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18 | Migros-Magazin 20, 16. Mai 2011

Und dann war sie nicht mehr da Als Zwilling ist man nur bedingt ein Individuum, sondern Teil einer Einheit. Das musste Beatrice Kolb schmerzlich erfahren, als ihre Zwillingsschwester Karin starb. Heute hat sie die plötzliche «Halbheit» überwunden und fühlt sich endlich als ganzer Mensch.

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er eigene Vater konnte sie nicht von der Schwester unterscheiden und nannte beide nie beim Namen. Er rief immer nur «Zwilling». Als Beatrice Kolb (50) heranwuchs, fand sie das völlig normal. Schliesslich glich sie ihrer vierzig Minuten älteren Zwillingsschwester Karin aufs Haar und wich kaum jemals von ihrer Seite. Sie war der Zwilling – und Karin war auch der Zwilling. Zwei Seiten einer Medaille, zwei Hälften eines Ganzen. «Das Zwillingssein ist ein Segen und ein Fluch», sagt Beatrice Kolb heute. «Einerseits ist man nie allein. Da ist immer jemand, der einen versteht, ohne dass man überhaupt reden muss. Aber man ist auch kein richtiges Individuum, sondern Teil einer Einheit. Das macht es extrem schwer, sich abzugrenzen und zur eigenen Identität zu finden, aber auch, sich für andere Menschen zu öffnen. Denn jemand steht einem immer schon so viel näher als alle anderen.» So ging es Karin und Beatrice von Kindesbeinen an. Zwar gab es Freundinnen, zwei Brüder, später Lebenspartner. Aber im Grunde genügte sich das eineiige Zwillingspärchen immer selbst. Die Schwestern hatten gemeinsame Talente, gemeinsame Interessen und machten fast alles im Team. Als Karin bei der Prüfung für die Kantonsschule 0.01 Punkte fehlten, weigerte sich Beatrice, alleine zu gehen, sodass schliesslich beide zugelassen wurden. Sie studierten zusammen an der HSG in St. Gal-

len, schlossen mit nahezu identischem Ergebnis ab und schlugen ähnliche Laufbahnen ein. 1995 machte sich Karin als Unternehmensberaterin selbständig – ein Jahr später gründete auch Beatrice ihre eigene Unternehmensberatung. Manchmal arbeiteten die Schwestern getrennt, manchmal zusammen, und ab und zu tauchten beide, ohne dass sie es abgesprochen hätten, im gleichen Outfit beim Kunden auf.

Bei Karins Chemotherapie verlor auch Beatrice Haare

«Es gab keinen Tag, an dem wir nicht mindestens zwei Mal miteinander telefonierten», erzählt Beatrice. «Karin lebte zwar mit ihrem Partner zusammen, und auch ich war liiert, aber, wenn ich ehrlich bin, war mir mein Freund nie so nah wie meine Schwester. Wer einen Zwilling als Partner hat, bekommt eigentlich ein Doppelpack. Mein Freund musste immer auch mit Karin leben und Karins Freund mit mir.» Eins aber unterschied Beatrice in all den Jahren von ihrer Schwester: Als Studentin entwickelte sie eine schwere Magersucht. Ein mehr als zehnjähriges Auf und Ab, an dem sie – auf 34 Kilo abgemagert − fast gestorben wäre. Mit Karins Hilfe und viel Selbstdisziplin schaffte sie den Absprung und erlebte so etwas wie ihre zweite Geburt. Was Karin gefühlt haben muss, als sie ihr Ebenbild dahinschwinden sah, lässt sich nur erahnen.

Jahre später sollte Beatrice den gleichen Horrortrip durchleben: 2003 wird bei Karin Blinddarmkrebs diagnostiziert. Der Anblick ihrer kranken Zwillingsschwester trifft Beatrice wie ein Schlag. «Als ich sie auf der Intensivstation sah mit all den vielen Schläuchen, die aus ihrem Körper kamen, angehängt an furchtbar tickende Maschinen, durchsichtig weiss ihr Gesicht, durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Sie, die Hälfte von mir, ist ernsthaft krank! Ich wurde ohnmächtig. Noch tagelang war ich wie traumatisiert, unfähig, zu handeln oder zu denken.» Auch ihr wird vorsorglich der Blinddarm entfernt, schliesslich hat sie dieselben Gene wie Karin und ist entsprechend gefährdet. Karin bekommt Chemotherapie. Und als gäbe es da einen unsichtbaren Blutkreislauf, der die beiden verbindet, gehen der gesunden Beatrice die Haare aus. Nach anderthalb Jahren Leiden stirbt Karin im August 2004. «Das war das Schlimmste, was ich je an Schmerz, Ohnmacht und Angst habe mitmachen müssen», erzählt Beatrice Kolb. «Sie ist gestorben − und mit ihr eine Hälfte meiner selbst.» Ein paar Monate noch halten die Erbschaftsformalitäten sie aufrecht, dann bricht die 44-Jährige total zusammen. «Ich war überhaupt nicht mehr lebensfähig. Mein Körper fühlte sich an wie eine halb leere Hülle. Mir wurde bewusst, dass ich gar nicht wusste, wer ich bin.» Völlig am Ende zieht


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