortsetzungen von Artikeln aus der aktuellen Zeitung sowie weitere interessante Artikel und Berichte rund um die Medizin. Dein Artikel bei MEDI-LEARN? Wir freuen uns über die Zusendung von Erfahrungsberichten und anderen Artikeln und belohnen die Autoren mit Fachbüchern. Alle weiteren Infos findest du unter www.medi-learn.de/artikel. Dieser Digitale Nachschlag ist Teil der MEDI-LEARN Zeitung. Die bisherigen Ausgaben findest Du unter: www.medi-learn.de/ MLZ-Online


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Bewerbung an der Charité

neugierig erwarten. Die nächste halbe Stunde verbringe ich also allein unter Männern. Ich rede mir ein, dass männliche Prüfer ohnehin viel netter sind als zickige Professorinnen. Auf die Einstiegsfrage „Warum wollen Sie Medizin studieren?“ habe ich eine einstudierte Antwort parat und beruhige mich zusehends mit jeder weiteren Fragestellung. Das gesamte Gespräch dreht sich vorwiegend um mich und meine Motivation, so dass ich von gefürchteten Fachfragen gänzlich verschont bleibe. Der adrett in schwarz gekleidete Herr zu meiner Linken will dafür wissen, ob ich denn in der Schule auch beliebt sei und Freunde hätte, der gegenübersitzende stark ergraute Universitätsprofessor fragt, wie es um meine Familienplanung steht und der anwesende Student interessiert sich für meine favorisierte Bettlektüre. Das Gespräch ist so schnell vorbei, dass ich beim Blick auf die Uhr nicht fassen kann, dass ganze 30 Minuten vergangen sind. Apropos unfassbar, es geschieht noch etwas, dass ich im Vorfeld nicht für möglich gehalten habe: Ich verlasse den Campus doch tatsächlich mit einem guten Gefühl und der leisen Hoffnung hier noch öfter vorbeischauen zu dürfen. Nur zwei Tage später öffne ich am Samstag den Brief, der über meine Zukunft richtet. Alles gleicht dem Augenblick der Ankunft des Einladungsschreibens mit dem feinen Unterschied, dass ich es diesmal schaffe, den Umschlag zu öffnen ohne dabei den gesamten Inhalt zu zerreißen. Übung macht halt den Meister, denke ich mir und muss unweigerlich schmunzeln. Nach mehrmaligem Lesen des Bescheids realisiere ich langsam den Inhalt des Geschriebenen. Ich weiß nun, wie und wo sich mein Leben in den nächsten Jahren gestalten wird. Und zwar in der großartigsten Stadt der Republik, an der altehrwürdigen traditionsreichen Charité! Die Freude ist grenzenlos, genauso wie die unzähligen Möglichkeiten, dieses Ereignis an einem Samstagabend in Berlin gebührend zu feiern - mit dem wunderbaren Gefühl dieser Stadt noch länger erhalten zu bleiben.

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Das Schicksal besiegelnde Auswahlgespräch von Natalie Oberländer

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ch stehe im Wohnzimmer an den Computertisch gelehnt und starre auf den großen gelben Umschlag in meiner linken Hand. Charité prangt dort in blassblauen Buchstaben in der oberen rechten Ecke. Ich bin noch etwas außer Atem, weil ich beim ersten Klingeln des Postboten sofort runtergerast bin, um den Inhalt des Briefkastens auf verdächtiges Material zu prüfen. Im Auf- und Ablaufen von Treppen bin ich mittlerweile Profi. Kein Wunder, hatte ich in den vergangenen Wochen doch genügend Zeit zum Üben. Wenn es nun tatsächlich das ist, was ich denke, dann...Ungeduldig zerre ich am Briefumschlag und halte nun tatsächlich die ersehnte Einladung zum Auswahlgespräch für Humanmedizin an der Charité in den Händen. Meine Gebete, die sich im vorhergehenden Wintersemester nicht auszahlten, wurden also doch erhört, wenn auch nicht ganz pünktlich. Im Eifer des Gefechts ruiniere ich geschickt und graziös wie ich bin beim Öffnen des Umschlags sowohl das Einladungsschreiben als auch den beigefügten Fragebogen, so dass nun beide frappierende Ähnlichkeit mit abgefressenem Altpapier haben. Aber das ist jetzt Nebensache. Hektisch überfliege ich die Einladung und schiele in bewährter Multitasking-Manier schon prüfend auf den Kalender. Tja, jetzt müsste ich nur noch das heutige Datum kennen, denke ich und frage mich, wie ich das Lernpensum im Studium bewältigen soll, wenn ich mir nicht mal zwei Zahlen merken kann. Nachdem aber auch dieses Problem überwunden ist, fasse ich fleißig Vorsätze für die kommende 14-tägige Vorbereitungsphase. Fest entschlossen ab heute nun jeden einzelnen Tag wahre Lernorgien zu veranstalten, notiere ich mir eine endlose Liste von Themenschwerpunkten, die ich konsequent abarbeiten werde. Aber natürlich erst ab

morgen, denn das hat ja noch Zeit... Gefühlte vier aber tatsächlich ganze 14 Tage später ist er da - der Tag auf den ich die letzten zwei Wochen mal mehr mal (sehr viel) weniger hingepaukt habe. Der viel zu frühe Morgen des Schicksalstags wird von den üblichen Selbstvorwürfen eingeläutet. Aber das kenne ich noch allzu gut aus der Abiphase. Keine Prüfung ohne die obligatorischen Selbstzweifel und das bohrende schlechte Gewissen, nicht alles Menschenmögliche für das erfolgreiche Gelingen unternommen zu haben. Ich beschließe das schlechte Gewissen mit einem XXL-SchokoCroissant zu besänftigen. Und siehe da - es funktioniert. Am Campus Charité Mitte angekommen, sehe ich bereits riesige Ströme von Mitbewerbern. Wenig-

bleibt genug Zeit, um die Konkurrenz zu mustern. Leider machen die meisten einen ziemlich intelligenten Eindruck und sehen aus als hätten sie Tausend Praktika in der Tasche. Naturwissenschaftliche Fächer waren zweifellos ihre Leistungskurse und es sind so wieso alle Arztkinder, denke ich demotiviert. Aber noch ist nichts entschieden, versuche ich mir einzubläuen und das Auswahlverfahren hat ja noch nicht einmal begonnen. Erleichtert, den frühesten Termin zu bekommen, gehe ich mit einigen Mädels in die Cafeteria, um die Stunde Wartezeit mit Kaffe und Schokolade zu überbrücken. Die Kalorienbombentaktik hat sich schließlich schon heute Morgen bewährt. Beim lockeren Smalltalk bestätigen sich leider die meisten meiner erwähnten Befürchtungen. Als mir

stens weiß ich so, wo ich hin muss - immer der großen Masse nach, lautet meine Divise. Erst jetzt merke ich, dass besonders Verzweifelte Mama und Papa zur seelischen Unterstützung im Schlepptau haben. Im Großen Hörsaal ist Schluss mit dem elterlichen Beistand und es

dann klar wird, dass nur zwei Leute aus unserer Sechserrunde einen Studienplatz ergattern werden, muss ich mich auch schon auf die Suche nach dem Prüfungsraum machen. Beim Eintreten werde ich von vier freundlich dreinblickenden Herren in Empfang genommen, die mich schon


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Neue Risikogene für Koronare Herzkrankheit Genetische Studie mit neuen Erkenntnissen von Susanne Eichacker (idw)

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ine bislang weltweit beispiellose Studie hat 22.000 Patienten mit koronarer Herzkrankheit und 65.000 gesunde Personen untersucht, um Regionen im menschlichen Genom zu finden, die mit einem erhöhten Risiko für Koronare Herzkrankheit (KHK) und Herzinfarkt vergesellschaftet sind. Die Ergebnisse wurden bei weiteren 50.000 Personen bestätigt. Dabei zeigte sich, dass bei alleinigem Vorliegen jedes der 13 neu entdeckten Risikogene die Gefahr eine KHK zu entwickeln um

6 bis 17 Prozent erhöht. Zugleich wurden 10 der 13 bisher bekannten Genorte bestätigt, so dass nun mehr als 20 Genorte für die KHK bekannt sind. Dies belegt die Relevanz der erblichen Komponente bei dieser Erkrankung, aber erklärt diese noch lange nicht vollständig. Mit 750 000 Todesfällen pro Jahr in Europa zählen die KHK und der Herzinfarkt zu den Volkskrankheiten. „Unsere nächsten Schritte müssen nun sein, die molekulare Bedeutung der Genorte bei der Entstehung von Herzinfarkten zu untersuchen“, erläutern Prof. Anette Peters und Prof.

Thomas Meitinger, die seitens des Helmholtz Zentrums München an der Studie beteiligt waren. Das Helmholtz Zentrum München war einer von sechs deutschen Partnern in dem internationalen Konsortium. Weitere Partner kommen aus England, Island, Belgien, Kanada, Italien, Frankreich und den USA. Koordiniert worden war die Studie von Wissenschaftlern der Universität zu Lübeck. Die Studie wurde von der Europäischen Union und im Rahmen des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFNPlus) vom Bundesministerium für

Wenn Abwehrzellen reifen müssen LMU-Mediziner beweisen Effektivität von Immuntherapie von Luise Dirscherl (idw)

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ie körpereigene Immunabwehr gegen Tumoren kann durch eine Therapie mit sogenannten CpG-DNA-Oligonukleotiden – dies sind kurze Stücke des Erbmoleküls DNA – aktiviert werden. Diese Behandlung wird derzeit als mögliche Krebstherapie getestet. Manche Ergebnisse deuten nun aber darauf hin, dass die CpG-Therapie auch zu einer Zunahme sogenannter myeloider Suppressorzellen (MDSC) führen kann. Diese Immunzellen unterdrücken die Körperabwehr aktiv, was der Krebstherapie zuwiderlaufen würde.

Das Immunsystem hat Aufgabe Alarm zu schlagen

vor allem die

Wissenschaftler um die Privatdozentin Dr. Carole Bourquin von der Abteilung für Klinische Pharmakologie des Klinikums der Universität München konnten nun aber erstmals zeigen, dass die CpG-Therapie die MDSC ausschaltet, indem sie deren Reifung in Gang bringt. Die gereiften Zellen verlieren aber ihre immunsuppressive Wirkung. Damit ist die Frage, ob die CpG-Gabe die Zahl der MDSC steigert, nicht mehr ausschlag-

gebend, weil die Zellen im Gegenzug zur Reifung gebracht und somit „immunologisch unwirksam“ gemacht werden. Eine Behandlung mit CpG als unterstützende Maßnahme könnte sogar die Effektivität von anderen Immuntherapien steigern. „Dieser Befund ist essenziell im Hinblick auf eine mögliche therapeutische Nutzung von CpG-Oligonukleotiden“, betont Bourquin. Nun wollen die Wissenschaftler eine erfolgreiche Immuntherapie gegen Tumoren des MagenDarm-Trakts entwickeln. Das Immunsystem hat vor allem die Aufgabe, bei drohenden Infektionen Alarm zu schlagen und die körpereigenen Abwehrzellen gegen eingedrungene Erreger in Stellung zu bringen. Aber es kann auch fehlerhafte körpereigene Zellen erkennen und zerstören – so setzt sich der Körper gegen Tumoren zur Wehr. Diese natürlichen Abwehrmechanismen werden genutzt, wenn bei einer Immuntherapie körpereigene Abwehrzellen gezielt auf Krebszellen angesetzt werden. Auch eine von dem Team um Bourquin entwickelte neuartige Therapie setzt darauf, die natürliche Immunabwehr für den Kampf gegen Tumorzellen zu nutzen: Die Wissenschaftler verwenden kurze Moleküle aus DNA, sogenannte CpG-DNAOligonukleotide, um das körpereigene Abwehrsystem zu aktivieren.

Allerdings können Tumoren das Immunsystem auch austricksen und auf unterschiedlich Weise dafür sorgen, dass sie von den Abwehrzellen nicht erkannt werden – oder dass die Immunreaktion unterdrückt wird.

Im Blickfeld liegen Suppressorzellen (MDSC)

dabei myeloide

Sogenannte Immunsuppressorzellen spielen dabei eine wichtige Rolle. Im Blickfeld der Forschung liegen dabei vor allem myeloide Suppressorzellen (MDSC). „Darunter versteht man eine heterogene Gruppe unreifer Abwehrzellen, die aus dem Knochenmark stammen und bei Krebserkrankungen in stark erhöhter Zahl im Blut und im Tumorgewebe nachzuweisen sind“, erklärt Bourquin. MDSC tragen bei Krebspatienten zur Tumorentwicklung bei und behindern eine erfolgreiche Immuntherapie gegen den Krebs, da sie das Immunsystem aktiv unterdrücken. Die von Bourquin untersuchte CpG-Therapie hat sich bereits in früheren Studien an Mäusen als effizient erwiesen, obwohl hohe MDSC-Konzentrationen im Mausmodell nachgewiesen werden konnten. Vor Kurzem wurde

Bildung und Forschung gefördert. Die Studie untermauert die Notwendigkeit institutionsübergreifender wissenschaftlicher Zusammenarbeit bei der Erforschung der großen Volkskrankheiten, wie sie auch in den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung etabliert wird. Peters und Meitinger werden auch am Deutschen Zentrum für Herzkreislaufforschung beteiligt sein, das im Sommer durch das BMBF gegründet wird. Die Partner der deutschen Zentren der Gesundheitsforschung waren im November 2010 bekannt gegeben worden.

zudem berichtet, dass die CpGTherapie sogar zu einem Anstieg an MDSC führen kann. „Dies ist für eine Krebstherapie natürlich unerwünscht. Deshalb war es essenziell zu untersuchen, welche Auswirkungen die CpG-Therapie auf die Aktivität der MDSC hat“, sagt Bourquin. Ihr Team konnte nun erstmals an Tumoren des Magen-Darm-Trakts zeigen, dass die Therapie mit CpG die MDSC zu ausdifferenzierten Abwehrzellen reifen lässt, und zwar mit einem hochwillkommenen Nebeneffekt: Die Zellen verlieren dann ihre immunsuppressive Wirkung. Verantwortlich dafür ist das Zytokin Interferon-alpha, das bei der Aktivierung von Immunzellen durch CpG produziert wird. Auch die Behandlung mit synthetisch hergestelltem Interferon-alpha führte dazu, dass die Immunantwort nicht mehr durch MDSC gedämpft wurde. „Dieses Ergebnis ist eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Krebs-Immuntherapie in der Zukunft“, erklärt Bourquin, die nun die Therapie gegen Tumoren des Magen-Darm-Trakts weiter entwickeln möchte. Das Projekt entstand im Rahmen des Exzellenzclusters „Center for Integrated Protein Science Munich“ (CiPSM) und wurde im Rahmen der Initiative LMUexcellent mit einer Forschungsprofessur für Professor Stefan Endres, einen CoAutor der Studie, gefördert.


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Tragischer Moment im OP Die aufgelebten Worte oder die Abschiednahme

von Olga Kogan (Fortsetzung aus der MEDI-LEARN Zeitung 2/2011)

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angsam streckte ich meinen Arm aus und legte die Hand auf deinen Oberschenkel. Er war warm, so warm wie mein eigener. Mir wurde schlecht. Die Luft unter meiner Maske wurde knapp. Die heißen Atemgase strömten durch die engen Öffnungen nach aussen. Kalter Schweiß brach durch meine Poren und das OP-Hemd pappte ekelhaft an meinem Rücken und unter meinen Armen. Die CT-Bilder flackerten munter weiter und zeigten, dass nichts mehr zu tun war – das Gehirn war schwarz und so ödematös, dass die Ventrikel eng wie Schlitze wurden. Die Schädelbasis war gebrochen, der abgebrochene Dens des zweiten Halswirbels ragte mitten ins Rückenmark – du wärst querschnittsgelähmt. Beide Beine waren an mehren Stellen komplett durchgebrochen, man könnte sie genauso gut amputieren. Ein Film. Es ist alles ein Film. Dachte ich, fühlte ich. Alle Tücher wurden weggezogen. Sogar die Wärmematte wurde von deinem Körper weggenommen. So entledigten sie dich deiner menschlichen Würde. Man hielt es für unnötig, jetzt noch deine Wunden zuzunähen oder dein Schamgefühl zu beachten, deine Geschlechtsorgane auch nur zu verdecken. Du hattest den Status Mensch verloren. So lagst du da auf dem Tisch – so schwach und verwundbar mit deiner unbedeckten Nacktheit, mit verbundenem, trepaniertem Schädel, mit einem Tubus im Hals und einem herausragenden Blasenkatheter. Weiß schimmerte deine Haut gegen das Grün unserer Kittel, gegen dass Rot deines Blutes. Scharf zeichneten sich deine Beckenschaufeln im grellen Licht ab. Deine Bauchaorta pulsierte gegen die dünne Bauchdecke, pumpte mit voller Kraft das Blut durch deinen hirnlosen Körper. Der spärlich behaarte Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Schrecklich? War es schrecklich, was ich empfand? Nein. Das, was ich vorher gelernt hatte, was ich selbst geschrieben und dabei empfunden hatte, das war schrecklich. Dieses hier war nicht so. Es war etwas Riesiges, etwas

alles Umfassendes, etwas nicht zu Bewältigendes. Eine riesige heiße Lavawelle, die über mich rollte und mich aussen und innen verbrannte, ausbrannte. Deren Kraft mich von den Beinen riss. Dieses Mal war ich betroffen. Was war das? Trauer, Unglauben, Wut über diese Ungerechtigkeit? Du bist nicht tot! Mach die Augen auf! Du atmest doch! Du bist warm! Warum habt ihr ihm die Decke weggenommen? Er wird doch frieren…Michael, Michael! Immer und immer wieder wiederholte, schrie ich deinen Namen in meinem Kopf. Rief dich, rief dich ins Leben zurück.

auf euch hast zurasen sehen? Was war dein letzter Gedanke oder denkst du immer noch? Warum habe ich darüber schrieben? Hätte ich es nicht getan, hätte ich dich vielleicht nicht so sehen müssen. Doch nun lagst du auf dem Tisch wie ein unschuldiges, schwaches Neugeborenes und wir standen alle im Kreis um dich herum. Wir Lebenden um dich Toten. Und ich fragte mich, woher die Gewissheit an deinem Tod kam, denn wieder drehten sich meine Gedanken im Kreis und sagten mir, dass du lebst. Jedes Detail deines Körpers

„Ist es sicher?“ fragte einer der Chirurgen. Sie öffneten dein Augenlid – tote, starre Pupillen, Dunkeln hinter dem Schädeldach. „Ziemlich sicher.“ Dein Gesicht, zum ersten Mal sah ich es, als würdest du schlafen. Deine langen Wimpern – unbeweglich. Ich sah dich lachen, sah dich in Bewegung, sah dich im Leben. Warum bist du in dieses Auto gestiegen? Warum seid ihr so schnell gefahren? Warum seid ihr nicht irgendwann anders gefahren, habt keinen anderen Weg genommen? Warum hast du nicht gespürt, nicht geahnt, dass es deine letzten Minuten sein würden? Was hast du in dem Moment gedacht, als du den Baum

brannte sich in meine Netzhaut ein – dein rotes Bärtchen, deine schmalen Hände, jedes kleine Härchen an deinem Körper, deinen Armen, um die Brustwarzen herum, dein Adamsapfel, dein geöffneter Mund. Irgendwo aus der Ferne, durch das Vakuum, in dem ich mich befand, hörte ich die Anweisung, dich kreislaufstabil zu halten. Es wurde mir zu eng, zu eng in diesem Raum, in diesem Vakuum und dabei stand noch nicht mal jemand neben mir. Es wurde ganz genau mit Ultraschall nach freier Flüssigkeit in deinem Bauch gesucht. Tief drückte sich der Schallkopf in dein Abdomen und fuhr vom Rippenbogen bis zum Schambein herunter. Auf

dem Bildschirm erschienen eines nach dem anderen deine gesunden, jungen Organe – Nieren, Leber, Milz, Prostata…Du hättest Kinder haben können… Dein Magen war noch komplett voll! Du hattest gerade erst gegessen. Hatte dir das Essen geschmeckt? Hattest du es genossen? Das allerletzte Mal… War es ein besonderer Geschmack auf deiner Zunge? Ich verstand zuerst nicht, warum das Ganze, doch dann traf mich die Erkenntnis wie mit einem Faustschlag in den Bauch – Organspende. Es war alles so grauenvoll, dass es schon wieder zum Lachen war. Warum habe ich nur darüber geschrieben? Bittere Galle auf meiner Zunge. Die arme, arme Mutter. Beide Söhne verloren und nun auch das. Keinen Ton mehr über Organspende. Ich kann das Thema nicht anrühren. Kräftige, erwachsene Männer, Unfallchirurgen, mit hängenden Armen um deinen nackten Körper. Kämpfer, die alles investiert und den Kampf doch verloren hatten. Hilflosigkeit und Schweigen. Eine Minute. Dann ging der Alltag weiter. Ich kann diese Ohnmacht nicht ertragen. Sie wird zur Wut, zu solch einer Wut, dass ich irgendwo reinbeißen könnte. Die Hitze deines Oberschenkels brennt immer noch in meiner Hand nach. Kannst du mich hören? Bist du doch noch da? Dann wehre dich! Tu etwas! Lass dir dein Leben nicht nehmen! Michael! Langsam trat ich aus dem OP-Saal. Der Boden schwankte wie auf einem Schiff. Die Wände wichen zusammen und wieder auseinander. Es war so entsetzlich schwer zu atmen, zu gehen, zu denken. Dein Gesicht – ich hatte es in meinem Traum gesehen. Ein Leben, das in einem Moment von irgendwem wie eine Kerze ausgeblasen wurde. Ist ein Leben so zerbrechlich? Nie, nie dachte ich, dass ich vor etwas stehen würde, wo man nichts mehr tun kann, wo Handeln und auch Verstehen sinnlos und unmöglich sind. Ich habe genug Leichen gesehen und berührt, präpariert. Sie sind kalt und starr, leere Hüllen. Du bist keine Leiche, nicht für mich, nicht für deine Mutter. Ich möchte Abschied nehmen von dir, bewusst Abschied nehmen, dich in meinen Gedanken aber nie sterben lassen. Ich nehme dein Bild mit in mein Leben, in meine Zukunft. Lebe wohl!


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Die Ursprünge verstehen

Neues Wahlfach „Evolutionäre Medizin“ an Fakultät Leipzig von Susann Huster (idw)

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ie Lehre an der Medizinischen Fakultät Leipzig ist ab dem Sommersemester 2011 um ein Kursangebot reicher, das noch dazu in Deutschland bislang einzigartig ist: "Human Evolution and Anthropology". Zu den Dozenten aus den Bereichen Medizin, Biologie und Bioinformatik zählen ausgewiesene (Evolutions-)Forscher aus dem Leipziger Max-Planck-Institut und der Universität. Zwei Mal im Laufe des Medizinstudiums besteht die Möglichkeit, ein Wahlfach zu bestimmen, um entweder Fachgebiete zu vertiefen oder gänzlich Neues zu entdecken, auch außerhalb der Medizin. 20 Studierende ab dem 2. Fachsemester mit Interesse an der Menschwerdung haben nun erstmals die Möglichkeit, sich angeleitet von hochkarätigen Experten intensiv mit Populationsund Humangenetik, modernen Techniken wie der Genomsequenzierung bis hin zu Fragen entwicklungsbedingter Krankheitsentstehung zu beschäftigen. Wahlfachleiter Prof. Torsten Schöneberg vom Lehrstuhl für molekulare Biochemie, der auch die Einstiegssemester in Genetik unterrichtet, sieht dringenden Vertiefungsbedarf. "Genetik und Molekularbiologie sind die am stärksten wachsenden Felder in der Medizin, der Wissenszuwachs ist aufgrund der technischen Entwicklung explosionsartig. Der kann nachvollziehbarer Weise keinen Platz mehr im straffen Medizinstudium finden, ist aber enorm wichtig für die Vorhersehbarkeit und Diagnostik von Erkrankungen sowie die klinische Intervention. Deshalb ist ein Wahlfach angesagt." Die millionen Jahre in uns Dreh-

und Angelpunkt der Evolutionären Medizin ist ein Dilemma: der Mensch ist nicht dafür geschaffen, 100 Jahre alt zu werden. Wir sind zwar in der Lage, die meisten Infektionskrankheiten zu bekämpfen, die uns früher aus dem Leben rissen, haben nun aber andere Probleme wie Demenz oder Krebs. "Wir wissen inzwischen, dass die meisten Zivilisationserkrankungen ein Produkt unserer Evolution sind", sagt Schöneberg. "Unser Körper ist für Lebensumstände geschaffen, die heute so

nicht mehr existieren. Ursprünglich evolutionäre Vorteile fallen uns jetzt auf den Fuß." Ein Beispiel: Das menschliche Dasein war immer ein Suchen nach Energiequellen. Man musste wandern, Strapazen und Entbehrungen auf sich nehmen. Heutzutage ist das kein Thema mehr, denn teils sehr konzentrierte Energiequellen sind, zumindest in

unseren Breiten, jederzeit verfügbar. Alle Mechanismen, die darauf ausgerichtet waren, Nahrung so effektiv wie möglich aufzunehmen und für schlechte Zeiten anzusammeln, werden also nicht mehr benötigt.

meDIzIn Ist nun mal keIne WIssenschaft Die Folge: weit verbreitetes Übergewicht mit Folgeerscheinungen wie Bluthochdruck und Diabetes.

Individualisierte Medizin

Aber auch die Frage, wohin sich der Mensch entwickelt, ist spannend. Denn die neuen Le-

bensbedingungen setzen uns wiederum unter Selektionsdruck. Die Populationsdichte hat zugenommen, wir leben in großen Städten, die schnelleren Infektionsübertragungen den Weg bereiten. Und wie wird es erst sein, wenn der Mensch den Planeten Erde einmal verlässt? Wenngleich das noch sehr futuristisch anmutet, ist die individualisierte Medizin ein ganz greifbares Thema. Schöneberg ist überzeugt, dass der "genetische Fingerabdruck" wie selbstverständ-

lich auf dem Patientenchip dazu gehören wird, weil er die Informationen liefert, warum jemand erkrankt ist oder erkranken wird. "Wir versprechen uns viele Vorteile beispielsweise bei der Medikamentenanwendung. Viele Nebenwirkungen werden nämlich dadurch bestimmt, dass genetische Voraussetzungen (nicht) gegeben sind. Und das würden wir dann bereits vor der Behandlung sehen."

Hochkarätige Leipziger Dozenten

Die vielen Millionen Jahre in uns bergen Spannendes – der Begeisterungsfunke von Torsten Schöneberg springt schnell über. Nicht umsonst hält er Leipzig für die Hochburg genetischer Anthropologie. Das Max-Planck-Institut mit seinen großen populationsgenetischen Studien stehe dafür, aber auch die ausgeprägte Forschung zu Stoffwechselund Zivilisationskrankheiten der Hochschulmedizin. Folgerichtig gestalten Dozenten beider Häuser das neue Wahlfach, darunter klinische Mediziner wie Prof. Thiery (u.a. LIFE) und Prof. Stumvoll (IFBAdipositas), Bioinformatiker, Biologen und vom Max-Planck-Institut Prof. Svante Pääbo, die herausragende Forscherpersönlichkeit für unsere ausgestorbenen Vorfahren, und der namhafte Populationsgenetiker Prof. Stoneking. Er hat u.a. die Ko-Evolution von Parasiten am Menschen untersucht. An der Auseinanderentwicklung von Kopf- und Filzläusen konnte er messen, wann sich das menschliche Haarkleid getrennt hat bzw. Bekleidung angezogen wurde. Auch Prof. Ingo Bechmann, Leiter des Anatomischen Instituts, freut sich auf seinen Kursbeitrag im Mai: "Medizin ist nun mal keine Wissenschaft wie die Mathematik. Es ist viel schwieriger, mit der Eindeutigkeit Aha-Erlebisse zu erzeugen. Leipzig ist mal wieder Vorreiter, evolutionäre Erkenntnisse zu fördern!"


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