Migros Magazin 46 2011 d LU

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NR. 46, 14. NOVEMBER 2011 | migros-magazin |

«Es braucht wenig, um gesünder zu leben»

Soziologin Ilona Kickbusch war lange für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) tätig. Heute berät sie Regierungen auf der ganzen Welt. Die 63-Jährige über soziale Ungleichheiten im Gesundheitsbereich, Essensregeln in der Schule und die wichtigsten Ernährungsgrundsätze.

Ilona Kickbusch, Sie haben lange in den USA gelebt undwohnen heute in Bern.Wo lebt man gesünder?

Der Zugang zu einem gesünderen Leben ist in der Schweiz einfacher, allein schon deshalb, weil wir hier weniger aufs Auto angewiesen sind als in den weiträumigen USA. Dort hat es wenig öffentliche Verkehrsmittel,RadwegeundFussgängerstreifen.In der Schweiz bewegen wir uns mehr und kommen auch einfacher zu gesundem Essen als in Amerika. Und wir haben weniger extreme soziale Ungleichheiten. Unter einem gesunden Leben versteht mancher all das, was Lust und Spass verdirbt.

Vor 15 oder 20 Jahren war das vielleicht noch so. Inzwischen erleben viele Menschen einen Gewinn an persönlicher Lebensqualität dank eines gesunden Lebensstils. Sie merken, dass Gesundheit und Bewegung Spass machen,sie unternehmen zusammen eine Bergwanderung oder geniessen ein feines, gesundes Essen. Was ist eigentlich Gesundheit? Gibt es eine Definition dafür?

Im Gegensatz zur Krankheit nicht nur medizinisch. Es sind auch soziale und psychische Komponenten zu berücksichtigen. Deshalb hat Gesundheit immer eine gesellschaftliche Bedeutung, aber auch eine sehr private. Wir unterscheiden drei Dimensionen der persönlichen Gesundheit: Die eigene Wahrnehmung, das gesellschaftlich-soziale Umfeld und die medizinischen Befunde. Deshalb ist Gesundheit ein Befinden,das sehr persönlich erfahren wird. Und wie äusserst sich das? Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Sie werden Menschen mit Diabetes finden, die sich nicht dauernd als krank

Beraterin mit Weitblick

Wer vermittelt uns diese Kompetenz?

Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit jedes Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken.Die Gesellschaft und die Politik müssen ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickeln, wie wichtig es ist,eine solche Kompetenz für alle zu schaffen und durch diese Transparenz im Gesundheitssystem und in der Konsumwelt zu unterstützen.Weil eine gesunde Gesellschaft auch wirtschaftlich bedeutsam ist,liegt dies im gesellschaftlichen Interesse. Wir brauchen dafür im Alltag konkrete Antworten, etwa wie ich einkaufen soll, welche Lebensmittel gesund sind, was ich kochen und wie viel ich mich bewegen soll.

Wenn es um grosse Entwürfe für eine «gesundheitsgerechtere» Gestaltung unserer Welt geht, zählt ilona Kickbusch (63) zu den ersten Adressen. Die promovierte Soziologin, Politikwissenschafterin und Initiatorin der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung hat während ihrer langjährigen Tätigkeit bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die europäische und internationale Gesundheitspolitik mitgeprägt. Seit ihrer Zeit als Professorin an der Yale University in den USA ist sie als Beraterin für viele nationalen Regierungen, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) tätig.

definieren, während andere ihre Krankheit in den Mittelpunkt ihres Daseins stellen.Untersuchungen von Menschen, die über 100 Jahre alt geworden sind, zeigen, dass diese häufig sehr gut sozial vernetzt sind und eine eher optimistische Lebenseinstellung haben. Nachdem wir es geschafft haben, unser Durchschnittsalter zu erhöhen, geht es nun offensichtlich darum, besser und gesünder zu leben.

Ja, denn wir wollen mit viel Lebensqualitätalt werden.Das ist für viele Menschen auch einfacher geworden. Einerseits durch das Lebensumfeld, anderseits durch ein höheres Gesundheitsbewusstsein. Gesundheit lebt sich ja immer nur praktisch im Alltag, in unserer Lebensund Arbeitswelt. Das Zusammenspiel zwischen dem, was ich selber mache, und dem,was mir meine Umwelt ermöglicht, ist geprägt von Eigen- und Mitverantwortung für die anderen. Dafür braucht man eine Gesundheitskompetenz, die nicht für jeden gleichermassen zugänglich ist.

«Gesundheitliche Ungleichheiten nehmen zu.»

Viele Menschen fragen sich eher, wo sie am günstigsten einkaufen und wie sie am Ende des Monats ihre Versicherungsprämien bezahlen können.

Die Ungleichheiten nehmen tatsächlich zu.Besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter und ihre Kinder,aber auch Migrationsfamilien. Diese gesundheitliche Zweiteilung kennen wir auch in der Schweiz: Der Grossteil der übergewichtigen Kinder kommt aus den unteren sozialen Schichten, weil sich hier soziale Faktoren mit mangelndem Einkommen und geringer Gesundheitskompetenz verbinden. Wenn diesem Mangel durch ein konkretes Vorleben und Massnahmen auch in der Schule nichts entgegengesetzt wird, bedeutet das auch eine Zunahme von chronischen Krankheiten im späteren Lebensverlauf. Je mehr einerverdient,desto gesünder ist er?

Ja, weil viele soziale und ökonomische Faktoren zusammenwirken — die bessere Ausbildung,die angenehmeren Lebensumstände, das verfügbare Einkommen für eine gesunde Lebensweise. Aber


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