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RUHR-FAMILIEN

RUHR-FAMILIEN

— Dieser Werbespruch mag noch immer stimmen. Inzwischen aber trägt zumindet in Europa die halbe Welt Deichmann-Schuhe.

Angefangen hat die Geschichte 1913. Da eröffnete der jung verheiratete Schuhmacher Heinrich Deichmann aus Borbeck in Borbeck sein erstes Geschäft. Nichts Besonderes eigentlich – außer, dass Deichmann mutig Geld in moderne Maschinen für Schuhreparaturen investierte: So konnte er schneller und preiswerter als Konkurrenten seinen meist wenig betuchten Borbecker Kunden dabei helfen, ihre Schuhe wieder und wieder zu flicken. Auch bei neuen Schuhen bemühte Deichmann sich um preiswerte Angebote, und früh begann er, solche Schuhe selbst aus Fabriken zu beziehen.

| Leben mit Schuhen

— Firmengründer Heinrich Deichmann mit einer Tochter vor seinem Schuhgeschäft mit Reparaturdienst in Essen-Borbeck.

Das gute Geschäft Bei Deichmann wird auch ohne Renditewahn ein Schuh draus Vom kleinen Schustergeschäft in Essen-Borbeck binnen zweier Generationen zum größten Schuhhändler Europas: Die Deichmanns haben das vielleicht erstaunlichste Kapitel zur Geschichte „Familienunternehmen an der Ruhr“ geschrieben. Nicht mal, weil sie so schnell so groß wurden. Sondern weil sie so ganz anders sind als andere Große. Jetzt, in Zeiten der Renditejäger und Bonusabschöpfer, jetzt gilt das erst recht.

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Vier Töchter hatten Heinrich und Julie Deichmann miteinander, ehe am 26. September 1926 ein Sohn geboren wurde: Heinz-Horst, nicht nur nach damaligem Verständnis „endlich ein Stammhalter“, sondern auch im Rückblick derjenige, ohne den die Deichmann-Story wohl kaum je über den vertrauten Borbecker Raum hinausgewachsen wäre. Schuhe und Ledergeruch umgaben den kleinen Jungen vom ersten Tag an: Wo die Deichmanns wohnten, nicht weit vom Borbecker Ortskern, da waren Geschäft, Werkstatt, Lager und Wohnung unter einem Dach, und gelegentlich wurde auch die „gute Stube“ zum Lagerraum. Es drehte sich jedoch nicht alles nur um Schuhe bei Deichmanns. Vater Heinrich war Mitglied einer evangelischen Freikirche. Beten, Vorlesen aus der Bibel waren Teil des Alltags, Gottesdienst und Sonntagsschule gehörten zu jedem Wochenende. Gott und seine Gebote waren stets zugegen. Die Fröm-

migkeit hat Heinz-Horst von Anfang an geprägt – Frömmigkeit übrigens, nicht Frömmelei, denn soziales Engagement gehörte ebenso dazu wie das offene Bekenntnis zur Religion in Zeiten, da das alles andere als opportun war. Die dreißiger Jahre waren daher für die Familie Deichmann eine zwiespältige Zeit. Einerseits prosperierte das kleine Schuh-Unternehmen, so dass 1930 eine Filiale im Ortszentrum eröffnet werden konnte; 1936 fanden sich sogar passende Ladenräume direkt am Markt, in Borbecks erster Lage. Andererseits suchten örtliche Nazis, die Freikirchler unter Kontrolle zu nehmen. Heinrich Deichmann hielt es mit jenen, die keine Kompromisse einge-

hen wollten. Und von 1937 an fanden deren Gottesdienste als „Bibelstunden“ bei Deichmanns zu Hause statt. Im Jahr darauf zeigte Heinrich Deichmann nach dem Novemberpogrom Sympathie mit den Juden – nicht in spektakulärer, aber doch für die Nazis nicht zu übersehender Weise.

| „In Gottes Hand“ Es bleibt offen, ob sich diese Kraftprobe zugespitzt hätte und auf welche Weise der kleine Schuhhändler sie hätte bestehen können. Heinz-Horst Deichmann vermutete später, dass schon die seelische Belastung in den späten dreißiger Jahren die körperlichen Kräfte des Vaters gebrochen haben: „Es hat ihn krank gemacht.“

Am 20. Juli 1940 starb Heinrich Deichmann an einem Schlaganfall, 52 Jahre alt. Da stand Europas Juden und Nazigegnern das Schlimmste noch bevor. Deutschland auch. Julie Deichmann führt das Schuhgeschäft weiter. HeinzHorst mit seinen knapp 14 Jahren hilft. Dass der „Stammhalter“, dem Vater irgendwann nachfolgen soll, steht schon im Raum. Doch zunächst geht Heinz-Horst weiter zum Gymnasium und erhält 1944 sein „Not-Abitur“. Er wird Luftwaffenhelfer im benachbarten Stadtteil Frintrop – und muss in letzter Stunde auch noch an die nahgerückte Ostfront. Sekunden, ehe er zum ersten Mal seine Panzerfaust abfeuert, trifft ihn der Granatsplitter aus einer „Stalinorgel“ am Hals. Zentimeter trennen ihn vom Tod. Heinz-Horst Deichmann, der sich schon 1937 ganz bewusst mit der Taufe seinem Gott zugewandt hat, ist nun erst recht sicher: „Du bist in Gottes Hand.“ Und zum ersten Mal denkt er daran, zurückzugeben: Arzt zu werden, Missionsarzt.

| Ein Doppel-Leben Zunächst schlägt sich der verwundete Soldat Ende Mai ins heimatliche Borbeck durch. „Der Junge ist wieder da!“ Und kaum angekommen, entfaltet Heinz-Horst Deichmann auf mehreren Ebenen gleichzeitig zielstrebige Aktivität. Bezeichnend, dass der junge Mann mit seinem Not-Abitur nicht zufrieden ist und wieder zur Schule geht, um ein richtiges Abi zu machen. Noch ehe er das neue Reifezeugnis in der Tasche hat, schreibt er sich 1946 in Bonn für Theologie ein. Im ersten Semester belegt er zusätzlich

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