Jahresbericht 2012

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In Gedanken in Budapest – Ungarn Fast drei Monate ist es nun her, dass wir mit 14 Studierenden der EHB (Bachelorstudiengang Soziale Arbeit, 5. Semester) und einem Vertreter der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft für eine Woche nach Budapest geflogen sind. (In den letzten EHB-Spiegel konnte unser Reisebericht nicht mehr aufgenommen werden, aber vielleicht ist es gerade richtig, nun mehr die nachhaltige Wirkung dieser dichten, berührenden Woche zu dokumentieren.) Finanziell unterstützt wurde die Fahrt anteilig durch Mittel des Bundesjugendplans, der EHB und des Stupa. Durch Kurzvorträge über die aktuelle politische Situation der Fidesz-Regierung, sozialpolitische Auswirkungen und Soziale Arbeit in Ungarn vor Antritt der Reise vorbereitet und sensibilisiert, waren wir gespannt, was uns erwartet, wie sich die Situation vor Ort darstellt und was uns Dozent(inn) en und Studierende aus ihrer Sicht berichten können. Das Studienprogramm des Wesley Colleges, unserer Partnerhochschule in Budapest, hat über Vorträge zur politischen Lage, zur Sozialpolitik und zur Sozialen Arbeit mit einzelnen Betroffenengruppen, über Begegnungen mit wohnungslosen Menschen und sozialpädagogischen Initiativen, über die Teilnahme an Demonstrationen (Hungermarsch, Studienreform) sowie über Praxisbesuche (Überdachte Straße, HolocaustZentrum, „Komplexe Einrichtung Jugendhilfe“) und Stadtteilspaziergänge in benachteiligten Stadtteilen einen umfassenden Einblick gegeben. Im Folgenden seien nur einige persönliche Eindrücke benannt. –– Das John Wesley College liegt im achten Bezirk Budapests, einem sozialen Brennpunkt, in dem Armut und Verelendung der Bevölkerung auf der Straße deutlich sichtbar werden. Der achte Bezirk war außerdem im November 2011 durch die Kriminalisierung wohnungsloser Menschen in die Schlagzeilen geraten. Dadurch haben wir, jenseits des Glanzes der Stadt, einen sehr unmittelbaren Eindruck von den sozialen Problemen im Land erhalten. –– Viele langjährig etablierte soziale Projekte wussten zu dem Zeitpunkt (Februar 2012) nicht, ob ihr Projekt im nächsten Monat noch Geld erhalten wird oder schließen muss und die Mitarbeiter ihre Arbeit verlieren. Hintergrund ist, dass die Regierung im Herbst vergangenen Jahres neu über die Vergabe von Fördergeldern an soziale Projekte entschieden hat. In Folge dieser Haushaltsentscheidungen blieben noch mehr Klienten „unversorgt“, insbesondere für wohnungslose Menschen gibt es derzeit zu wenig Hilfsangebote und Übernachtungsplätze. –– In der ungarischen Bevölkerung hat sich durch die restriktive Politik, so unsere Kooperationspartner, eine Lethargie ausgebreitet. Deutlich wird dies u. a. am Beispiel der Medien. Immer mehr Sender werden eingestellt, in den Nachrichten wird über den von Arbeitslosen im ganzen Land organisierten 200 km langen Hungermarsch, der am

13. Februar 2012 am Parlament in Budapest ankam, nicht berichtet, „dafür ausführlich, wie ein Hund überfahren wird“, so eine unserer Kooperationspartnerinnen, – ihnen bleibt oft nur Sarkasmus. Ein Vertreter der Hochschulleitung bringt es auf den Punkt, es sei nicht die durchaus beunruhigende wirtschaftliche Situation, die die Menschen belastet, das sei überwindbar, aber die Demütigung, die die Menschen, die einzelnen Gruppen in der Bevölkerung, durch die Regierung erfahren, sei so schnell nicht wieder zu „heilen“. –– Die Not der Menschen hat vielfältige sozialpädagogische Initiativen hervorgebracht. Sozialarbeiter im Land schließen sich zusammen und fordern, unter Berufung auf den Ethikkodex Sozialer Arbeit, Diskriminierung und Bedingungen entgegenzutreten, die zu sozialem Ausschluss, Stigmatisierung oder Unterdrückung führen. Die wohl bekannteste Initiative ist die um den Sozialarbeiter Norbert Ferencz, der als Ausdruck friedlichen Protestes „in einer Mülltonne gewühlt hat“ und daraufhin wegen Landfriedensbruch inhaftiert und verurteilt wurde. Das, was wir unter dem Stichwort „politisches Mandat Sozialer Arbeit“ predigen, wird dort, aus der Not heraus, Wirklichkeit. –– Soziale Arbeit, das wurde uns vor Ort sehr deutlich, steht in Ungarn noch am Anfang ihrer Professionalisierung. So fehlt es an einem differenzierten Methoden- und Konzeptverständnis und an einem professionellen Selbstverständnis. Lehrveranstaltungen finden ausschließlich in Form von Vorlesungen statt, so dass auch der notwendige Raum für Austausch und Diskussion und die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses und eines kritischen Gesellschaftsverständnisses nicht gegeben ist. Die rigide Studienorganisation zeigt sich auch darin, dass Studierende für die Woche des Austausches nicht freigestellt wurden und den Austausch entsprechend nicht kontinuierlich begleiten konnten. Soziale Arbeit hat im Land kein gutes Image, Sozialarbeiter werden ähnlich abwertend und stigmatisierend wie ihr Klientel betrachtet, es besteht Unverständnis über die Motivation, „solchen Menschen“ helfen zu wollen und Unkenntnis darüber, was Sozialarbeiter überhaupt tun. (Bei einer Meinungsumfrage im Rahmen einer Diplomarbeit z. B. setzten ca. 48 % der Befragten Sozialarbeiter mit Straßenkehrern gleich.) Gleichzeitig fehlt es an Geld, um Lehrbücher anzuschaffen, es gibt zu wenig Übersetzungen von Standardwerken. Soziale Arbeit in der Praxis findet häufig als „Elendsverwaltung“ statt. Neben diesen und ähnlichen Erfahrungen hat den Studienaufenthalt aber vor allem das sehr hohe, aufopfernde, herzliche (mir manchmal zu fürsorgliche) Engagement und Bemühen der Dozent(inn)en und Studierenden um uns geprägt – und natürlich der Reiz dieser wunderschönen Stadt. Entsprechend hat Kerstin Udvari, eine der Dozentinnen, auf die wir uns schon beim Gegenbesuch im November freuen, die zugegebenermaßen traumhafte Studierendengruppe als „ihre Kinder“ verabschiedet.

ehb.international | Jahresbericht der Rektorin

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