Migros-Magazin-20-2013-d-BL

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migros-magazin | NR. 20, 13. MAI 2013 |

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«Der grosse Kanton» Im Kino hat sich Viktor Giacobbo (61) in den letzten Jahren rar gemacht. Sein neuer Film «Der grosse Kanton» ist anders als «Undercover» (2005) oder «Ernstfall in Havanna» (2002) keine fiktionale Geschichte, sondern ein satirischer Dokumentarfilm. Darin konfrontiert der Satiriker prominente Akteure auf beiden Seiten der Grenze mit der Idee, dass Deutschland der Schweiz doch als neuer Kanton beitreten könnte, um die diversen aktuellen Streitpunkte einvernehmlich zu lösen. Viktor Giacobbo, Das ist umso unterhaltsamer, als es Giacobbo Regisseur und gelungen ist, nicht nur prominente Schweizer Satiriker wie Bundesrätin Doris Leuthard, FDP-Präsident Philipp Müller oder Germanist Peter von Matt vor die Kamera zu locken, sondern auch einige Schwergewichte der deutschen Politik, wie den früheren grünen Aussenminister Joschka Fischer, den Linkspartei-Chefdenker Gregor Gysi und den Co-Chef der Grünen Cem Özdemir. Selbst der abtretende Schweizer US-Botschafter Donald Beyer lässt es sich nicht nehmen, augenzwinkernd-ernsthaft darüber zu spekulieren, wie das dann wohl wäre und ob nicht, wenn man schon dabei ist, die USA der Schweiz auch gleich noch beitreten könnte. «Der grosse Kanton» läuft ab 16. Mai in den Schweizer Kinos

Wie kommt es, dass sich Deutschland und die Schweiz gerade in ihrem Verhältnis zum Staat so unterschiedlich entwickelt haben?

Der deutsche Geschichtsprofessor Volker Reinhardt lebt seit über 20 Jahren in der Schweiz.

Ein Wendepunkt war die Aufklärung im 18. Jahrhundert. Deutsche Intellektuelle haben damals den Staat zu etwas gemacht, was er nie zuvor gewesen ist: zum Löser aller Konflikte, zum ordnenden Element der menschlichen Existenz schlechthin. Sie haben sich vom Staat auch in eigener Sache viel erhofft, sie sahen sich als moralische Elite und wollten zur Führungsschicht gehören. Ihre Idee war eine Art aufgeklärter Absolutismus, in dem ein erleuchteter Fürst den Fortschritt bringt. Dieses Modell hat die Deutschen stärker überzeugt, weil sie solche Herrscher vor Augen zu haben glaubten — im Gegensatz zu den Schweizern. Die Deutschen glauben bis heute leidenschaftlich daran, dass der Staat alle Konflikte in der Gesellschaft und in wirtschaftlichen Lebensbereichen aus der Welt schaffen kann. Die Schweizer hingegen sind staatsskeptischer geblieben und setzen bezüglich gesellschaftlicher Fortschritte eher auf kleinräumige Strukturen und Einzelpersonen. Erstaunlich ist ja, dass diese Staatsgläubigkeit in Deutschland noch immer stark ist, obwohl man mit den Nazis und in der DDR mit den Kommunisten sehr üble Staatserfahrun-

«Der Respekt voreinander ist weiterhin hoch. Man achtet sich gegenseitig als Erfolgsmodell.»


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