10 S. marfa @Orpheus 03/20

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Klassik in Zeiten von Corona

Da sitzen wir nun. Daheim. Eingeschlossen in unsere uns sonst so heilige eigene Privatsphäre, die uns nie so eng, so erdrückend vorkam. Niemand weiß, wie lange das noch so weiter geht. Niemand weiß, wie die „Zeit danach“ in einer post-coronialen Welt überhaupt aussehen soll – und niemand weiß, wann sie wieder öffnen, die Türen zu unseren Kultureinrichtungen, Theatern, Opern- und Konzerthäusern. Was wir allerdings schon wissen, wenn wir uns trotz der in vielen Bereichen der digitalen Infrastruktur hierzulande recht ärmlichen Rahmenbedingungen in die weiten der digitalen Parallelwelten aufmachen? Dass Igor Levit daheim ohne Schuhe und nur in Socken Klavier spielt. Dass eine gute Tonübertragung und einwandfreie Bildqualität in Zeiten von Corona keine Rolle mehr spielen – nicht einmal mehr in Live-Schaltungen bei Anne Will. Dass Theater und Opernhäuser einen nahezu unendlichen Schatz an zuvor bestens versteckt gehaltenen Inszenierungsaufnahmen besitzen. Und dass der Mensch sich in Zeiten der durch eine wie auch immer gearteten Krise hervorgerufenen Isolation offenbar nach nichts mehr sehnt als nach Kultur.

Von Alexander Busche Fotos: Gauthier Delecroix https://www.flickr.com/photos/gauthierdelecroix

Singen hilft gegen Angst. Klingt esoterisch, ist aber wissenschaftlich bewiesen. Wenn wir singen, wird der Teil des Gehirns ausgeschaltet, der für Angstgefühle zuständig ist. In der perversesten Art der praxisnahen Umsetzung dieser Erkenntnis in unserem Alltag werden Soldaten singend in den Kampf geschickt. Wir kämpfen auch gerade. Gegen die Angst eines nicht sichtbaren und für viele nicht einmal spürbaren Gegners, der unsere Gesellschaft lähmt und durchdringt. Die Menschen singen. Sie singen gegen den Virus an. Sie singen auf Balkonen in den Straßen, in der Küche, im Bad, in ihrem Schlafzimmer – und streamen all das ungefiltert und ununterbrochen in jede noch so hintere Ecke virtueller Welten der unendlichen Weiten des Internets. Plötzlich scheint alles vergessen, was ihnen zuvor hoch und heilig war. Völlig irrelevant, wie sehr sie in prä-coronialen Zeiten ihre eigene Privatsphäre, ihren Datenschutz, den Einblick in ihre eigenen vier Wände gegen jedwede Form der Öffentlichkeit verteidigt haben. Jetzt singen sie. Und besiegen damit womöglich auch die Angst vor der Missachtung des Datenschutzes durch Drittparteien.


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