Migros Magazin 14 2011 d LU

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44 | Migros-Magazin 14, 4. April 2011

«Jedes entwickelte Land ist anfällig auf Cyberangriffe» Der Krieg verlagert sich ins Internet. Hacker schalten Stromnetze aus, bringen Eisenbahnen zum Entgleisen oder lassen Flugzeuge abstürzen. Alles nur pubertäre Fantasien? Nein, sagt Richard A. Clarke. Er muss es wissen, schliesslich hat er vier US-Präsidenten beraten. Richard Clarke, Sie haben ein neues Buch veröffentlicht. Es handelt vom Cyberwar, dem Krieg im Internet. Ist der Libyen-Konflikt ein Cyberwar?

Ein Cyberwar kann nur gegen ein Land geführt werden, das komplexe, vernetzte Systeme besitzt. Es kann sein, dass ein Teil der libyschen Luftabwehr diese Kriterien erfüllt und auch mit Hilfe des Internets angegriffen worden ist. Das weiss ich nicht. Mit Sicherheit kann man derzeit nur sagen, dass Libyen von Raketen getroffen wurde. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie das US-Oberkommando während des Irakkriegs Warnungen auf die Computer von Saddams Generälen übermittelt hat. Diese merkten, dass sie von den Amerikanern überwacht wurden. Könnte das jetzt auch bei libyschen Generälen so laufen?

Irak hatte eine grosse, gut ausgebildete Armee mit einem ausgedehnten Kommunikationsnetz. Das ist bei Libyen nicht der Fall. Die Armee ist viel kleiner und weit weniger professionell organisiert.

Mit anderen Worten: Libyen ist zu wenig weit entwickelt, um überhaupt mit Cyberwaffen angegriffen zu werden?

Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich vermute es.

Was genau hat man sich unter Angriffe aus dem Cyberspace vorzustellen?

Stellen Sie sich drei sich überschneidende Kreise vor. Der erste

Kreis ist Cyberkriminalität. Da geht es beispielsweise darum, mit falschen Identitäten Kreditkartenbetrug zu begehen. Im zweiten Kreis geht es um Cyberspionage. Da geht es darum, über das Internet militärische und wirtschaftliche Geheimnisse auszukundschaften. Im dritten Kreis geht es um Cyberwar. Da geht es darum, ein Netz, beispielsweise ein Stromnetz eines anderen Landes, lahmzulegen. Das geschieht zum Beispiel im Actionfilm «Stirb langsam IV». Kann man das wirklich ernst nehmen? Sind das nicht nur pubertäre Fantasien?

Nun, die Vereinigten Staaten von Amerika nehmen das sehr ernst. Sie haben eine eigene CyberwarEinheit gegründet, die von einem Vier-Sterne-General kommandiert wird. Auch die Navy hat inzwischen eine Einheit im Cyberspace, die sogenannte zehnte Flotte. Denn wir wissen nur zu gut, wie man über das Internet Dinge kaputt machen kann, und gehen davon aus, dass dies auch andere können. An welche Länder denken Sie konkret?

Russland, China und Norwegen, aber insgesamt dürften heute schon zwischen 20 und 30 Länder eigene Cyberwar-Kämpfer unterhalten. Und es werden immer mehr. Umgekehrt ist jedes entwickelte Land anfällig auf Cyberangriffe. Alle besitzen Strom-, Eisenbahn- und Banknetze, die man über das Internet angreifen und zerstören kann. Jedes entwickelte Land ist auch immer stärker genau auf solche Netze angewiesen. Ist das nicht eine Art ausweglose Situation?

Es gibt tatsächlich keinen Ausweg, und es gibt auch keinen Weg zurück. Sie finden in den USA kein Netzwerk mehr, das nicht von Computern gesteuert wäre, genauso wie Sie keine mechanischen Schreibmaschinen mehr finden. Kann man diese Netze überhaupt gegen Angriffe schützen?

Bis dato können wir es nicht, aber mit dem Wandel der Technologie können wir es in Zukunft, zumindest theoretisch. Aber derzeit sind die Mittel zur Verteidigung gegen einen Angriff aus dem Internet sehr limitiert. Ein entschlossener Angreifer kann in fast jedes System eindringen.

Nationale Strategie Cyberdefense

Ende 2010 hat der Bundesrat entschieden, die Schutzmassnahmen gegen Angriffe aus dem Cyberspace zu verstärken. Dazu ernannte er Divisionär Kurt Nydegger zum Projektleiter für Cyberdefence. Dieser leitet seither eine Expertengruppe, die bis Ende 2011 eine gesamtheitliche Strategie des Bundes gegen Cyberbedrohungen ausarbeiten soll. «Es ist wichtig, eine schweizweite Koordination sicherzustellen», sagte Nydegger in einem Interview.

Auch wenn das System vollkommen isoliert ist?

Auch dann, das hat der erfolgreiche Angriff auf die Atomfabrik im Iran gezeigt. Ihnen zufolge geht die grösste Gefahr von China und Russland aus. Weshalb?

Beide befinden sich in einem harten Wettbewerb mit den USA. Aber beide sind vor allem auf dem Gebiet der Internetspionage tätig. Die USA umgekehrt haben die besten Cyberwaffen, sie sind aber gleichzeitig am verwundbarsten. Das scheint paradox.

Ja, und die US-Militärs werden sich dieses Problems zunehmend bewusst. Sie wissen, dass sie technologisch an der Spitze sind. Aber gleichzeitig realisieren sie auch, dass man bei uns am meisten kaputt machen kann. Können Sie das Szenario eines Cyberangriffs schildern?

Nehmen Sie ein modernes Kampflugzeug, einen F-35 zum Beispiel. Eigentlich ist das gar kein Flugzeug mehr, sondern ein fliegendes Netzwerk. Eine chinesische oder russische MiG hätte gegen ihn in einem normalen Kampf keine Chance. Doch der F-35 hat in seiner Software eine tödliche Falle eingebaut, die der gegnerische Pilot aktivieren kann, bevor es zu einem Kampf kommt. Wie können die Chinesen in die Software des F-35 eindringen?

Wahrscheinlich mit Hilfe eines Chips, der in China hergestellt wurde.


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