Handbuch des zweisprachigen mündlichen Erzählens

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Handbuch des zweisprachigen mündlichen Erzählens Herausgeber: MaMis en Movimiento e.V.


Teil des Projekts “Mehrsprachigkeit, Teilhabe und interkulturelle Öffnung in Treptow-Köpenick“ 2021, gefördert aus Mitteln des bezirklichen Integrationsfonds des Bezirks Treptow-Köpenick.


INHALT 1. 2.

Märchenerzählungen in Verbindung mit einer Migrantenorganisation

Theoretische Überlegungen zum Bilingualen Märchenerzählen 2.1 Märchenerzählen als Werkzeug für die sprachliche Entwicklung zwei- und mehrsprachiger Kinder 2.2 Was meinen wir, wenn wir von einer mehrsprachigen, interkulturellen Familie sprechen? 2.3 Was ist das Bilinguale Märchenerzählen?

3.

Praxisorientierte Empfehlungen für die Erzähler*innen 3.1 Warum sollten die Märchen zweisprachig erzählt werden? 3.2 Welches Modell des Bilingualen Märchenerzählens sollte genutzt werden? 3.3 Was muss ich bei der Märchenauswahl beachten? 3.4 Welche Themenbereiche könnten das Interesse eines zweisprachigen Publikums erwecken? 3.5 Wie sollte das Märchen für die Erzählung vorbereitet werden? 3.6 Welche Bedeutung hat der Gebrauch magischer Elemente beim Erzählen? 3.7 Wie gestaltet man den Raum für das Märchenerzählen? 3.8 Der Moment des Märchenerzählens

4.

Das Handbuch als dynamisches, sich entwickelndes Konzept


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MÄRCHENERZÄHLUNGEN IN VERBINDUNG MIT EINER MIGRANTENORGANISATION Dieses Handbuch resultiert aus der Erfahrung einer Berliner Migrantenorganisation mit dem Mündlichen Erzählen. Der Gründungsgedanke des Vereins entstand aus dem Bedürfnis einer Gruppe spanischsprachiger Frauen und Mütter, gemeinsam einen Ort zu schaffen, an dem sie ihre Talente und ihre professionellen Fähigkeiten teilen und gemeinsam die Erziehung ihrer Kinder in ihrer Muttersprache Spanisch - gestalten können. Bereits vor der offiziellen Gründung von MaMis en Movimiento e.V. (MeM e.V.) stand fest, dass mündliches Märchenerzählen angeboten werden soll. Einerseits basierte dies auf der Überzeugung, dass Märchen ein effektives Werkzeug zur Vermittlung jeglichen kulturellen, emotionalen, linguistischen oder anderen Inhalts sein können. Andererseits besaßen einige Gründerinnen bereits umfangreiche Erfahrung auf diesem Gebiet. So kam es, dass die ersten beiden vom Verein angebotenen Aktivitäten der Workshop „Frühmusikalische Erziehung“ und die Märchen-ErzählWorkshops „Cuentacuentos“, damals nur in spanischer Sprachewaren.

Die Märchen wurden wöchentlich angeboten und regelmäßig zumeist von den gleichen Familien besucht. Die Aktivität bestand nicht nur aus dem Erzählen eines Märchens, sie diente auch dem Spiel mit der Sprache. Die Teilnehmer*innen wurden dazu eingeladen, ihr Artikulationsorgan unterstützt vom gesamten Körper zu aktivieren und mit Lauten, verschiedener Intensität, Tonlage und Sprechgeschwindigkeit zu spielen. Dasselbe machte man mit Worten und Sätzen, die später in der Erzählung benutzt werden würden, beides fand in einem magischen Ambiente statt und wurde von einem Begrüßungs- und einem Abschlussritual begleitet. NACH UND NACH ENTSTAND DAS BEDÜRFNIS, DIE MÄRCHEN DER VERSCHIEDENEN KULTUREN MIT DEM DEUTSCHSPRACHIGEN PUBLIKUM ZU TEILEN. SO FANDEN DIE ERSTEN ZWEISPRACHIGEN MÄRCHENERZÄHLUNGEN STATT, BEI DENEN DER GLEICHE INHALT IN BEIDEN SPRACHEN WIEDERGEGEBEN WURDE.

Später, nach der Gründung des Vereins, wurde der „Cuentacuentos“ Workshop an anderen Orten durchgeführt, beispielsweise im Spanischen Kulturinstitut Instituto Cervantes, in Familienzentren und in Bibliotheken.

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Weitere Projekte zur Anregung des Lesens in der Familie entstanden, wie etwa der „Reisende Koffer“, ein Koffer voller Märchen aus verschiedenen spanischsprachigen Ländern und Kulturen. Dieser reiste durch die Bezirke Berlins und ermöglichte den Familien, Bücher kostenlos zum Lesen daheim auszuleihen. So entwickelte sich eine Art mobile Bibliothek. Nach und nach entstand das Bedürfnis, die Märchen der verschiedenen Kulturen mit dem deutschsprachigen Publikum zu teilen. So fanden die ersten zweisprachigen Märchenerzählungen statt, bei denen der gleiche Inhalt in beiden Sprachen wiedergegeben wurde. Während man in der Organisation die Arbeit mit den Märchenerzählungen fortsetzte, begann das Zusammenwirken mit anderen Migrantengruppen und die Weitergabe der Erzählungen an diese 2016 nahmen verschiedene Migrantenorganisationen in Pankow, angeleitet durch MigraMove (später MigraPower genannt), an den Berliner Märchentagen teil und erzählen hier Märchen ihrer Kulturen in ihrer jeweiligen Muttersprache. Dieses Projekt wurde „Märchen erzählt… in deiner Sprache“ genannt. Die Beteiligung des MeM e.V. als Trägerorganisation des von MigraMove entwickelten Projektes sowie die Zusammenarbeit mit der Integrationsbeauftragten in Pankow gaben den Ausschlag in diesem Prozess. Sie übernahmen die institutionelle Arbeit und ermöglichten die Finanzierung der Märchenerzähler*innen während der ersten Phase des Projekts. Der Erfolg des Projekts weckte zunehmend das Interesse von Bibliotheken und so verbreiteten sich die Bilingualen Märchenerzählungen in Bezirken wie Treptow-Köpenick und Mitte.

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Obwohl das Bilinguale Erzählen nun institutionalisiert war und MigraUp grundlegende Richtlinien zu dessen Durchführung geschrieben hatte, gab es 2018 weder ein konkretes Erzählkonzept, noch ein Bildungsangebot für Märchenerzähler*innen. Nachdem festgestellt worden war, welches Potenzial die Migrant*innen mitbrachten, die Märchen ihrer Kulturen zu erzählen und wie wenig Erfahrung im Umgang mit dem zweisprachigen Format bestand, entschied sich MeM e.V. 2019, einen aus zwei Modulen bestehenden Workshop zu entwickeln. Dieser richtete sich an Erzähler*innen, die an den Berliner Märchentagen 2020 teilnehmen wollten und diente der Vorbereitung auf dieses Event. Der Workshop „Die Kunst des Märchenerzählens“ wurde im August und September des gleichen Jahres in Treptow-Köpenick durchgeführt. Während der beiden erfolgreichen Treffen wurde zum ersten Mal aus einer zweisprachigen Perspektive mit Märchen gearbeitet. Hier entstand die Idee, eine Gruppe zu gründen, um weiterhin dieses Format auszuprobieren und so die Kenntnisse über das zwei- bzw. mehrsprachige Erzählen zu erweitern. So entstand der „Erzählclub in Treptow-Köpenick“, der monatlich im KungerKiez Theater in Alt-Treptow, momentan pandemiebedingt jedoch online per Zoom, stattfindet. Aktuell nehmen mehr als fünfzehn Märchenerzähler*innen unterschiedlicher Nationalität teil, um sich weiterzubilden und ihre Kenntnisse bezüglich der Themenauswahl, der Technik sowie der Werkzeuge des bilingualen mündlichen Erzählens zu erweitern. Dies trägt unter anderem zum Empowerment der Migrant*innen bei, die als Teil ihrer Talente die Gabe des Märchenerzählens aus ihren Ländern mitbringen. Auf diese Art wird ihnen die Möglichkeit gegeben, in ihrer Muttersprache zu erzählen; zeitgleich wird eine Kommunikationsbrücke zur deutschen Sprache, der Sprache ihrer Umgebung, hergestellt: Ein Raum, wo Kulturen und Sprachen gemeinsam existieren, sich austauschen und lernen, sich gegenseitig einzubeziehen.

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THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM BILINGUALEN MÄRCHENERZÄHLEN Zusätzlich zu den bereits aufgeführten Aktivitäten hielt der Verein es für unerlässlich einen theoretischen, konzeptionellen Rahmen für das zweisprachige Erzählen zu schaffen, der zukünftigen Projekten als Grundbaustein dienen könnte. Im Folgenden werden zwei essenzielle Punkte aufgeführt, welche die Notwendigkeit dieser Art des Erzählens in der Migrant*innen-Community aufzeigen.

2.1 Märchenerzählen als Werkzeug zur sprachlichen Entwicklung zwei- und mehrsprachiger Kinder Man geht davon aus, dass die durch Märchen erschaffenen Bilder den Kindern ein Werkzeug zum Verständnis ihrer interkulturellen Umgebung an die Hand geben und M ihnen eine Reihe von Wegen aufzeigen, wie sie problematische Situationen in ihrem Umfeld verstehen und handeln können. Über den linguistisch vermittelten Inhalt hinaus, enthalten die Märchen einen hohen Grad an Emotionalität und Empathie, die dem/den Mädchen und Jungen das Gefühl geben, in einem bekannten und sicheren Ambiente zu sein, das geeignet ist, für signifikantes, offenes und grenzenloses Lernen, welches auf Gemeinsamkeit und nicht auf Trennendem basiert. Durch die Märchen erlernt man eine Sprache und ihren kulturellen Hintergrund ausgehend von der Symbolwelt der Phantasie, : das heißt, einer Welt, in der die Kinder sich auskennen, einer Welt, in der alles, was man pflanzt, Blüten trägt. Die Vermittlung einer oder mehrere Kulturen mithilfe von Märchen geschieht so auf spontane, frische und unterhaltsame Weise, die das intuitive Lernen kultureller Codes und Bezüge zulässt, welche aufgrund ihres hohen Anteil an Fremdheit und Abstraktion anderweitig nicht vermittelt werden könnten.. Erwähnenswert ist auch, die kollektive Form, in der die Märchen erzählt werden, bei der die Gruppe normalerweise in einem Kreis sitzt, was eine Atmosphäre der Einheit und Zugehörigkeit fördert und dafür sorgt, dass kulturelle und sprachliche Erfahrungen aus einem Blickwinkel der Toleranz, Akzeptanz und Inklusion erlebt werden. Außerdem erlaubt es dem/den Mädchen und Jungen, einen Ort des Vertrauens zu finden, um ihre eigene Stimme, ihr inneres Narrativ zum Vorschein zu bringen und zu nutzen.

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2.2 Was meinen wir, wenn wir von einer mehrsprachigen, interkulturellen Familie sprechen? Wie bereits erwähnt, war einer der Hauptgründe für die Gründung des Vereins der Wunsch der Gründerinnen und der zukünftigen Mitglieder, ihren Kindern den Erwerb ihrer Muttersprache zu ermöglichen. Mithilfe des Vereins wollte man die Mehrsprachigkeit in Berlin auf aktive Weise fördern; in einer deutschsprachigen Umgebung, mit spanischsprechenden Familien. Aus diesem Grund bot der Verein von Anfang an Aktivitäten auf Spanisch für die Familien an. Hierher kamen sie auf der Suche nach einem Ort, an dem ihre Jungen und Mädchen ihre Sprache verbessern, sie andere Familien, die ebenfalls in dieser mehrsprachigen Welt lebten, kennenlernen und als Gemeinschaft neue Aktionen entwickeln konnten, mit Auswirkungen auf die Bildung und die Gesellschaft des Aufnahmelandes.. Aus diesem kollektiven Handeln entstehen Projekte, die immer mehr zu einem mehrsprachigen interkulturellen Familienkonzept führen. Nach diesem Konzept ist die Familie der Ausgangspunkt, wo Prozesse zum Wohle der Gemeinschaft kreiert und entwickelt werden. Das sind Projekte, die die Interaktion von zwei oder mehr Sprachen, die im familiären, pädagogischen und sozialen Kontext, in dem sie sich befinden, untersuchen. Auch der Begriff der Interkulturalität wird als wichtiger Bestandteil des gesamten Erziehungsprozesses erforscht. Durch ihr ureigenes Wissen über Traditionen, Bräuche, Geschichte und Ereignisse der Orte, aus denen sie kommen, sind sie befähigt, ihr eigenes Familienprojekt Stück für Stück zu erschaffen.. Der Verein unterscheidet: zwischen der Förderung der Zweisprachigkeit und der Mehrsprachigkeit und der Anerkennung der Interkulturalität und der Transkulturalität der Mitglieder-Familien. All diese Prozesse (Zweisprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Transkulturalität) werden im Rahmen der angebotenen Aktivitäten entwickelt. Allerdings wird in Abhängigkeit des jeweiligen Publikums entschieden, auf welchem Punkt der Fokus liegt:

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Zweisprachigkeit wird gefördert, da es um Spanisch und Deutsch als gemeinsame Vereinssprachen (linguae francae) geht, weshalb die Mehrheit der Aktivitäten in diesen zwei Sprachen angeboten werden. Mehrsprachigkeit wird gefördert, da Berlin als mehrsprachige Stadt, in der über 120 Sprachen interagieren, anerkannt wird. Bei der Zusammenarbeit mit diesen anderen Sprachen werden wichtige Fortschritte im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit erreicht, vor allem hinsichtlich der Bildungspolitik. Interkulturalität wird durch den Austausch zwischen der Kultur des Aufnahmelandes (der deutschen Kultur) und der eigenen Kultur der jeweiligen Person betrieben, damit die an den Aktivitäten teilnehmenden Kinder sich beide Kulturen aneignen und sich mit ihnen identifizieren können. Transkulturalität wird durch die Anerkennung der verschiedenen in Berlin existierenden Kulturen thematisiert, was dazu führt, dass die Kinder sich Traditionen, Bräuche oder Sitten anderer Kulturen aneignen und sie in ihre eigenen integrieren. In Anbetracht all dieser Punkte definiert der Verein eine mehrsprachige interkulturelle Familie als Familie, die Tag für Tag ihre Identität kreiert, aktiv an diesem Prozess teilnimmt und dazu beiträgt, dies auf die Gesellschaft, die sie umgibt, zu übertragen, In diesen Familien tauscht man sich in zwei oder mehr Sprachen aus und die Diversität ihres Umfelds wird respektiert und anerkannt. Aus diesem Grund sind Mehrsprachigkeit und Interkulturalität für den Verein aktive, kreative Prozesse, die zwei oder mehr Kulturen inklusive der zugehörigen Sprachen umfassen. Das sind zwei Konzepte, die in allen Bereichen der Stadt angewendet werden sollten: in den Familien, in der Gesellschaft, in der Bildung und am Arbeitsplatz. Auf diese Weise wird die Identität der Communities der Migranten, ihrer Familien und schließlich ihrer Kinder angestrebt, durch Anerkennung der Diversität, um notwendige Veränderungen in der Öffentlichen Politik des Landes zu bewirken.

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2.3 Definition des Bilingualen Märchenerzählens Das Mündliche Erzählen ist ein Kommunikationsakt, der so alt ist wie die Menschheit selbst; eine Kunst, die Geselligkeit und Affektivität am Ort der Erzählung fördert, die in unterschiedlicher Umgebung vorgetragen werden kann: in einer Gemeinschaft, in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit oder in einem kulturellen Umfeld. Hauptträger des Erzählens ist die Sprache, das Wort, um eine Geschichte, die immer kulturelle Kodes enthält, zu übermitteln, sie ist eine Form, die Welt zu verstehen, eine Mythologie, die die zugehörige Kultur charakterisiert. Was passiert also, wenn man vor der Herausforderung steht, diesen Erzählakt in einer Umgebung vorzutragen, in der Sprache und Kultur, in der man erzählt nicht die der Mehrheit sind? Hier eröffnet sich in Vielzahl von Möglichkeiten, die dazu einladen, ein neues Konzept des Erzählens zu erarbeiten. Dieses macht es möglich, in der Herkunftssprache zu kommunizieren und gleichzeitig mit den Zuhörerinnen und Zuhörern die kulturellen Wurzeln, die Mythologie und die Weltanschauung des Erzählers bzw. der Erzählerin zu teilen. Das heißt, ein Format, das es Allen möglich macht, das Erzählte zu verstehen.

Daher wird das Bilinguale Märchenerzählen als Erzählform definiert, die in zwei Sprachen erfolgt. Die Umgebungssprache hat die Aufgabe, die Geschichte für das Publikum verständlich zu machen, ohne die Notwenigkeit einer Übersetzung des Textes, was dafür sorgt, dass das Märchen nichts von seiner Authentizität und seinem eigenen Rhythmus verliert und dass die Zuhörer*innen die Melodie, die Tonalität und sogar das ein oder andere Wort in der Herkunftssprache des Märchens mitnehmen. In jedem Fall ist das Bilinguale Märchenerzählen ein Angebot, bei dem die Geschichte auf dynamische Weise mit der Sprache, die die große Mehrheit der Zuhörerinnen und Zuhörer spricht, verwoben wird, und sie von ihnen gleichzeitig umfangen, verinnerlicht und dankbar angenommen wird.

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PRAXISORIENTIERTE EMPFEHLUNGEN FÜR DIE ERZÄHLER*INNEN 3.1 Warum sollten die Märchen zweisprachig erzählt werden? Um dem Publikum nicht nur eine Geschichte, sondern eine authentische Reise in eine andere Welt, eine andere Kultur und andere Lebensvorstellung mit anderen linguistischen Codes, um diese mitzuteilen, zu schenken. Gleichzeitig fördert es das Interesse am Erlernen einer neuen Sprache und bietet denen, die sie bereits sprechen, die Möglichkeit, sie zu bereichern und zu üben. Es gestattet den Erzähler*innen des Märchens in seiner Originalsprache, dass sie ihre innere Stimme hervorbringen und mit der Sprache ihres Herzens erzählen, dabei laden sie das Publikum dazu ein, auf authentische Weise in ihre Welt einzutreten, sie wird voll Dankbarkeit in die ihre aufgenommen. Diese Art des Erzählens schafft einen Raum, in dem verschiedene Sprachen und Kulturen die Möglichkeit haben, sich kennenzulernen und zu akzeptieren, ausgehend von ihren Gemeinsamkeiten und nicht von dem, was sie trennt. Das heißt: das Mündliche Erzählen verwandelt sich in ein ideales Werkzeug und agiert als Brücke zur Interkulturalität und Vielfalt, welche die Gesellschaft charakterisieren.

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3.2 Welches Modell des Bilingualen Märchenerzählens sollte genutzt werden? Hier gibt es ebenfalls mehrere Optionen, von denen die vier folgenden als mögliche Modelle untersucht worden sind: Das Märchen wird von zwei Erzähler:innen erzählt. Jede*r erzählt die Geschichte in ihrer bzw. seiner Muttersprache ohne dass jedes Wort übersetzt werden muss, was der Erzählung Lebendigkeit und Dynamik verleiht. Das Märchen wird von einer Erzähler:in erzählt, die beide Sprachen beherrscht und die Geschichte in beide Sprachen verständlich übermittelt, ganz natürlich, so als würde jemand mit zwei seiner Seiten spielen, die eine Einheit bilden. Das Märchen wird von einer Erzähler:in in der Sprache erzählt, die die Mehrheit die Zuhörer*innen spricht (in diesem Fall auf Deutsch) wobei Wörter, Sätze, Spiele und andere Elemente, die in der Originalsprache des Märchens vorkommen, vorgestellt und vom Publikum angenommen werden können. Das Märchen wird in der Originalsprache erzählt und es gibt eine Zusammenfassung der Geschichte in der Sprache der Mehrheit des Publikums, zum Verständnis aller Zuhörer*innen.

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3.3 Was muss ich bei der Märchenauswahlbeachtenn? Das ist ein es Moment und man sollte folgendes beachten: Auswahl eines von der Erzählerin/dem Erzähler geliebten Märchens, mit dem sie/er sich emotional verbunden fühlt. Man sollte dafür sorgen, dass das Märchen voller Phantasie und Humor steckt. Man sollte auf Geschichten aus der eigenen Kindheit zurückgreifen. Dadurch schenkt man dem Publikum einen Teil von sich selbst und etwas von der Tradition des mündlichen Erzählens der Kultur/-en, mit der/denen die Erzählenden sich identifizieren. Man sollte überlegen, an welches Publikum sich die Geschichte richtet. An dieser Stelle ist es vor allem wichtig zu berücksichtigen, ob die Zuhörer*innen zweisprachig, gemischt oder überwiegend einsprachig ist. Auf diese Weise kann entschieden werden, welche Präsenz jede Sprache im Märchen hat. Ebenfalls in Abhängigkeit vom Publikum sollte man in bestimmten Fällen die verschiedenen Altersgruppen beachten und sich auf deren Bedürfnisse ausrichten:

Bei Kindern zwischen 0 und 2 Jahren sollten vorzugsweise Puppen/Marionetten oder ähnliche Elemente genutzt werden, die von den Kindern angefasst werden können und verschiedene Texturen, Farben und Geräusche aufweisen. Man sollte einfache Lieder, Gesten und Mimik verwenden und die Methode der Wiederholung nutzen.

Für Kinder zwischen 2 und 4 Jahren sollte man weiterhin Puppen verwenden als Art der Motivation, das Buch sollte zusätzlich als zentrales Element eingeführt werden, idealerweise handelt es sich um ein Buch, das wenig Text und viele Illustrationen enthält. In dieser Altersgruppe sind Kurzgeschichten wie Fingerreime angesagt, bei denen die Teilnehmenden Sätze, Handlungen und Gesten ständig wiederholen.

Für Kinder zwischen 4 und 6 Jahren können etwas kompliziertere und stärker ausgearbeitete Geschichten gewählt werden, wobei die Mädchen und Jungen sich aktiv einbringen können, sei es durch die Wiederholung bestimmter Textpartien oder, das Anbieten verschiedener Lösungswege für bestimmte Charaktere bis zur Änderung des Schlusses. Auch in dieser Altersgruppe empfiehlt es sich, gemeinsam mit den Kindern das Märchen auf einfache Weise zu dramatisieren, wobei die Mädchen und Jungen von sich selbst ausgehend die verschiedenen Momente und Interaktionen des Märchens entdecken sollen.

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3.4 Welche Themenbereiche könnten das Interesse eines zweisprachigen Publikums erwecken? Ausgehend von der Annahme, dass sich ein zwei- bzw. mehrsprachiges Publikum aus Personen zusammensetzt, die verschiedene Lebenserfahrung in diversen kulturellen und sozialen Kontexten mitbringen, ist es leicht an folgende Thematiken zu denken: Autobiographische Geschichten, bei denen die Erzähler*innen ermöglichen, ihre eigene Geschichte mit dem Publikum zu teilen. Märchen aus der mündlichen Überlieferung ihres Herkunftslandes. Geschichten über Reisen und Abenteuer (anhand dieser können Themen wie die der Migration, des Exils und der Flüchtlinge behandelt werden). Geschichten über Unterschiede (nicht nur zwischen Kulturen, sondern die die Idee verstärken, dass wir alle verschieden sind und es wert sind, einen Platz und eine Chance auf der Welt verdienen. Geschichten zum Thema Gefühle. Geschichten über die Geburt und den Tod. Witze, und Traditionen.

3.5 Wie sollte das Märchen zum Erzählen vorbereitet werden? Es ist empfehlenswert, das Märchen mehrmals durch zu lesen. Auf diese Weise kann sich die Erzählerin/der Erzähler vollständig mit dem Märchenvertraut und es sich zu eigen machen. Nur so wird es sich in ein einzigartiges und unwiederholbares Märchen verwandeln, erzählt von der inneren Stimme. Außerdem ist es sehr wichtig zu überlegen und, zu entscheiden, wie das Märchen in beiden Sprachen erzählt werden soll. Was wird in der jeweiligen Sprache erzählt und wie? Eine wörtliche Übersetzung und Erzählung des Märchens ist in keinem Fall notwendig, da dies die Erzählung verlängern, das Publikum langweilen und zu einem Verlust der Dynamik der Erzählung und zum Verlust des intuitiven Aspekts der sprachlichen Übertragung führen würde, Es ist wichtig zu entscheiden, wie die verschiedenen Charaktere dargestellt werden und bei ihrer Einführung die Kinder einzubeziehen, durch Fragen, Wiederholung eines Satzes, eines Lieds, eines Spiels, etc. Es wird empfohlen, die notwendigen Materialen für das Erzählen sorgsam auszuwählen und festzulegen, wann sie zum Einsatz kommen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass ein zweisprachig erzähltes Märchen viele kulturelle Codes und Bezugspunkte enthält, die das Publikum nicht kennt. Aus diesem Grund empfiehlt sich die begleitende Nutzung von Elementen, die das Verständnis erleichtern, wie z.B.: Puppen, Gegenstände, Tücher, Illustrationen, Musik und der unverzichtbare Gebrauch der Körpersprache.

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3.6 Welche Bedeutung hat der Gebrauch magischer Elemente beim Erzählen? Unterstützende Medien die die Erzählerin/der Erzähler beim Vortrag des Märchens benutzt, werden als magische Elemente bezeichnet. Sie helfen nicht nur, Motivation und Konzentration zu wecken und eine magische Atmosphäre für die Märchenerzählung zu schaffen, sondern sind auch ein hervorragendes Mittel, um Gegenstände, die im Märchen auftauchen, zu visualisieren und können dem Publikum neue, unbekannte Wörter darstellen. Bei Märchen, die in verschiedenen Sprachen erzählt werden, ist diese Unterstützung unverzichtbar, um das Erzählte zu verstehen. Diese Elemente können so unterschiedlich sein wie der Einfallsreichtum der Erzählerin/des Erzählers: von farbigen Tüchern, Zauberstäben, Rucksäcken, Magischen Taschen, Muscheln, in denen man das Meer rauschen hört, Puppen, Musikinstrumente und Gegenstände, die die Kultur, von der das Märchen erzählt, repräsentieren, bis zur Kleidung des Erzählenden.

3.7 Wie gestaltet man den Raum für das Märchenerzählen? Damit das Märchen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern als das ankommt, was es ist, ein Akt der Magie, Freude, Phantasie, des Genusses und des Zaubers, sollten der Ort und der Moment der Erzählung als etwas ganz Besonderes präsentiert werden. Es sollte wenn möglich in einemsicheren, gemütlichen, schummerige beleuchteten Raum vorgetragen werden, der das Publikum dazu einlädt, sich zu entspannen und sich zu öffnen. Der Raum kann gestaltet werden mit Decken, bunten Tüchern, Kissen, Naturelementen, Musik und anderen einfachen Objekten, (möglichst in Form eines Kreises, was die Vorstellung von Einbeziehen und Teilen unterstützt). Hier angekommen, kann man sich auf das Vorlesen des Märchens konzentrieren.

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3.8 Der Moment der Geschichtenerzählung Folgende Aspekte sollte man im Vorfeld der Erzählung beachten: Daran denken, dass der Erfolg der Erzählung von vielen verschiedenen Faktoren abhängt und dass das Geplante nicht immer wie erwartet stattfinden wird. Kinder sind eine permanente Überraschung und der Erzähler/die Erzählerin muss darauf eingestellt sein, um potenzielle Frustration zu verhindern. Der einzige Weg zu lernen, wie man Märchen erzählt, ist das Erzählen selbst. Es ist empfehlenswert immer mit einem Ritual zu beginnen, das die Kinder auf das Zuhören vorbereitet: ein Lied, ein Spiel oder eine Entspannungsübung, die zu Stille und Konzentration einladen. Langsam erzählen, dabei jedes Wort gut artikulieren, so dass die Kinder genügend Zeit haben, alles, was in der Geschichte passiert zu visualisieren. Die Körpersprache sollte dabei permanent verwendet werden: eine Hand, die sich bewegt kann ein Fisch, ein Meer, ein Schmetterling oder eine Anweisung zum Innehalten darstellen.

Die Stimme nutzen, um verschiedene Nuancen in die Geschichte einfließen zu lassen, die dabei helfen, die Aufmerksamkeit der Kinder aufrechtzuerhalten und/oder sie gegebenenfalls wiederzuerlangen. Wenn möglich, das Märchen auch mit einem Abschlussritual zu beenden, das den Mädchen und Jungen ermöglicht, sich von ihm zu verabschieden, um eine neue Tätigkeit zu beginnen. Immer wenn es möglich ist, den Mädchen und Jungen zu erlauben, mit den beim Erzählen verwendeten Elementen, zu interagieren, bei der Gelegenheit kann beobachtet werden, ob sie in der Lage sind, ihnen neue Rollen zuzuweisen. Die Kinder beim Auf- und Abbau der Bühne, auf der erzählt wird, miteinbeziehen. Stets überlegen, auf welche Weisen die Geschichte für die Kinder lebendig bleiben kann. Dies kann auf verschiedene Art erreicht werden: Nach der Erzählung wird das Märchen nachgespielt, es wird etwas aus ihrem Inhalt gemalt oder gebastelt es wird theatralisiert und es kann ein Medium empfohlen werden, wo im Internet sie es noch einmal gemeinsam mit der Familie nachhören können.

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4 DAS HANDBUCH ALS DYNAMISCHES, SICH ENTWICKELNDES KONZEPT Bis hierher wurden theoretische sowie praktische Aspekte thematisiert, die beim Märchenerzählen im bilingualen und oder multilingualen Format als wichtig angesehen werden. Aus dem Vorgenannten geht außerdem hervor, dass das Märchenerzählen nicht nur auf die bloße die Zeit des Vorlesens beschränkt ist, sondern dass vorher eine Vorbereitungszeit erforderlich ist, ohne die das Ergebnis niemals zufriedenstellendwäre. Außerdem sei gesagt, dass alle dargelegten Konzepte und Hinweise in diesem Handbuch das Resultat der gesammelten Erfahrungen des Vereins MeM. e.V. seit seiner Gründung sind und keinesfalls als Patentrezept, oder strikte und fertige Arbeitsanweisung dienen sollen, sondern im. Gegenteil: ein Handbuch, das in der Bewegung erarbeitet worden ist und weiter wachsen wird, sich verändern und durch den Prozess und die Erfahrung aller Beteiligten bereichert werden wird. MaMis en Movimiento e.V. wird weiterhin an der Vorbereitung von Erzählerinnen und Erzählern arbeiten, mit Hilfe der Workshops „Die Kunst Märchen zu erzählen“ und dem „Erzählclub“ Wir hoffen, dass alle an dieser Thematik interessierten Menschen hier die notwendigen Werkzeuge zur Entwicklung ihrer eigenen Erzählangebote und einen Zugang zur Gemeinschaft y von Erzählerinnen und Erzählern finden, die über eine immer größere kreative, solide und inklusive Erfahrung verfügt, um Andere zu begleiten beim Finden ihrer eigenen Stimme, um Märchen aus dem Herzen heraus zu erzählen.

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Impressum I Aviso Legal Herausgeber I Editor MaMis en Movimiento e.V. Esmarchstraße 18, 10407 Berlin Co/Kurt-Tucholsky-Bibliothek Deutschland www.mamisenmovimiento.de info@mamisenmovimiento.de Berlin, 2021 Teil des Projekts “Mehrsprachigkeit, Teilhabe und interkulturelle Öffnung in TreptowKöpenick“ 2021, gefördert aus Mitteln des bezirklichen Integrationsfonds des Bezirks Treptow-Köpenick. Idee und Realization I Idea y realización: Loretta López & Ana María Acevedo Gestaltung und Layout I Desarrollo y diseño: Yazmín Ayala & Andrea Duncan Übersetzung I Traducción: Ana Einchenbonner Textkorrektur I Correción del texto: Theresa Binder


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