Louis Vierne - Symphonie 5 - Erläuterungen

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Louis Vierne: Symphonie V a-Moll (op. 47)

Louis Vierne (1870–1937) führte die Gattung der Orgelsymphonie zu ihrem stilistischen Höhepunkt. Dabei steht er in der Tradition der französischen Orgelsymphonik in der Reihe mit seinen Lehrern und Wegbereitern César Franck und Charles-Marie Widor. Die 5. Symphonie, die umfangreichste seiner sechs Sinfonien, hat die wohl zyklischste Form von allen, denn durch alle Sätze zieht sich mehr oder weniger offensichtlich hörbar ein Hauptthema und ein weiteres Hauptmotiv hindurch. Der erste Satz stellt beide in einem Variationssatz vor. Zunächst steht das Hauptthema im

Pedal; es beginnt mit einem a-Moll-Dreiklang mit zugefügtem F (drei Terzen hintereinander). Aus den Manualeinwürfen auf den langen Tönen des Pedals formt sich nach und nach das zusätzliche Hauptmotiv, das aus jeweils zwei Halbtönen auf- bzw. abwärts besteht, die mit einem Sept- oder Nonensprung verbunden sind. Nach diesem Dialog zwischen Thema und Motiv übernehmen auch die Hände das Thema. Ein Mittelteil versetzt das Thema nach fis-Moll, was aber durch entsprechende Begleitung nach ADur klingt. Mit dem Hauptmotiv leitet ein Crescendo zum Höhepunkt des Satzes, von dem aus beide wieder zurück ins düstere a-Moll führen. Fast bizarre Klangfarben (16’+4’ und 8’+2’) variieren das Hauptmotiv, bevor das Hauptthema im Sopran den Satz zum Abschluss bringt. Auch das Thema des zweiten Satzes beginnt mit drei Terzen hintereinander wie das Hauptthema,

doch diesmal aufwärts; es wird begleitet durch wuchtige, fast trotzige Akkordschläge. Der Tenor übernimmt es vom Sopran und bringt es direkt zweimal hintereinander. Nach einem Halbschluss führt eine Überleitung (zweites Auftaktmotiv des Themas) zum vermeintlichen Seitenthema einer

Sonatenhauptsatzform, doch der scheinbar neuen Melodie liegt erst im Pedal, später in der Oberstimme wörtlich das Hauptmotiv der Symphonie zugrunde. Der lange Durchführungsteil verändert und spielt mit dem ersten Thema, unterbrochen von einer zweimaligen Reminiszenz an das Hauptthema der Symphonie in Synkopen (erst Sopran, dann Bass)

Mit einem Crescendo wird die Reprise erreicht, in der das erste Thema zunächst im Pedal, dann in den Oberstimmen erklingt, nach dem Überleitungsteil auch das zweite Thema mit dem Hauptmotiv im Bass (diesmal einen Halbton höher als am Anfang). Das erste Thema übernimmt in der Coda die Führung, wird in einem Unisonolauf aufgelöst und bringt in drei wuchtigen Akkorden den Schluss. Im dritten Satz verwendet Vierne das Hauptmotiv der Symphonie für das Thema dieses Scherzos,


denn auch dieses beginnt mit zwei Halbtönen aufwärts, einem Septsprung und zwei Halbtönen abwärts. Gerade die durch Pausen zerrissene Melodie mit den vielen staccato-Punkten, aber auch der gleichmäßige Achtelpuls und die omnipräsente Chromatik machen die Wirkung des Scherzohaften aus. Im zweiten Teil (B-Teil) tritt zum Thema des Scherzos in der rechten Hand und trillerartigen Figuren in der linken Hand das Hauptthema der Symphonie im Pedal, jetzt rhythmisch nivelliert.

Der zweimalige Wechsel von A- und B-Teil gibt dem Satz seine fünfteilige, symmetrische Form: A (d-Moll) – B (a-Moll) – A’ (f-Moll) – B’ (h-Moll) – A’’ (d-Moll) Eine kurze Pedalüberleitung führt von d-Moll in das Fis-Dur des vierten Satzes. Im ersten Teil wird das Thema dieses langsamen Satzes vorgestellt, erst auf dem Positiv (2. Manual), dann leiser auf

dem Recit (3. Manual) mit bewegterer Begleitung. Auch in dem Thema mit seinen Sekundschritten und Sprüngen könnte man das Hauptmotiv der Symphonie vermuten. Eine rezitativische Oberstimme führt in den Mittelteil (Piu mosso = mehr bewegt), in dem Vierne das variierte Hauptthema der Symphonie verwendet, auf das direkt das Hauptmotiv folgt.

Dieser Dialog wird fortgesponnen im Charakter einer Durchführung. Ein wiederum rezitativischer Teil leitet über in die Reprise; das Thema des Satzes liegt nun im Pedal, von wogenden 16teln umspielt. Die Bewegung verliert sich zum Ende des Satzes mehr und mehr. In der Schlusszeile kann man das Hauptthema der Symphonie in gleichen Notenwerten und in gespiegelter Form vermuten. Der fünfte Satz trägt die Bezeichnung „Final“, was bei den Franzosen nicht nur den Schlusssatz, sondern auch eine Art Toccata erwarten lässt. Unter 16tel-Girlanden erklingt mächtig das Hauptthema der Symphonie, nun in A-Dur statt a-Moll und im tänzerischen 6/8-Takt. Darauf wird

es in der Oberstimme wiederholt. Die Überleitung zum Seitenthema bringt das erste Thema nur ausschnittsweise und versteckt, reduziert aber bereits die Dynamik. Das Seitenthema des Satzes tritt im piano und meno mosso (weniger bewegt) in Fis-Dur auf und be-

ginnt mit dem gespiegelten Hauptmotiv der Symphonie (zwei Halbtöne abwärts, Septsprung, zwei Halbtöne aufwärts). Mit der Rückkehr des ersten Themas in c-Moll beginnt ein Durchführungsteil, in dem das Thema zwischen Pedal und Oberstimme hin und her wechselt. Wieder folgt ein leiserer und ruhigerer Teil mit dem Seitenthema, diesmal in D-Dur, bevor das Finalthema die Oberhand gewinnt und sich seinen Weg zum furiosen Ende des Satzes sucht. Dabei erklingt es nun wieder in A-Dur erst im Pedal, dann in der Oberstimme, wird immer mehr in Motive zerlegt und verdichtet, bis das Pedal in Oktaven das Thema ein letztes Mal zitiert und in stürmischen Läufen die Symphonie zum Abschluss mit wiederum drei wuchtigen Schlussakkorden bringt. Lukas Stollhof


Louis Vierne (* 8. Oktober 1870 in Poitiers, ! 2. Juni 1937 in Paris)

1870: Louis Vierne wird mit einer schweren Sehbehinderung geboren. 1877: ausreichend Sehkraft, so dass er sich orientieren und groß gedruckte Schrift lesen kann 1880: Klavierunterricht bei H. Specht in Paris; dort hört er César Franck als Organist in Sainte Clotilde („Dies war die Offenbarung. ... Ich war erschüttert und von einer Art Ekstase ergriffen. ... Ich litt in herrlichster Weise und wünschte, dieses Leiden möge für immer fortdauern.“ 1881: Unterricht im Pariser Blindeninstitut von H. Specht (Klavier) und H. Adam (Violine) 1887: Orgelunterricht bei Louis Lebel und Adolphe Marty 1889: Unterricht in Fuge bei César Franck. Studium am Pariser Konservatorium, an dem er bereits vorher als Zuhörer Francks Orgelklasse besucht hat (Erschütterung nach Francks Tod 1890) 1892: Widor ernennt ihn zum Stellvertreter an der Orgel der Pariser Kirche Saint-Sulpice 1894: Abschluss bei Charles-Marie Widor mit einem ersten Preis in Orgelspiel und Improvisation und Widors Assistent in der Orgelklasse am Pariser Konservatorium 1898: Erste Orgelsinfonie (op. 14), glücklich aufgrund seiner Verlobung 1899: Heirat mit der Sängerin Arlette Taskin; drei Kinder: Jacques, André und Colette 1900: Titularorganist der Kathedrale Notre-Dame de Paris (oft bei Bewerbungen übergangen) und Assistent von Alexandre Guilmant, der Widors Nachfolger am Pariser Konservatorium war 1903: Zweite Symphonie (op. 20), seinem Freund und Orgelbauer Charles Mutin gewidmet 1906: nach einem komplizierten Beinbruch muss er seine Pedaltechnik völlig neu erlernen 1907: erkrankt er lebensbedrohlich an Typhus, später an grünem Star 1909: Scheidung von A. Taskin, nachdem sie ihn mit seinem Freund Charles Mutin betrogen hat; Angst um das Orgelamt, das er jedoch ausnahmsweise als Geschiedener behalten durfte. Verpflichtung, nie mehr zu heiraten (Freundin Madeleine Richepin heiratet einen anderen) 1911: Dritte Symphonie (op. 28), Tod seiner Mutter und seines Mentors Alexandre Guilmant, der ihn als Nachfolger empfiehlt; doch Vierne wird Opfer von Spannungen zwischen Widor und Fauré, deshalb Wechsel als Professor zum kirchenmusikalischen Institut Schola Cantorum 1913: Tod seines zweiten Sohnes André (Tuberkulose) 1914: Vierte Symphonie (op. 32) 1916: Wegen drohender Erblindung in die Schweiz; dort schmerzhafte, teure und lange (4 Jahre!) Behandlung, Komplikation bei der OP (sechs Monate in abgedunkeltem Raum) 1917: Sohn Jacques wird beim Protest gegen den Horror des Ersten Weltkrieges erschossen; ebenso fällt sein Bruder René im Krieg 1920: Rückkehr nach Paris, zerbrechlich, entkräftet und völlig verarmt; trotzdem weiter Konzertreisen durch Europa und die USA, wo er als Komponist, Organist und Improvisator gefeiert wird und Geld für die Renovierung und den Umbau seiner Orgel in Notre-Dame sammelt, die er bei seiner Rückkehr in stark verfallenem Zustand vorfand 1924: Fünfte Symphonie (op. 47) 1926: Pièces de Fantaisie – Suite 1 (op. 51) und Suite 2 (op. 53) 1927: Pièces de Fantaisie – Suite 3 (op. 54) und Suite 4 (op. 55) 1930: Sechste Symphonie (op. 59) 1931: Triptyque (op. 58) 1934: Reduzierung der Konzerte und Ende des Komponierens (schwer herzkrank) 1937: 1750. Orgelkonzert in Notre-Dame zusammen mit Maurice Duruflé, der später berichtet: „Vierne hatte soeben mit großem Ausdruck sein letztes Werk, das „Triptyque“, gespielt. Ich stand neben ihm, um zu registrieren. Als er den letzten Satz des Triptyque („Stèle pour un enfant défunt“) begann, wurde er blaß, seine Finger hingen förmlich an den Tasten und als er seine Hände nach dem Schlußakkord abhob, brach er auf der Orgelbank zusammen: Ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen. An dieser Stelle des Programms sollte er über das gregorianische Thema „Salve Regina“ improvisieren. Aber anstelle dieser Hommage der Patronin Notre-Dames hörte man nur eine einzige lange Pedalnote: Sein Fuß fiel auf diesen Ton und erhob sich nicht mehr.“ Nach Viernes letztem Willen schwieg die Orgel von NotreDame am 5. Juni in seinem Trauergottesdienst und war schwarz verhüllt


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