51. Leipziger Lerche

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tabulose

blick

auf

die

the tampon book ich bin (k)ein tabu wäre goethe nur eine frau gewesen heimliches lesevergnßgen von heiligtum zu ekel leipziger drogen- & clubszene 51 / HERBST 2019

branche

Studierendenzeitschrift des Studienganges Buchhandel/Verlagswirtschaft der HTWK Leipzig

der


guess, who’s back? Die JVM Leipzig! – JVM, wer? JVM , die | [ˈjɔtˈfaʊ̯ˈɛm] | Substantiv Der größte Nachwuchsverein der Buchund Medienbranche mit über 800 Mitgliedern, organisiert in 14 Städtegruppen. Kurz für: Junge Verlagsmenschen

Die Städtegruppe Leipzig trifft sich seit Sommer 2019 wieder monatlich und freut sich immer über Zuwachs – schaut vorbei! Ihr wollt keinen Termin mehr verpassen? Dann meldet euch an unter: www.jungeverlagsmenschen.de/leipzig

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VORWORT

editorial

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leipziger lerche herbst 2019

Liebe Leser*innen, wir alle haben die Unkenrufe schon gehört. Man dürfe nichts mehr sagen heutzutage oder werde, dieses oder jenes, doch wohl bitteschön noch sagen dürfen. Womit eigentlich gemeint ist: man darf wohl nicht, und darin liege ja die ganze Schweinerei. Das Meinungsklima ist aufgeheizt. Während die einen von Tugendterror reden, fürchten die anderen um den letzten Rest des Anstands. Für die vorliegende Ausgabe haben wir uns deshalb das heikle Thema Tabus und Tabuisierung vorgenommen. Wir berichten für euch über so unterschiedliche Gesichtspunkte wie die Verschwiegenheit der Homosexuellen in der DDR (Seite 18), die Scham über Geld und Armut zu sprechen (Seite 14 und 24) oder den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit (Seite 22). Darüber hinaus haben wir Bücher rezensiert, die sich an der Grenze zum Tabubruch bewegen, oder sie kurzerhand überschreiten, und in unserer neuen Rubrik Leipziger Stimmen zum Thema gesammelt. Zu großem Dank verpflichtet sind wir unserer Illustratorin Lisa Wagner, unserem Covermodel Nastassja von der Weyden, sowie allen Interviewpartner*innen und sonstigen Stichwortgeber*innen. Sie alle verdienen die gesamte Liebe der Welt, eine riesige Plüschlerche und ein freies, tabuloses Leben. Wir hoffen, ihr seid so gespannt auf die nächsten Seiten, wie wir es ein halbes Jahr über selbst gewesen sind, und wünschen wie immer viel Spaß beim Lesen! Eure Leipziger Lerchen


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inhalt

INHALTSVERZEICHNIS EDITORIAL ........................................................ 3

OPEN CALL ........................................................ 5

LEIPZIGER STIMMEN INTERVIEWREIHE ZU TABUS .......................................... 6

BUCHMARKTFORSCHUNG POLEN ............................................................ 8 BRANCHE KINDERBUCH MAL ANDERS ........................................... WÄRE GOETHE NUR EINE FRAU GEWESEN ............................... THE TAMPON BOOK ................................................. ÜBER‘S GELD SPRECHEN ............................................ WAS MACHT EIGENTLICH...? ........................................

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SPEZIAL HOMOSEXUALITÄT .................................................. HEIMLICHES LESEVERGNÜGEN ........................................ NS-ZEIT IN DER LITERATUR ........................................ IMMER NOCH KEIN ZUHAUSE ......................................... VON HEILIGTUM ZU EKEL ........................................... ICH BIN (K)EIN TABU ............................................. ICH HAB DOCH KEINEN DACHSCHADEN! ................................

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LOKALES LEIPZIGER DROGEN- & CLUBSZENE ................................... 32 DIE NICHT-DROGE: VORURTEIL CBD .................................. 34 HTWK-NEWS ....................................................... 35 BUCHEMPFEHLUNG LOLITA .......................................................... DARLING DAY‘S ................................................... TABU ............................................................ EINMAL ..........................................................

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BRANCHENANEKDOTEN ............................................... 38 Besucht uns auf unserem Blog leipzigerlerche.com! Jeden Sonntag erscheinen hier Blogeinträge zu spannenden Themen rund ums Buch, lustige Anekdoten oder unser monatlich erscheinender Veranstaltungskalender mit heißen Tipps zu Veranstaltungen in Leipzig.

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open call

ERNESTOS VISION

von michel w. meier

Was hab ich denn schon getan?! Hab ich sie denn gezwungen, ihn anzuschauen? Ich hab Tabus gebrochen, ja… aber waren es nicht die TABUS der Kunst, die Regeln eines fantastischen Traumes? Niemand musste ihn sehen! Hab‘ ich denn keine Magie geschaffen? Für mich war es Magie. Für mich war es schön. So wabern die Gedankenströme durch seinen deprimierten Schädel. Die Asche von Ernestos selbstgedrehter Kippe bröselt auf den weißen Flokatiteppich. Eigentlich raucht er nicht in der Wohnung, aber jetzt ist auch alles egal. Er hört den wütenden Mob schon das Treppenhaus hochstolpern und fragt sich, ob die Wohnungstür abgeschlossen ist. Na ja, jetzt ist auch alles egal. Er geht ans Schlafzimmerfenster und versucht die Fallhöhe möglichst realitätsnah abzuschätzen. Reicht mindestens für ein künstliches Koma… Ernesto wollte niemals einen Skandal kreieren, um der Provokation willen provozieren, den nächsten großen Hype generieren. Er gibt einen Fick auf unkonventionelle Pseudo-Künstler und prätentiöse Nichtskönner, die mit sowas erfolgreich werden wollen. Sein bescheidenes Ziel: einen cineastischen Zauber, eine intellektuelle Kraft auf die Leinwand bringen, wie seine großen Vorbilder und angebeteten Helden. Seine bescheidene Vision: so gesellschaftskritisch wie Pasolini, so traumatisch wie Von Trier, so düster wie Lynch, so surreal wie Buñuel, so poetisch wie Tarkowski, so doppelbödig wie Kubrick, so meisterhaft wie all diese Genies zusammen werden. Mit Unterstützung der Filmförderung und eines kleinen, persönlich angesparten und hart erarbeiteten Vermögens (durch den Dreh visuell beeindruckender Musikvideos für mittelmäßige Hip-Hop-Artists) inszenierte er perfektionistisch seinen ersten italienischen Kunstfilm. Es war Ernestos ganz persönlicher Kommentar auf intersektionalen Feminismus, politische Korrektheit, rechtsradikale Gewalt, freudomarxistische Theorien, postmoderne Literatur, Schopenhauerische Mitleidsethik, soziale Netzwerke, nihilistisches Kultursterben, asiatische Fusionküche und natürlich das Marvel Cinematic Universe. Unter dem Titel ,,Von den Leiden der Bella S.‘‘ flimmerten also, um es mit den Worten de Sades auszudrücken, ,,pikante‘‘ Bilder über die Leinwand. Bilder von Sex- und Gewaltorgien mit Pferden, Menschen, Schlangen, Raubkatzen und unzähligen Gürteltieren, von Reihen blutjunger und schwangerer Mädchen, die automatische Sturmgewehre aus ihrer Vagina drückten, von Kindern, deren Gesichter urplötzlich Feuer fingen, waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Kritiken waren nicht gemischt; sie waren undefinierbar. Familienväter erbrachen in Fontänen auf die Sitzreihen im Lichtspielhaus, Teenager bekamen Weinkrämpfe und bissen sich die Fingerkuppen ab. Eine Mutter aus Neapel erstickte an einem pathologischen Lachanfall. Ein Kulturtheoretiker erkannte im Film Aufforderungen zum Mord an prominenten Fernsehköchen und tötete Gordon Ramsey mit einer präparierten Nagelpistole.

Über den Autor: Ausgestatte mit einer dicken Portion Empathie, ist Michel W. Meier in der Lage, sich in eine Lehrerin mit versauter Vergangenheit als Pornodarstellerin ebenso gut hineinzuversetzen, wie in einen bis über beide Ohren verliebten, homosexuellen Deutschrapper oder einen sensiblen, monogamen Mafioso. Dabei lässt er sich von Legenden der Psychoanalyse wie C. G. Jung und Klassikern der Literatur wie Charles Bukowski genauso inspirieren wie von Helden der Neuzeit, Hiob oder Morlockk Dilemma. Festzuhalten ist, dass Michels Geschichten nicht so richtig in eine Schublade zu stecken sind, sondern definitiv einen Platz auf dem Nachtschrank verdient haben. Paulin Golla

Es dauerte nicht mal zwei Wochen bis Ernestos Machwerk indiziert, großflächig digital gelöscht und öffentlich verbrannt wurde. Doch Zensur genügte der aufgebrachten Meute nicht, und so versammelten sie sich vor Herrn Ricardos Appartementhaus. Die Zähne gefletscht und die Messer gezückt, witterten sie schon das ängstliche Fleisch. Doch als der schlechtgelaunte Pöbel schlussendlich seine Wohnungstür aufbricht, fällt Ernesto schon aus zehn Metern Höhe auf ein erlösendes Betonpflaster…

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66 leipziger Leipziger stimmen Stimmen

TABU interviewreihe

Welche Tabus sollten gebrochen werden?

Ita (17) - Initiatorin Fridays For Future in Leipzig Wenn es um Tabus allgemein geht, dann fällt mir das Thema Antikapitalismus in Bezug auf Fridays for Future ein. Bis jetzt ist es noch sehr verpönt das Wort in den Mund zu nehmen, wenn es um die Maßnahmen gegen die Klimakrise geht. Unserer Bewegung war von Anfang an kapitalismuskritisch, da der Kapitalismus keine Möglichkeit lässt Klimaschutz wirklich durchzusetzen. In einem System, was nur darauf aufbaut immer mehr Profit zu generieren und dabei Mensch und Umwelt ausbeutet, wird die Klimakrise unmöglich aufzuhalten sein. Unsere Aufgabe ist es, dass Kapitalismuskritik kein Buh-Wort mehr ist, sondern als Teil der Lösung akzeptiert wird. Dafür ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt. In Zeiten, da Bewegungen wie Fridays for Future endlich Anklang in der breiten Bevölkerung finden und es nicht mehr als uncool gilt sich für Umweltschutz einzusetzen, wird es auch Zeit eine Systemänderung zu schaffen.

Janjan / Jaqueline (52) - Künstler*in, Musiker*in, div. Eine Form des Tabus stellt für mich unser Mangel an freiem Ausdruck darüber, wie sich die meisten von uns tief fühlen, dar. Das impliziert eine Loslösung von Bezeichnungen und Nomenklaturen, wie man lieben, diese Liebe ausdrücken oder auf natürliche Weise leben kann. Es ist die menschliche Natur, dass wir uns von vielen verschiedenen Dingen, Wesen sowie Arten der Kreativität angezogen fühlen. Doch ein größeres Tabu gilt es zu brechen, alles was verboten ist, billig oder „nicht richtig“ erscheint muss vergessen werden. Diese Art des Denkens müssen wir beenden, indem wir uns befreien und Intimitäten in verschiedenen Weisen miteinander erleben. Wir brauchen Vielfalt als eine Konstante in unserem Leben. Wir brauchen keine Akzeptanz und keine Labels. Wir müssen unsere intimsten Attraktionen frei leben - im Einvernehmen, friedlich, offen und menschlich. Vielleicht können wir so alle auf einer tieferen Ebene zueinander finden und gemeinsam miteinander erblühen. Vivien (24) - Kinderheimerzieherin Es wird meiner Meinung nach sehr wenig darüber aufgeklärt, dass Kinderheime der heutigen Zeit nicht mehr mit dem vergleichbar sind was vor 50 Jahren der Norm entsprach. Wir versuchen den Kindern sowie Jugendlichen in Kooperation mit dem Jugendamt und der Herkunftsfamilie eine möglichst realitätsnahe, liebevolle, und ressourcenorientierte Betreuung zu gewährleisten um die Entwicklung optimal und individuell zu fördern. Die Wohngruppen sind nicht mehr überfüllt sondern sind z.B. in unserer Einrichtung auf maximal acht Kinder pro Gruppe begrenzt, der Umgang mit den Kindern ist schon lange nicht mehr von übertriebener Autorität geprägt, sondern folgt dem Ziel familienersetzend zu wirken und den Kids vor allem Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Weiterhin wird zu wenig darüber gesprochen, dass es für das Personal einer Heimeinrichtung keine Lobby für Streiks gibt. Nicht nur die Bahn, nein auch Kindergärten und Schulen treten regelmäßig für ihre Wünsche und Rechte in den Streik. Wie soll das jedoch in einem Kinder- und Jugendheim zu verwirklichen sein? Ja genau, gar nicht - Schließlich gibt es für viele Bewohner/ innen keine andere Möglichkeit zeitweise anderweitig unterzukommen.

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leipziger stimmen

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Peter (4) - Kater eines Drogenhändlers Ein Tabu ist das Thema Drogenkonsum. Es gibt verschiedenen Arten darüber zu reden - es geht um legale Drogen, Partydrogen, harte Drogen, aber auch um Safer Use und Bewusstseinsschaffung. Momentan etabliert sich ein exzessiver Drogenkonsum in den Technoclubs der Stadt. Viele konsumieren um mit „dabei zu sein“ und verschwinden schon wenige Minuten nach der Ankunft auf´s Klo. Wer Techno feiern geht, der nimmt halt seine Drugs. Selbst die Clubbesitzer haben eigene Clubdealer. Früher hatten z.B. die DrugScouts einen festen Stand in der Tille, ermöglichten Drogenschnelltests in diversen Clubs und veröffentlichten Pillenwarnungen. Doch jetzt, wo das Thema immer populärer wird und ein akutes Problem darstellt, ist niemand vor Ort. Organisationen erhalten keine finanzielle Unterstützung der Stadt für Tertiärprävention. Ziel dabei wäre es die Leute mit sauberen Utensilien beim bewussten Konsum zu unterstützen. Es soll ermöglicht werden, dass User Drogen im Club risikofrei nehmen können, doch das Gegenteil ist angesagt: Krankhafter Spaß - Sucht als Trendthema. Sophie (25) - Gesundheits- und Krankenpflegerin einer Intensivstation Ein Tabuthema der heutigen Zeit, vor allem im höheren Alter, weit verbreitet: Inwiefern und wie lange bei akut auftretender Krankheit mit künstlicher Beatmung und anderen Organersatzverfahren therapiert werden soll, bevor akzeptiert wird, dass die natürliche Lebensspanne eben begrenzt ist. Inwieweit ist eine Maximaltherapie bei schwer kranken und hochbetagten Patient*innen ethisch vertretbar? Selbstgewählte Therapielimitierungen in Form von Patient*innenverfügungen werden häufig in Frage gestellt oder finden in Akutsituationen keine Anwendung. Dabei stellt sich die Frage, welches Ziel dabei verfolgt und wem damit geholfen wird: wenn aufgrund einer durchgeführten Maximaltherapie im Anschluss kein selbstbestimmtes Leben der betroffenen Personen mehr erreicht werden kann. Es sollte rechtzeitig und offen mit der Familie und Angehörigen besprochen werden, welche Maßnahmen seitens des Patienten gewünscht sind, und diese sollten exakt formuliert in die Patientenverfügung implementiert werden.

William (22) - Mitglied im Stadtrat & Student Das Wichtigste an Tabus ist, sie zu kennen. Nur so kann man für sich selbst entscheiden, ob sie sinnvoll sind oder ob man sie brechen will. Tabus sind aber auch kompliziert: einige müssen dringend gebrochen werden, weil über Dinge nicht zu sprechen zu Schmerzen führen kann. Durch Tabus können Menschen denken, dass sie mit ihrem Problem alleine sind, weil keiner drüber spricht. Hier gilt es die Tabus zu brechen. Andersherum verhindern viele Tabus auch, dass Menschen verletzt werden. Also: Tabus sollten man kennen.

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buchmarktforschung

POLEN

EIN BUCHMARKT AUF DEM ABSTEIGENDEN AST?

hauptstadt warschau fläche 317 548 km2 einwohner*innen ca. 38,5 Mio. umsatz buchmarkt ca. 528 Mio. € Jährliche Novitäten Ø 26 450

Rund 7,5 Prozent der europäischen Bevölkerung lebt in Polen, doch im gesamteuropäischen Buchmarkt macht der polnische gerade einmal drei Prozent aus. Das sind ca. vier Prozent weniger als Experten annehmen würden. Doch warum steht der polnische Buchmarkt eigentlich so schlecht da? Erschreckende 58 Prozent der polnischen Bürger*innen sind Nichtleser*innen, lesen also so gut wie keine Bücher, egal ob Print oder Digital. In Deutschland liegt dieser Anteil bei gerade einmal 17 Prozent. Laut einer Studie vom Polish Book Institute aus dem Jahre 2014, kauften nur zwei Prozent der polnischen Bevölkerung mehr als sieben Bücher in einem Jahr. Doch dieser gefährliche Trend ist nicht die einzige Bedrohung für den Buchmarkt. Auch die allgemein sinkenden Löhne und die damit einhergehend sinkende Zahlungsbereitschaft der Polinnen und Polen setzt das Buch unter enormen Druck. Zudem wird das klassische gedruckte Buch langsam von E-Books und Hörbüchern verdrängt. Die jahrelang anhaltenden Umsatzeinbrüche werden auch in naher Zukunft nicht abbrechen. Es ist zu erwarten, dass sich die Stimmung in der Buchbranche weiterhin verschärft und noch schlimmere Konkurrenzkämpfe zwischen den Verlagen entstehen. Prinzipiell hat der polnische Buchmarkt großes Potenzial zum Wachstum. Ende 2017 gab es zum Beispiel ungefähr 42 000 angemeldete Verlage, von denen allerdings gerade einmal 2 000 bis 2 500 aktiv waren - also im Jahre 2017 überhaupt eine handvoll Bücher publiziert haben. Würden diese alle erneut anfangen zu publizieren, könnte die Buchbranche wieder lebendiger und vielschichtiger werden. Der seit 2011 anhaltende Abwärtstrend schlägt sich auch in den Zahlen der verkauften Bücher nieder. Diese sind zwischen 2013 und 2017 von 123 Millionen auf 99.4 Millionen Exemplare geschrumpft. Auch die Höhe der Auflagen sinkt seit Jahren stetig. Durch die niedrigere Fixkostendegression, die sich eben erst bei recht großen Druckaufträgen einstellt, müssen die Verlage zudem die Preise der Bücher anheben,

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um ihre Kosten zu decken. Der durchschnittliche Buchpreis lag 2017 bei 10.12 Euro. Auf den ersten Blick klingt das nicht nach viel. Wenn man aber die sinkenden Löhne und die geringere Kaufbereitschaft der polnischen Bevölkerung betrachtet, kann man nachvollziehen, wieso Bücher mit der Zeit zu richtigen Luxusgütern geworden sind! Mittlerweile wird der polnische Buchmarkt aber von einigen Institutionen und auch Regierungsgeldern gefördert, damit er weiterhin bestehen bleiben kann. Der Marktanteil von E-Books ist, entgegen den anderen Entwicklungen im Markt, teilweise sogar rasant angestiegen. Leider verhindern eine wahnsinnig hohe Mehrwertsteuer von 23 Prozent auf Onlineprodukte und die zunehmende Produktpiraterie, dass das E-BookGeschäft eine ernstzunehmende Alternative für die Verlage werden kann. Der polnische Buchmarkt unterliegt weiterhin einer starken Konzentration. Allein 75 Prozent des gesamten Umsatzes werden von gerade einmal 30 Verlagen erwirtschaftet. Auch im Verkauf dominieren die größten Buchhandelsketten, wie Matras oder Empik mit hunderten Verkaufsstellen und einem riesigen Angebot. Die Zahl der Buchhandlungen sinkt derweil immer weiter. Das liegt nicht nur am fehlenden Interesse für Bücher seitens der Pol*innen, sondern auch an zahlreichen anderen Faktoren. Die Mietpreise für Ladenflächen befinden sich in einem stetigen Anstieg. Der Wettbewerbsdruck wird größer, da sich die kleinen unabhängigen Buchhandlungen in einem erbitterten Konkurrenzkampf gegenüberstehen. Und auch Supermärkte sind mittlerweile zu einer ernsthaften Konkurrenz geworden, da sie ebenfalls (erfolgreich) Bücher im Sortiment führen. Wie sieht es mit der Preisbindung aus? In Polen gibt es keine Preisbindung für Bücher. 2014 wurde ein Gesetzesentwurf für eine solche formuliert, der nach deutschem und französischem Vorbild gestaltet war. Die Hoffnungen der Branchenmitglieder wurden allerdings zerstört, als sich der Vorschlag bei den Wahlen


buchmarktforschung

2015 zerschlug. Die Etablierung einer Buchpreisbindung hätte dem polnischen Buchmarkt mit Sicherheit sehr helfen können, sich zu stabilisieren. Durch das geringe Interesse der Bevölkerung an Büchern, versuchen Verlage und Buchhandlungen verzweifelt mit Marketingaktionen und Rabatten von bis zu 50 Prozent Leser*innen in die Buchhandlungen zu locken. Freie Preisgestaltung könnte zwar prinzipiell eine Chance sein, ist letztendlich jedoch eher eine Bedrohung: Die kleinen Buchhandlungen können mit den Preisschlachten der großen Filialisten meist nicht mithalten und werden zum Teil in den Ruin getrieben. Werden Bücher denn nur im stationären Buchhandel gekauft? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein. Auch in Polen ist der Onlinehandel ein großes Thema. Der E-Commerce im Allgemeinen boomt und auch der Buchmarkt konnte gute Wachstumszahlen verzeichnen. Jedes vierte Buch wird mittlerweile online bestellt. Ein großer Vorteil der Online-Buchhandlungen besteht vor allem darin, dass es sehr einfach ist Bücher aus der Backlist der Verlage zu kaufen. Dies ist im physischen Buchhandel zum Großteil nicht ohne Probleme und lange Wartezeiten möglich.

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Viele polnische Medienanstalten gehören zu einer größeren Unternehmensgruppe, die ihren Sitz unter anderem in Deutschland und den USA hat. Die polnische Regierung betrachtet diese Medienanstalten als eine Bedrohung und setzt sie ungeheurem Druck aus. Sie werden beschuldigt, Lügen zu verbreiten und die polnische Regierung verfolgt ganz offen ihren Plan, die Medienunternehmen zu ‚repolonisieren’, wozu sogar schon ein spezielles Gesetz verabschiedet wurde. Auch private regierungskritische Medienunternehmen werden unter extremen Druck gesetzt. Ihnen werden Werbeanzeigen entzogen und auch mit Justizschikanen und Strafermittlungen das Leben schwer gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass es weiterhin Autor*innen geben wird, die ihre Meinung frei äußern können und nicht ein Leben unter enormer Bedrohung führen müssen. Milena Lohse

Die Onlinehändler sind zu einem großen Teil mitverantwortlich für die großen Preissenkungen im Buchhandel. Die großen OnlineBuchhandlungen senken ihre Preise rasant und zwingen den stationären Handel dazu, ebenfalls ihre Preise zu senken. Sollte der klassische Buchhandel seine Preise nicht senken, würde das nur bedeuten, dass sie noch mehr Kund*innen verlieren würden und sich die wirtschaftliche Lage des stationären Buchhandels weiterhin verschlechtert. Die Pressefreiheit Seit die in 2015 an die Macht gekommene Regierung den öffentlichen Rundfunk unter ihre Kontrolle gebracht hat, steht die Pressefreiheit in Polen unter enormer Gefahr. www.maroverlag.de


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branche

KINDERBUCH MAL ANDERS INTERVIEW MIT MONIKA OSBERGHAUS

Was sind eigentlich Tabuthemen für Kinder? Empfinden sie bei gewissen Themen das Gleiche wie Erwachsene? Macht ihnen das, was uns Angst macht, auch Angst? Finden sie Fäkalhumor auch merkwürdig oder doch eher witzig? Die meisten Bücher in der Kinderbuchbranche möchten gewisse Themen nicht ansprechen. Es soll den Kindern selbstverständlich nichts Falsches vermittelt werden. Doch der Klett Kinderbuch Verlag unter Leitung von Monika Osberghaus, sieht das anders. Mit authentischen und unkonventionellen Geschichten hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern auch andere Themen zu vermitteln. Auf Ihrer Webseite findet man den Slogan “Bücher zum Lachen, Bücher zum Reden, Bücher zum Loslesen”. Wie sind Sie darauf gekommen, unter diesem Leitsatz Bücher ins Programm aufzunehmen, die sich mit Tabus beschäftigen? Es war nicht unsere Absicht, Bücher machen zu wollen, die sich mit dem Thema Tabu beschäftigen. Das ist dann einfach so entstanden. Wir wollten Bücher machen, die sich mit der Realität beschäftigen und das sind dann nun mal automatisch Themen, die ein bisschen heikler sind als Geschichten von Feen oder Zauberern. Abgesehen davon sind es auch gar nicht so viele Themen im Bereich Tabus, die wir berühren. Wie würden Sie für sich den Begriff Tabu definieren? Tabu ist etwas, was nicht groß besprochen wird oder worüber die Leute lieber schweigen. Ein „Nicht-Thema” sozusagen. Allerdings gilt das nicht für uns. Wir überlegen nicht, ob es ein Tabuthema ist, sondern ob wir es spannend finden. Gibt es für Sie ein Tabuthema, über das Sie definitiv kein Buch verlegen würden? Ja, das gibt es in der Tat. Abgesehen von dem was allgemein klar ist, wie Gewaltverherrlichung, Pornografie und nationalsozialistische

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Geschichten, würde ich ebenfalls auf keinen Fall ein Buch über das Thema Abtreibung verlegen wollen. Zumindest nicht für Kinder unter sieben Jahren, die brauchen das in meinen Augen nicht zu wissen, dass es die Möglichkeit gegeben hätte, sie wieder wegzuschicken. Für Ältere ist das allerdings was anderes, das muss man hierbei klar unterscheiden. Hatten Sie schon einmal ein Buch, welches zu kontrovers oder „hart“ war und deshalb von Ihnen abgelehnt worden ist? Es passiert hier dauernd, dass wir Bücher nicht machen. Aber eigentlich nicht, weil sie zu hart oder kontrovers sind. Ein Buch gibt es bei uns, was wir als Mahnung und Symbol für schlimme Themen haben und ich mich dabei immer frage „Geht das, oder geht das nicht?“ Ein schwedisches Buch mit dem Titel „Kann man?“. Es ist sehr direkt und zeigt gewalttätige und übermütige Szenen. In dem Buch geht es um ein Mädchen, was eben genau solche Szenen erlebt und diese dann immer hinterfragt. Zum Beispiel „Kann man sich mit der Bohrmaschine im Ohr kratzen?“ Auf der nächsten Seite wird dann ein Bild gezeigt, wie sie genau das macht. Überall spritzt Blut und darunter steht „Nein, kann man nicht.“ In einer anderen Szene fragt sie „Kann man in ein Becken voll mit Piranhas springen?“ Da wird dann ein Bild gezeigt, wie die Piranhas ihre Knochen fein säuberlich abgenagt wieder aus dem Becken herausschmeißen und es steht wieder darunter „Nein, kann man nicht.“ Dieses Buch finde ich für Kinder zwar faszinierend, wir haben es auch schon ausprobiert, aber trauen uns trotzdem nicht. In diesem Sinne ist das Buch irgendwie doch zu hart. Aber ich würde es auch deswegen im Moment noch nicht machen, da ich es nicht schlüssig finde. Anscheinend wussten die Schwedinnen, die das Buch gemacht haben, ebenfalls nicht, wie sie das Ende verpacken sollen. Und somit ist das für mich keine runde Sache. Wenn man ein Buch nicht macht, obwohl man es ganz großartig für Kinder findet, dann liegt das an den Erwachsenen. Sie reagieren viel mehr auf schlimme Themen, Tabuthemen und


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sind viel vorsichtiger als Kinder. An den Erwachsenen vorbeizukommen, ist immer eine große Aufgabe für uns. Man denkt immer, dass Bücher einen riesigen Eindruck auf Kinder hinterlassen, was aber gar nicht so ist. Ein Kind liest ein Buch, findet das vielleicht doof und dann wird es das nie wieder aufschlagen. Das ist kein Problem, es wird keine bösen Träume davon bekommen. Ich weiß nicht, woher das Gefühl der Erwachsenen kommt, dass wenn etwas ihrer Vorstellung nicht entspricht und nicht die richtige pädagogische Botschaft besitzt, dass das ganz schlimm wäre. Ich denke schon, dass man solche Bücher machen kann. Es kann ja darüber geredet werden, wenn man dann anderer Meinung ist. Somit bekommen wir öfter Rückmeldung, dass etwas, was wir bringen, nicht richtig ist und deswegen somit gleich das ganze Buch. Das sehe ich halt anders. Bei Ihrem Buch „Klein“, das das Thema häusliche Gewalt behandelt, waren die Verkaufszahlen anfangs eher schlecht, weshalb Sie einen Social Media Aufruf starteten. Haben Sie damit gerechnet, dass „Klein“ dann doch solche Erfolge feiert?

Ihre Zielgruppe sind ja eher Kinder. Achten Sie bei der Covergestaltung und dem Inhalt aber auch auf die Erwachsenen? Sie sind ja letztendlich diejenigen, die das Buch kaufen sollen. Wir achten sehr auf die Erwachsenen. Allerdings darf man hierbei die Buchhändler*innen auch nicht vergessen. Die entscheiden ja erstmal, ob das Buch für den Handel überhaupt in Frage kommt. Wir haben zum Beispiel über 8 000 Neuerscheinungen im Jahr und eine Buchhandlung kann immer nur einen winzigen Bruchteil davon im Laden zeigen. Wir wollen natürlich, dass die Buchhandlungen unsere Titel aufnehmen, da sie auch meinen zu wissen, was die erwachsenen Käufer wollen. So sind da etliche Filter vorgebaut, bis ein Kind dann endlich das Buch sieht. Bei uns sind das wirklich öfter „Mogelpackungen“. Die Kinder sind nicht die Entscheider*innen, also müssen wir versuchen, es so zu gestalten, dass die vorgeschaltete Zielgruppe danach greift. Wir machen das Buch nach außen hin also netter und unverfänglicher, als es dann letztendlich ist. Außen wollen wir die Erwachsenen erreichen und Innen wollen wir, dass die Kinder Spaß haben. Das Interview führte Eileen Abe

© Verlag Klett Kinderbuch

Genau das war ja das Ziel unseres Aufrufs. Es gab zwar viel Anteilnahme für das Buch, das Problem aber war, dass der Buchhandel keine Möglichkeit hatte, so ein Buch direkt an den Kunden zu bringen. Wir wollten mit unserem Aufruf vor allem die Institutionen, also die Pädagogen*innen und Erzieher*innen, erreichen. Wenn diese Personen das Buch mitbekommen, dann würde uns das helfen. Allerdings haben wir nicht damit gerechnet, dass wirklich so viele Leute darauf anspringen. Nicht nur die Fachleute, sondern auch die Eltern, die selbst gar nicht das Problem haben oder zumindest nicht in dem Ausmaß, wie es bei „Klein“ beschrieben wird. Sie haben für die Verbreitung gesorgt. Sie haben anderen Leuten geraten, das Buch zu kaufen und es dann dem eigenen Kindergarten zu schenken, damit es dort vorhanden ist. Diese Idee haben dann ganz viele Leute aufgegriffen.

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WÄRE GOETHE NUR EINE FRAU GEWESEN

AUTORINNEN IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART

Wenn es um große Weltliteratur geht, denkt man sofort an Goethe, Schiller oder Shakespeare. Werke von Poesie bis Prosa, hochgelobt über Jahrhunderte. Frauennamen fallen da eher selten.

© pexels

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten Frauen in der Buchbranche kaum auf, erfolgreiche Autorinnen wie Jane Austen waren damals eine große Ausnahme. Von der zeitgenössischen Literaturkritik ignoriert, wurde Schriftstellerinnen von der Gesellschaft vehement abgesprochen, dass sie poetisch oder komplex denken könnten. Erst im mittleren 20. Jahrhundert schafften es Autorinnen in den literarischen Kanon. Wer nun denkt, Frauen hätten sich heutzutage in der Buchbranche vollends etabliert, übersieht viele Unstimmigkeiten. Auf den ersten Blick ist die Buchbranche weiblich. Es gibt eine Vielzahl an Buchhändlerinnen, Lektorinnen und Übersetzerinnen. Sie stellen sogar die Mehrheit dar. Wenn man jedoch seine Aufmerksamkeit auf die Führungspositionen richtet, sind diese fast ausschließlich von Männern besetzt. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Narses werden nur 5,7 Prozent der 106 größten Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz von Frauen geleitet. Auch die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern ist groß: Frauen verdienen etwa 28 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen in der selben Position. Auch wenn es um die Bücher selbst geht, scheinen Werke von Männern immer noch beliebter. Aber woran liegt das? Werden mehr Bücher von Männern verfasst? Oder können sie schlichtweg besser schreiben? Nein, das Problem liegt viel mehr bei der Medienpräsenz. Auch wenn der Anteil an Autorinnen und Autoren in fast allen Genres ausgeglichen ist, werden die Bücher von Männern viel häufiger besprochen und rezensiert. Und was eine hohe Sichtbarkeit genießt, wirkt wertvoll. So erscheinen Werke von Autorinnen seltener in renommierten Verlagen, erhalten seltener Preise und somit auch weniger Geld. Des Weiteren werden Bücher von Frauen seltener in andere Sprachen übersetzt, wodurch

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sie geringere Chancen auf dem internationalen Buchmarkt haben. Ein Beispiel: nur 29 Prozent der Romanübersetzungen aus dem Deutschen ins Englische stammen von Autorinnen. Herrscht also einfach ein Desinteresse an der femininen Sicht auf die Welt? Auch das kann nicht sein. Ohne vermittelnde Instanzen, nämlich die Verlage, die auswählen was veröffentlicht wird, sind Frauen durchaus erfolgreicher als Männer. So ist es etwa auf Selfpublishing Plattformen der Fall. Eine Studie der britischen Literaturplattform FicShelf zeigt, dass 67 Prozent der selbst publizierten Bücher, die sich über Onlineplattformen wie Blurb oder Wattpad am besten verkaufen, von Frauen geschrieben wurden. Die Benachteiligung der Frauen ist also ein fest verankertes gesellschaftliches Problem, das nicht nur die Buchbranche betrifft. Allerdings kommt hier dazu, dass in der Buchbranche alle bisherigen diskutierten Maßnahmen zur Verbesserung der Gendergerechtigkeit kaum angewendet werden. Kleine Buchhandlungen und Verlage haben außerdem einen so erheblichen wirtschaftlichen Druck, dass sie für zusätzliche genderfördernde Maßnahmen selten Ressourcen zur Verfügung haben. Es braucht demnach also noch etwas Geduld und Initiative, um dieses Defizit aus der Welt zu schaffen. Unternehmen müssen beginnen, neue Strukturen zu schaffen und Frauen müssen ihre Chancen vehementer ergreifen und dabei noch stärker auf ihre Fähigkeiten vertrauen. Denn ohne mutige Frauen wie J. K. Rowling, hätte die Welt nie die Möglichkeit gehabt, ein Buch aus der Harry Potter Reihe zu lesen, die immerhin als größter Bucherfolg der 2000er-Jahre gilt. Allegra Wendemuth


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THE TAMPON BOOK

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THE FEMALE COMPANY‘S CLEVERE IDEE GEGEN DIE TAMPON-STEUER

Als Frau ist es ein Luxus sich Tampons kaufen zu können. Aber wie kann das sein? Schließlich handelt es sich dabei um notwendige Hygieneartikel. Das dürfte eigentlich jeder verstehen, doch nur leider nicht die Politik mit ihren Regelungen zu vermeintlich fairer Besteuerung. In Deutschland gibt es den Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent und eine mögliche Ermäßigung von sieben Prozent auf Waren oder Dienstleistungen. Weitergegeben wird dieser Prozentsatz an die Verbraucher*innen. Daher wird teilweise auf Waren des täglichen Bedarfs die gesenkte Mehrwertsteuer erhoben. Dies sind zum Beispiel die meisten Lebensmittel und Getränke. Dazu zählen aber auch Kaviar, Champagner und Kunstgegenstände wie Skulpturen und Gemälde. So richtig Sinn macht das nicht. Frauen brauchen sehr regelmäßig Tampons und andere Hygieneartikel. Ist es dann nicht Diskriminierung im Hinblick darauf, dass diese mit 19 Prozent besteuert werden? Zeichen setzen Gegen eben diese ungerechte Besteuerung setzt sich das Stuttgarter Bio-Tampon-Unternehmen The Female Company von Ann-Sophie Claus und Sinja Stadelmaier ein. Es ist ein globales Problem, dass Hygieneprodukte für die Monatsblutung so hoch besteuert werden. In den Jahren ihrer Periode gibt eine Frau insgesamt bis zu 16 000 Euro für Artikel der Monatshygiene aus. Die Politiker*innen dazu zu bringen, diese Ungerechtigkeit zu erkennen, ist für The Female Company nicht leicht. Über ein Jahr lang begleiteten sie eine Petition gegen die Tampon-Steuer auf change.org. Trotz 180 000 gesammelten Unterschriften tat sich keine Veränderung in der Politik. Daher mussten sich die Gründerinnen der Petition, Nanna-Josephine Roloff und Yasemin Kotra, etwas überlegen, um die TamponSteuer zu umgehen und Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken. Gemeinsam wurde mit The Female Company ein Projekt gestartet.

Ein cleverer Trick Obwohl der gesenkte Steuersatz nicht auf Tampons möglich scheint, so gilt er doch immer noch auf Bücher. Die Verbindung beider Produktarten ist erlaubt. Somit gilt die Mehrwertsteuer von sieben Prozent auch für Hygieneartikel, sobald sie in einem Buch verpackt sind. Die Female Company kam daher auf die Idee, genau das zu tun. Seit April diesen Jahres verkauft sie online „The Tampon Book“, worin sich 15 Tampons befinden. Doch auch der Buchcharakter bleibt deutlich erhalten. Auf 46 Seiten wird humorvoll und ehrlich über das Thema Menstruation aufgeklärt. Mädchen und Frauen sollen ermutigt werden, frei und ohne Scham über die Periode reden zu können. Gemeinsam mit der Berliner Agentur Scholz & Friends wurde das Buch realisiert. Die ersten 1 500 Exemplare waren schon nach zwei Tagen ausverkauft. Die limitierte deutsche Auflage ist derzeit vergriffen und wird vorerst nicht nachproduziert. Es sind allerdings noch Restbestände der englischen Version erhältlich.

© The Female Company

Was bewegen Dass das Projekt auf großes Interesse und Unterstützung trifft, bestätigte sich erneut. Doch es sollte keine Aktion bleiben, die maximal die sozialen Netzwerke erreicht und an der Politik vorbeigeht. Aus diesem Grund schickte The Female Company 100 Tampon Books an die wichtigsten Politiker*innen auf Bundesebene. Doch das allein reichte nicht aus, um mit den Parteien in Kontakt zu treten. Gemeinsam mit einer „Tampon Tax Taskforce“ aus freiwillig helfenden Kundinnen riefen sie täglich im Bundestag an. Schließlich konnte man das Projekt dort nicht länger ignorieren und fast alle Parteien ließen sich auf Gespräche zur Steuersenkung ein. Es ist zu erwarten, dass der Diskurs dazu immer präsenter wird und dies auch hoffentlich bald die Politik überzeugt, die Tampon-Steuer zu senken. Danielle Schneider

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ÜBER‘S GELD SPRECHEN

„NUN SAG, WIE HAST DU‘S MIT DEM SCHNÖDEN MAMMON?“

Wir alle kommen fast täglich damit in Berührung: reichen es beim Bäcker über die Theke, gehen arbeiten, um es zu verdienen oder denken darüber nach - Geld. Trotz der Allgegenwärtigkeit ist das ehrliche Sprechen über Vermögen, Ausgaben, Gehälter mitunter tabuisiert. Besonders hierzulande wird nicht gerne nach Finanziellem gefragt. Nur knapp über die Hälfte der Deutschen wissen, was der eigene Partner oder die eigene Partnerin verdient. Auch in der Buch- und Medienbranche bleibt die direkte Ansprache des Themas heikel.

©Junge Verlagsmenschen e.V.

„Über Geld spricht man nicht, man hat es.“ Diese Redewendung kennt fast jeder. Und viele halten sich auch daran: Sie reden nicht über ihr Einkommen, das Geld auf der hohen Kante, den Preis des neuen Autos oder gar neuen Eigenheims. Dabei wird offenbar nirgendwo sonst auf der Welt so wenig über Geld gesprochen wie in Deutschland. Dem liegt jedoch wesentlich mehr zugrunde als nur typisch kartoffeldeutsche Spießigkeit. Schon der surrealistische Maler Salvador Dali, seinerseits teutonischer Biedermännigkeit völlig unverdächtig, wusste: „Das Intimste der Intimsphäre ist das Geld. Wenn man weiß, wie viel Geld ein Mensch hat, weiß man fast alles von ihm.“ Demgemäß ist die Neigung zur monetären Geheimniskrämerei zunächst nicht mehr als bloßer Schutz der Privatsphäre. Anders geht es in den Vereinigten Staaten zu. Hier plaudern die Bürger*innen ungeniert über monatliche Lohnzahlungen und Boni. Über finanziellen Erfolg spricht man jenseits des Atlantiks gern – man zeigt ihn zudem auch eher. „Wer seinen finanziellen Erfolg allerdings hierzulande ungeniert zeigt, zieht leicht den Neid und die Missgunst seiner Mitmenschen auf sich – das möchte man natürlich vermeiden“, erklärt Thomas Walter, Personalfachmann der Postbank. Die hat in einer repräsentativen Umfrage ermittelt, dass insbesondere wirklich arme und sehr reiche Menschen ungern über Geldangelegenheiten sprechen. Bei denjenigen im oberen finanziellen Mittelfeld ist die Redebereitschaft dagegen am größten; außerdem bei jungen Menschen eher gegeben als bei älteren. Deutet sich damit be-

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reits ein Kulturwandel an? Immerhin haben die aus amerikanischen Zeitung und Zeitschriften abgeschauten, „Money Diaries“ ihren Weg nach Deutschland gefunden: In diesen Artikeln erzählen unterschiedliche Menschen wie Studierende, Anwält*innen, Hausfrauen und -männer oder Ernährungsberater*innen, wie viel sie in einer Woche wofür ausgeben. Seit einer Weile auch in der ZEIT Campus unter dem Titel „Das anonyme Gehaltsprotokoll“. Dort stoßen diese Einblicke - die für manche intimsten und spannendsten Texte, die es im Internet gibt - auf eine immense Resonanz seitens der Leser*innen und wandern dementsprechend schnell als exklusive Inhalte hinter die Paywall, was einer gewissen Ironie nicht entbehrt. Cui bono? Wie erwähnt beginnen jedoch vor allem jungen Menschen die Verschwiegenheit aufzugeben. Viele von ihnen glauben nämlich ohnehin, sie hätten ihre Finanzen nicht wirklich im Griff oder wüssten zu wenig über Themen wie Geldanlagen oder Altersabsicherungen. Miteinander reden, voneinander lernen, soll Abhilfe schaffen, wobei die neue Beredsamkeit einigen Arbeitgebern missfällt. Aus gutem Grund: Denn wer gewohnheitsmäßig Skrupel hat, mit Freund*innen und Bekannten über Geld zu sprechen, hat meist auch im Berufskontext die gleichen Hemmungen. Zum Beispiel davor, mit dem Chef oder der Chefin über Gehaltserhöhungen zu sprechen. Eine für Arbeitnehmer*innen fatale Folgewirkung. Wie sieht es damit in der Buchbranche aus, deren Angehörige sich ja zuweilen gerne außerhalb der prosaischen Maschinerie der Finanzzwänge verorten? Kunst statt Kommerz; Kulturmenschen statt Händler! Und die außerdem sämtlich unter dem kuscheligen Dach des Börsenvereins zusammenfinden. Dieser Zusammenschluss leistet, soviel sei zunächst gesagt, unermesslich viel für seine Mitglieder und deren Belange. Im Kern ist er allerdings - rein strukturell betrachtet und ohne Wertung - schlussendlich eine Vertretung der


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Arbeitgeber. Die eigentlich zuständige Interessenvertretung für alle Angestellten in Buchhandel, Verlagen und Zwischenbuchhandel ist derweil, wie für so viele andere auch, die Gewerkschaft Ver.di. Nun liegt beispielweise in kleineren, inhabergeführten Buchhandlungen ohnehin häufig der Fall vor, dass die Interessen von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen sich gleichen. Beide Seiten sind zuallererst am nicht eben selbstverständlichen Erhalt des Geschäfts interessiert. Die Vorgesetzten bevorteilen sich gegenüber ihren Mitarbeiter*innen oft wenig bis gar nicht. In der Folge müssen vereinzelt sogar etablierte Läden schließen, da sich im Rentenfall keine Nachfolger*innen finden. Weil die dafür auserwählten, langjährigen Kolleg*innen beim ersten Blick auf die Buchhaltung feststellen, dass nur mehr Verantwortung, nicht aber größere Einkünfte winken. Eine gute Portion Idealismus sowie die Bereitschaft, auf materiellen Wohlstand zugunsten der Selbstverwirklichung zu verzichten, gehören an dieser Stelle also dazu. Die schönste Branche der Welt Leider wird selbiges auch im Verlagswesen allzu oft in ungebührlichem Maße vorausgesetzt. Für ein sechsmonatiges Volontariat in der Presseund Öffentlichkeitsarbeit bot beispielsweise der Verlag Kiepenheuer & Witsch einem Germanisten, nach erstem Studienabschluss, 500 Euro Brutto. Einen umgerechneten Nettolohn von rund drei Euro pro Stunde. Tarifverträge sind in diesem Ausbildungsweg offenkundig nicht existent. Eine Auswertung des Börsenvereins, aus dem Jahr 2007, gibt jedoch ein Durchschnittsgehalt von 1100 Euro pro Monat an. Nachdem der Student das Angebot kurzerhand anonym öffentlich machte, entstand ein mittelgroßer Aufschrei, die Resonanz im Netz war enorm - und erzeugte Druck. Der Fortgang der Geschichte: KiWi reagierte schnell, verdoppelte das Gehalt und ging auf der Unternehmensinternetseite offen mit den Vorwürfen um.

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ge Verlagsmenschen geschafft, die Einführung eines Gütesiegels für Volontariate durchzusetzen. Das Kriterium, nach dem die Auszeichnungvergeben wird, besteht in der „Erfüllung verbindlicher Ausbildungsstandards“, wozu neben fester Betreuung und einer Überstundenregelung auch ein Mindestgehalt gehört. Der erste Preisträger im Jahre 2018 hieß übrigens Kiepenheuer & Witsch. Veränderungen, Verbesserungen gar, sind also durchaus möglich. Denn auch in der (allmählich nachlassenden) „Krise des Buches“ gehört der erwähnte Verlag, genau wie S. Fischer und Rowohlt, noch immer zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, mit einem Umsatz von immer noch mehr als zwei Milliarden Euro im Jahr. Gelöst werden können solche augenscheinlichen Verteilungsprobleme aber nur dann, wenn sich alle Beteiligten zu größerer Transparenz durchringen und letztendlich zum Tabubruch: nämlich mal über das Geld zu reden. Als gutes Beispiel dienen, kann vielleicht eine sonst wenig nachahmenswerte Figur der Buchbranche selbst. Thilo Sarrazin sprach den klügsten Satz seines, an klugen Sätzen recht armen, öffentlichen Lebens vor einigen Monaten im Gerichtssaal - wo er seinen ehemaligen Verlag auf Schadensersatz verklagte. Ob es in der Sache nicht eher um Wertschätzung als um Finanzielles gehe, fragte der Richter. „Geld“, so daraufhin der skandalträchtige Sachbuchautor, „ist Wertschätzung, euer Ehren.“

Christian Bartl

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Das alles liegt bereits einige wenige Jahre zurück. Seitdem hat es der Nachwuchsverein Jun-

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absolventinneninterview

WAS MACHT EIGENTLICH...?? ALINA MÜLLER

VERTRIEB UND MARKETING IM KARL-MAY-VERLAG geboren am 31.03.1992 in Unna (NRW) 2011-2014 Ausbildung zur Kauffrau im Groß- und Außenhandel von 2014 bis 2017 Bachelor Buchhandel/Verlagswirtschaft an der HTWK seit August 2017 Vertrieb und Marketing im Karl-MayVerlag in Bamberg

© Alina Müller

Liebe Alina, wieso hast du dich damals für den Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft an der HTWK entschieden? Meine Ausbildung habe ich im Bereich Sanitär und Heizung gemacht. Der kaufmännische Teil hat mir viel Spaß gemacht, die Warenkunde lag mir allerdings nicht. Daher habe ich im 3. Lehrjahr überlegt, was mir stattdessen gefallen könnte - und kam auf Bücher! 2013 war ich auf der Frankfurter Buchmesse, wo ich mich am Stand „Studium rund ums Buch“ informieren konnte. Buchhandel/Verlagswirtschaft erschien mir als die perfekte Verbindung zwischen Büchern und Wirtschaft. Wie empfandest du den Einstieg ins Berufsleben nach dem Abschluss? Und wie bist du zu deinem jetzigen Arbeitsplatz gekommen? Dank meiner Ausbildung, dem Praktikum im 5. Semester und eine sehr gute Einarbeitung durch meine Vorgängerin fiel mir der Einstieg ziemlich leicht. Mein Chef und meine Kollegen haben mich herzlich im Team aufgenommen und standen mir bei Fragen immer zur Verfügung! Auf die Stelle aufmerksam wurde ich tatsächlich durch eine Anzeige auf publishingmarkt.de. Könntest du uns kurz deine Aufgaben beschreiben? Wie sieht ein typischer Arbeitstag im Verlag für dich aus? Also meine Aufgaben sind so unterschiedlich, dass es gar keinen typischen Arbeitstag gibt. Zunächst bin ich die Ansprechpartnerin für Buchhandlungen, unsere Auslieferungen und die Vertreter. Ich lege unsere Novitäten in unserem System an und melde sie an alle Partner. Dann organisiere ich unsere Stände auf den Buchmessen. Außerdem pflege ich unsere Homepage und unsere Facebook-Seiten.

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Was ist für dich persönlich das Spannende daran in einem so spezialisierten Verlag zu arbeiten? Karl May ist mit einer Gesamtauflage von 100 Millionen Büchern der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache. Doch der Erfolg des Verlags in den 1960er-Jahren ist jetzt unsere eigene Konkurrenz, da es die Bücher zu kleinen Preisen auf ebay & Co. gibt. Außerdem ist die Urfassung der Werke heute frei und daher gerade als E-Book für ein paar Cent oder umsonst erhältlich. Wir glauben aber, dass es auch weiterhin einen Markt für unsere Bücher gibt, und dafür zu sorgen, dass sie auch weiterhin ihren Weg in die Buchhandlungen und zu den Lesern finden, macht mir großen Spaß. LBM oder Frankfurter Buchmesse? Und warum? Ganz klar Leipziger Buchmesse! Dadurch, dass ich in Leipzig studiert habe, fühlt es sich jedes Mal an wie „nach Hause kommen“. Ich habe immer das Gefühl, dass die ganze Stadt die Buchmesse „lebt“. Dagegen kommt Frankfurt nicht an. Und zum Abschluss: Welche guten Ratschläge hast du für die aktuellen Studenten Buchhandel/Verlagswirtschaft parat? Nutzt die Zeit im Studium! Gerade in den Schwerpunkten könnt ihr ausprobieren: was funktioniert und was vielleicht auch nicht? Geht auch zu Vorlesungen in Modulen, wo ihr keine Klausur schreibt. Ihr lernt schließlich auch fürs Leben. Nutzt das Praktikum, um die Praxis kennen zu lernen und erste Kontakte zu knüpfen. Habt aber auch Spaß. So viel Freizeit habt ihr nie wieder! Das Interview führte Christian Bartl



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spezial

HOMOSEXUALITÄT DARÜBER SPRICHT MAN NICHT!

„Unsichtbar sein“ beschreibt den Begriff der Homosexualität in Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wohl am besten. Es wurde einfach nicht zum Thema gemacht. R. (55), Altenpfleger und H. (75), Rentner und ehemaliger Tänzer haben ihr Schweigen gebrochen, ihre Erfahrungen geteilt und einen ganz privaten Einblick in ihr Leben als homosexuelle Männer seit den Zeiten des geteilten Deutschlands bis heute gegeben. Bereits im Kaiserreich 1871 wurde §175, der sogenannte „Schwulenparagraf“, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, im damaligen Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen. Trotz der Tatsache, dass damit gegen Artikel 1 des heutigen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ verstoßen wurde, manifestierte man unter der Paragrafennummer 175: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Ein Unrechtsparagraf, der Homosexualität mit Sodomie auf eine Ebene stellt, war geschaffen. Der Paragraf 175 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragrafen weiter, unter dem Schwule fortan als Staatsfeinde galten, die die Reinhaltung des Volkes gefährden. Unterdrückung, Folter, Kastrationen und der Abtransport Homosexueller in Konzentrations- und Arbeitslager standen an der Tagesordnung. Nach dem 2. Weltkrieg kehrte die DDR zur milderen Version von §175 zurück, anders als die Bundesrepublik Deutschland (BRD), die den Paragrafen 1:1 übernahm. Homosexuelle wurden weiter als Verbrecher stigmatisiert und bestraft. Es war eine menschenverachtende Verfolgung unter vermeintlich demokratischen Verhältnissen. Die Polizei machte in den Fünfzigern und Sechzigern regelrecht Jagd auf Homosexuelle und führte regelmäßig Razzien an öffentlichen Orten durch, die als Treffpunkte für Schwule bekannt waren. In der damals noch

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jungen BRD landeten Zehntausende Homosexuelle im Gefängnis. In der DDR dagegen wurde der Paragraf Ende der 50er Jahre faktisch außer Kraft gesetzt. Mit dem 1968 komplett neu aufgesetzten Strafgesetzbuch der DDR trat §151 in Kraft, welcher gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter 18 Jahren für Männer und erstmals auch für Frauen unter Strafe stellte. Bis dahin wurde der weiblichen Sexualität kaum Beachtung geschenkt und Beziehungen zwischen Frauen wurden in den meisten Fällen nicht ernst genommen. Ein Jahr später wurde auch in der BRD der Strafparagraf reformiert und gelockert. Lesbische Frauen wurden erneut außenvorgelassen. Mit dem „5. Strafrechtsänderungsgesetz“ der DDR wurde der Paragraf 1989 ersatzlos gestrichen. Nach der Wiedervereinigung galt §175 weitere vier Jahre nur noch auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik und wurde 1994 nach 123 Jahren endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Hart und ausgrenzend Obwohl die DDR bei der Behandlung von Homosexuellen rechtlich weitaus liberaler war als die BRD, blieben die Vorurteile der NS-Zeit in den Köpfen vieler Menschen bestehen. Homosexualität wurde mit Rotlicht und Prostitution in Verbindung gebracht und das Auffliegen der eigenen „unmoralischen Sexualität“ bedeutete für viele Männer den sozialen Tod. Mit 23 Jahren, war sich H. zum ersten Mal bewusst, dass er schwul ist. Erzählt hatte er das anfangs niemandem und gründete eine Familie in einer heterosexuellen Beziehung. H.: „Ich war ja verheiratet, hatte zwei Kinder. Ich war ein guter Ehemann und Vater, aber sexuell gesehen nicht der liebende Partner. Wir waren beide unerfahren und hatten keine Ahnung von richtiger Liebe und Sexualität.“ Erst als er begann beim Weimarer Theater zu tanzen, kam er mit dem Begriff der Homosexualität in Kontakt. H.: „Mir sagte dann einer: ‚Na Mensch H., du bist doch schwul‘ und ich wusste damit gar nichts anzufangen.“ Auch R., der in christlich konservativen Verhältnissen aufwuchs, stellte als Teenager fest, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Er offen-


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barte sich einer Vertrauensperson. R.: „Der Jugendwart hat mir mit 14 Jahren Fastenzeiten mit Gebet verordnet. […] Er hat mir sehr drastisch die Schande für meine Familie und Gemeinde klargemacht. Ich fühlte mich nach 6 Monaten geheilt.“ Für ihn war das Thema Homosexualität fortan ein Tabu. R.: „Ich bin der Thematik soweit es ging aus dem Weg gegangen und habe sogar religiöse Organisationen unterstützt, die damals schon Konversationstherapien anboten.“ H. dagegen verkehrte als Tänzer die meiste Zeit in Kreisen, in denen Homosexualität akzeptiert wurde. Zeit seines Lebens hatte er keine Auseinandersetzungen mit dem System, die auf seiner sexuellen Orientierung basierten. „Es gab keine Probleme. Auch bei den großen Feiern, wie dem Fasching in Dresden, da kamen die Schwulen von überall her und da kam keine Polizei und keine Stasi. Die wussten, wir machen keine Probleme und wir haben keine Ambitionen, irgendjemanden zu stürzen.“ Solange niemand auffällig wurde, indem er sich politisch organisierte, gruppierte oder gar versuchte staatsfeindliche Aktivitäten zu planen, solange wurde er/sie auch nicht beobachtet oder festgenommen. War es anfangs noch verboten, Kontaktanzeigen für die gleichgeschlechtliche Partnersuche in Zeitungen zu schalten, oder nur mit Klauseln, wie „Verzauberter sucht…“ gestattet, gab es in den folgenden Jahren zunehmend mehr Möglichkeiten für Homosexuelle sich kennenzulernen und zu treffen. An der Ostsee gab es sogar FKK-Strände, an denen sich vorwiegend Homosexuelle trafen. H.: „Die großen Städte hatten auch alle meistens mehrere Gaststätten, wo sich die Homosexuellen getroffen haben. […] Selbst in etwas kleineren Orten war es normal.“ Das Gedankengut der meisten Menschen blieb aber nach wie vor homophob und Homosexuelle wurden auch nach der Abschaffung des §175 als Perverse und 175er bezeichnet. Viele trieb die Unsichtbarkeit in Einsamkeit und Isolation. Vor allem im öffentlichen Dienst, bei der Polizei, in der Politik und im Journalismus wurden Schwule nicht akzeptiert und nach einem Outing unter teilweise fadenscheinigen Gründen entlassen. Bei seinem Sozialpädagogikstudium

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in den 60ern merkte H. schnell, dass er sich bedeckt halten muss. „Drei andere Studenten sind geext worden, weil man den Verdacht hatte, dass sie schwul wären und da dachte ich mir: ,Jetzt musst du kurztreten, nichts Falsches machen, nichts sagen.‘ […] Ich hab immer meine Ehe vorgeschoben.“

© pixabay

Die Scheidung von H. und seiner Frau verlief ohne große Streitigkeiten. Thematisiert wurde seine sexuelle Neigung dabei nie. H.: „Es gab so viele Dinge, über die man nicht gesprochen hat, und über sowas eben auch nicht.“ In der provinziellen Kleinstadt, in der er aufwuchs, machte es trotzdem die Runde und viele, darunter auch ehemalige Freunde, mieden den Kontakt zu ihm. Seit zwei Jahren hat er wieder einen festen Partner, zu heiraten kommt für ihn aber nicht in Frage. Für R. war der Weg dorthin um einiges beschwerlicher. Auch er gründete nach seiner vermeintlichen „Heilung“ eine Familie. Mit 37 Jahren erlitt er einen Herzinfarkt, der nicht auf organische Ursachen zurückzuführen war. R.: „Mein Herz hatte keine Kraft mehr, gegen mich zu kämpfen […] ich wollte es ehrlich, für meine Frau und meine drei Kinder.“ Als er sich 2003 outete verlor er praktisch über Nacht seinen gesamten Freundeskreis. Die Kirchgemeinde und seine Arbeitsstelle verurteilten ihn aufs schärfste. Monatelang erhielt er anonyme Anrufe und Briefe. R.: „Der damalige Gebetskreis […] schrieb

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HOMOSEXUALITÄT

mir, es wäre besser, ich wäre in Ehren […] gestorben am Herzinfarkt, als jetzt in Schimpf und Schande zu leben. Das waren Familien, mit denen wir jahrelang befreundet waren.“ Heute lebt er gemeinsam mit seinem Partner, den er vor 14 Jahren auf einer Tanzveranstaltung für Homosexuelle kennenlernte, in einer Kleinstadt in Thüringen. Zu seinen Kindern hat er heute wieder ein gutes Verhältnis. Doch gerade in seiner Arbeit als Altenpfleger ist er auch heute noch entwürdigenden Kommentaren und Anfeindungen ausgesetzt.

Konversationstherapien sind immer noch eine weit verbreitete Methode zur „Behandlung“ Homosexueller und die Intoleranz und die Tabuisierung des Themas ist noch in vielen Köpfen verankert. Mit Blick auf Offenheit und Toleranz hat sich unsere Gesellschaft beim Umgang mit Homosexualität, aber auch der gesamten LGBTQIA+-Szene zum Positiven verändert. Das ist allerdings kein Gut, auf dem wir uns ausruhen können. Vielmehr braucht es immer wieder Mut darüber zu reden.

Verbesserung heißt nicht Stillstand

Stefanie Kaiser

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung und der endgültigen Abschaffung des §175 ist Homosexualität noch immer ein heikles Thema. Der Rechtspopulismus nimmt zu und führt zum Anstieg der Gewalt, die durch Hass gegen Minderheiten motiviert ist. R.: „Das Gesamtklima ist offener, toleranter, im Moment […] aber […] die politische Lage kehrt wieder ins Konservative. […] es sind zig Kleinigkeiten, wo wir merken, die AfD hat Einfluss. Homosexuelle sollten in Thüringen wieder in Listen erfasst werden - das war Antrag der AfD - nur der Volksgesundheit wegen.“

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HEIMLICHES LESEVERGNÜGEN

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EIN KURZER ÜBERBLICK ZU GESCHICHTE UND GEGENWART VERBOTENER BÜCHER

Seitdem es Bücher gibt, werden immer wieder einzelne Werke oder Autor*innen mit Verboten belegt. Die katholische Kirche gehört sicher zu den bekanntesten Institutionen unter den Zensoren. Über 400 Jahre lang führte sie einen hochoffiziellen Index verbotener Schriften. Darüber hinaus erstellen totalitäre Staaten mit großer Hingabe schwarze Listen und in den demokratischen USA fällt vor allem sexuell Anrüchiges der Zensur zum Opfer. Im modernen Deutschland und Westeuropa dagegen werden Bücher im Prinzip nur noch dann verboten, wenn sie gegen Grundrechte verstoßen. Für die auf dem Index Romanum stehenden Bücher, galt für streng gläubige Katholiken ein striktes Leseverbot. Bei Zuwiderhandlung drohte der unumkehrbare Ausschluss aus der Kirchengemeinschaft. Dieser Höchststrafe zu entgehen war freilich alles andere als leicht, enthielt die schwarze Liste, neben den offensichtlich ketzerischen Autoren Martin Luther und Galilei, doch auch die halbe Weltliteratur von B wie Balzac bis T wie Tolstoi. Endgültig abgeschafft wurde das Verzeichnis erst Mitte der sechziger Jahre. Dazugelernt hat die katholische Kirche seitdem wenigstens teilweise: Über Dan Browns „Sakrileg“ oder auch die „Harry Potter“-Serie haben Kardinäle und andere Wortführer*innen zwar ihrem Ärger Luft gemacht, von offiziellen Verbotslisten wird jedoch abgesehen. Verfolgte Autoren Trüber sieht die Lage mitunter in der islamischen Welt aus. Der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie wurde, im Anschluss an die Veröffentlichung seines Romans „Der satanische Vers“ im Jahre 1988, durch Ruhollah Chomeini - den religiösen Führer und politischen Staatschef des Iran - mit der Fatwa belegt. Vorwurf: Blasphemie. Verurteilung: ohne Prozess. Zwar haben sämtliche anderen muslimischen Staaten dem Todesurteil die Anerkennung verweigert, der Iran hält jedoch an seinem Schuldspruch fest. Natürlich ist nicht nur der Autor persona non grata - auch das Lesen oder der Import seiner Bücher stehen unter Strafe.

Springt man in die Vergangenheit, so stellen die Bücherverbrennungen von 1933 das diesbezüglich unrühmlichste Kapitel der deutschen Geschichte dar. Verboten (und bisweilen entflammt) wurden im Dritten Reich alle Schriften, die sich nicht mit der staatlich verordneten Ideologie vertrugen - in der Praxis eine schier unerschöpfliche Menge. Unerlaubt waren Werke von Landesverrätern und Emigranten, sowie die Literatur des Marxismus, Bolschewismus und Kommunismus. Außerdem dezidiert demokratische, bürgerliche oder pazifistische Schriften, und natürlich diejenigen jüdischer Autoren. Zensiert wurde dann im Tagesgeschehen trotz dieser und vieler weiterer säuberlich festgehaltener Kriterien eher wahllos und oft ohne klare Linie. Widerstreit der Grundrechte Im heutigen Deutschland hat unterdessen der Verlag Kiepenheuer & Witsch den Kampf darum, Maxim Billers Roman „Esra“ verbreiten zu dürfen, verloren. Der autobiographische Text von 2003 portraitiert die Ex-Freundin des Autors und deren Mutter auf klar erkennbare Weise, gibt intime Einzelheiten preis, und verstößt damit gegen die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Tatsächlich war der Gerichtsprozess ein Spektakel für sich: eine einstweilige Verfügung stoppte die Auslieferung der längst gedruckten Bücher nach 4 000 bereits im Handel befindlichen Exemplaren, bevor das Verbot in erster Instanz bestätigt wurde. Biller wurde zu 100 000 Euro Schadensersatz verurteilt und 100 Schriftsteller*innen sprangen ihm in einem öffentlichen Aufruf bei. Die Schadensersatz-Entscheidung wurde zurückgenommen und der Verlag klagte sich erfolglos bis vor das Bundesverfassungsgericht. Eine Neuauflage des Romans bleibt bis heute verboten. Gekauft und gelesen werden kann er jedoch antiquarisch, zu hohen Preisen, sowie im Dänischen und Hebräischen. Christian Bartl

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NS-ZEIT IN DER LITERATUR DER SCHMALE GRAT ZWISCHEN ANSTAND UND ABSTAND

Sechs Millionen ermordete Jüd*innen. Verfolgung und Ermordung von Sint*ezze und Rom*nja, Homosexuellen, politisch Unerwünschten, körperlich und geistig Behinderten und Katholiken. Gewaltsame Zersetzung von Widerstandsgruppen. Opfer. NSDAPFunktionäre, SA- und SS-Soldaten, Hitler, Himmler und Goebbels. Täter. Doch was ist mit den Menschen, die weggeschaut haben, als ihre Nachbar*innen verschwunden sind?

jungen Jahren wird man mit Nachkriegsliteratur konfrontiert, ohne diese tatsächlich bewerten zu können und ohne auch nur annähernd fähig zu sein, sich den Schrecken des Krieges vorzustellen. Der Nationalsozialismus ist ein Thema, über das immer wieder und dennoch nicht annähernd genug, oder auf sehr oberflächliche Art und Weise, geredet wird. Im Geschichtsunterricht wagt man sich nur selten auch emotional an das Thema heran. Wer von uns hat schon mal seine Großeltern zu dieser Zeit befragt?

Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Holocaust ist niemals einfach und wird zusätzlich erschwert durch eine schuldgeplagte Interpretation von Anstand.

Denn während das Thema NS-Zeit im persönlichen Gespräch sehr schwierig und geradezu tabu ist, wird es in der Literatur immer wieder behandelt. Es gibt unzählige Gedichte aus und über diese Zeit. Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist fast überall Pflichtlektüre, jedes Jahr werden neue wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und etliche historische Romane spielen zu dieser Zeit. Die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema - mit Opfern und Tätern gelingt dabei mal mehr, mal weniger gut. Doch immerhin beschäftigen sich die Autoren*innen mit dem Nationalsozialismus und führen ihre Leser*innen an die Debatte heran.

Denn im persönlichen Gespräch ist dieses dunkle Kapitel der Geschichte noch immer ein tabuisiertes Thema. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ist verkrampft und wird beherrscht von der Angst, etwas Falsches zu sagen oder nicht genug Betroffenheit oder Schuld zu zeigen. Daher begegnen einem überall dieselben Formulierungen, mit denen man auf jeden Fall auf der sichereren Seite ist - egal ob es Phrasen in Geschichtsbüchern sind oder Gästebucheinträge in jüdischen Gedenkstätten. Doch drücken diese diplomatischen Wendungen wirklich den Schrecken des Nationalsozialismus aus? Sorgen sie nicht eher für eine unnötig komplizierte Sprache? Der Journalist Werner Olles beschreibt treffend, dass man in Deutschland dazu neigt, „jede Art moderater Nachdenklichkeit in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust durch die Brille einer politischen Korrektheit zu sehen.“ Doch erst, wenn man sich nicht mehr fragen muss „Was darf man, was darf man nicht?“ - ist tatsächlich etwas erreicht. Doch an diesem Punkt sind wir heute noch lange nicht. „Hör mir auf mit Hitler“ Bei vielen stellt sich, sobald sie das Stichwort Nationalsozialismus hören, direkt Geschichtsverdrossenheit ein. Jede*r Schüler*in behandelt die Zeit zwischen 1933 und 1945 gefühlte einhundert Mal in unterschiedlichen Fächern. Bereits in

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Auch in der Literatur, die als Kunstform bekanntlich fast alles darf, gibt es noch Diskussionen über Tabus und Anstand. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verwendung von Humor. Einzelne Ausreißer wie der Film „Zug des Lebens“ oder Timur Vermes‘ Satireroman „Er ist wieder da“ haben das erfolgreich umgesetzt. Doch auch diese ernteten teils scharfe Kritik. Dabei ist Satire seit jeher ein Mittel der Menschen, um mit unterdrückenden Systemen abzurechnen. Egal ob Spottgedichte, Karikaturen oder Flüsterwitze, selbst wenn die Verbreitung derselben unter Strafe stand. Ein treffendes Beispiel aus der Zeit des Nationalsozialismus lautet daher: „Was gibt’s für neue Witze?“ - „Zwei Monate Dachau.“ Dennoch hört man zum Thema Nationalsozialismus immer wieder, dass man Anstand zeigen soll und dieses oder jenes nicht sagen oder tun darf.


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Was die Literatur (nicht) darf So wurde auch bei Takis Würgers Roman „Stella“ die Ausübung der künstlerischen Freiheit teils scharf kritisiert, teils hinterfragt - auf jeden Fall jedoch heftig diskutiert. Der historische Roman handelt von dem fiktiven Protagonisten Friedrich und der historischen Figur Stella Goldschlag, die - um sich und ihre Familie zu beschützen andere Jüdinnen und Juden denunzierte. Takis Würger erhielt für die Kombination einer Liebesgeschichte mit dem Thema Nationalsozialismus viel Kritik. Es sei reine Effekthascherei, er verharmlose diese Zeit und sein Protagonist sei naiv gegenüber den Schrecken des Nationalsozialismus. Dabei zeigt Friedrich die Züge vieler Menschen dieser Zeit. Der Roman unterscheidet nicht zwischen schwarz und weiß, zwischen Gut und Böse, sondert bildet die unbefriedigende Realität ab. Gute Menschen, die wegschauen und sich damit schuldig machen und Jüd*innen, die andere Jüd*innen verraten. Der Autor äußert sich dabei an keiner Stelle menschenfeindlich, antisemitisch oder verklärt und verharmlost den Nationalsozialismus und seine Folgen. Dennoch wird öffentlich lang und breit eine Debatte darüber geführt, was man im Umgang mit dem Nationalsozialismus darf und was nicht. Die übertriebene Rücksichtnahme und das Pochen auf Pietät führen zu einem verkrampften Umgang mit dem Nationalsozialismus und dadurch zu einer oft unzureichenden Debatte, wenn nicht sogar zu Schweigen. In diesem Moment wird Anstand zu Abstand. Entgegen vieler Kommentare, dass man keinen Liebesroman mit der Nazi-Zeit mischen sollte, vertrete ich die Meinung, dass die Literatur das können dürfen muss, ohne dafür ins Kreuzfeuer zu geraten. Takis Würgers Roman bringt das Thema auch Leuten näher, die sich keine Sachliteratur zur SS oder zur Jüd*innenverfolgung- und vernichtung zu Gemüte führen wollen. Gerade in einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen sterben, sind neue Erzählansätze gefragt. Die Inspiration durch eine reale Person und die künstlerisch freie Verarbeitung ihres Schicksals mithilfe eines fiktiven Protagonisten, ist die

kreative und mutige Lösung eines jungen Autors, der sich an dieses Thema „heranwagt“. Und genau dieser Gedanke des „Heranwagens“ erschwert die Thematisierung. Lasst uns also über Hitler reden und mutig alles ansprechen, was zu lange ungesagt geblieben ist. Pauline Braune

Hanser Verlag 22,00€ 242 Seiten, Hardcover ISBN: 978-3-446-25993-5 Cover: © Hanser Verlag

Hier das Buch, das die Debatte in Feuilleton und Buchbranchenkreisen ausgelöst hat. Und uns bewogen die Frage zu stellen: Wie Reden oder Schweigen über Nationalsozialismus und andere schwierige Abschnitte der Vergangenheit?

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IMMER NOCH KEIN ZUHAUSE

ÜBER DIE FOLGEN EINES BETTELVERBOTES FÜR KINDER

Sinti und Roma – eine Wortgruppe, die für bei vielen zwar Assoziationen auslöst, über die aber letztlich vor allem Unwissen herrscht. Fragt man konkret nach, was Menschen über Rom*nja wissen, reagieren viele mit schwammigem Wissen über Diskriminierung, es werden Stereotypen bedient oder die Antwort ist schlicht „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ In Dresden setzt sich eine Projektgruppe der Heinrich-Böll-Stiftung dafür ein, mit den Vorurteilen aufzuräumen. Im Zentrum des Projekts RomaRespekt stehen Lokalrecherchen und Empowerment. 2016 wurde der Sammelband „Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege“ herausgebracht, der die Geschichte und Gegenwart der Rom*nja in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien aufarbeitet. Zusätzlich leisten die Mitarbeiter*innen aufklärerische Arbeit, um Antiromaismus an Schulen und Universitäten vorzubeugen. In Leipzig-Grünau wurde außerdem in Zusammenarbeit mit dem Verein Romano Sumnal e.V. ein Büro gegründet, das als Anlaufund Treffpunkt für Rom*nja, die Unterstützung, Beratung und Hilfe benötigen, dient. Kathrin Krahn, die Projektleiterin von RomaRespekt, spricht in unserem Gespräch davon, wie viele Menschen über Sint*ezze und Rom*nja reden und dabei immer wieder in rassistische Stereotype abwandern. Es werden Narrative wie „Bettelmafia“ und „Clans“ bedient. Oft fällt auch der Begriff „Zigeuner“, eine Bezeichnung, die von den meisten Angehörigen der Minderheit abgelehnt wird, unter anderem, weil sie als Kategorie für die Verfolgung und den Genozid im Nationalsozialismus verwendet wurde. Zentral ist, dass all diese verbalen Formen von Antiromaismus Rom*nja als passive Individuen darstellen, ohne Engagement und ohne Bildung, anstatt von struktureller Benachteiligung und Diskriminierung zu sprechen. Doch wer sind Rom*nja? Roma (Rom (m)/ Romni (w) / Rom*nja (plural)) ist der Oberbegriff für eine Reihe von Bevölkerungsgruppen, denen eine Sprache, das Romanes, und mutmaßlich auch eine historisch-geo-

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graphische Herkunft gemeinsam sind. Sie bilden insgesamt keine geschlossene Gemeinschaft, sondern teilen sich in zahlreiche unterschiedliche Gruppen mit vielfältigen, von der Sprache, Kultur und Geschichte der jeweiligen Gesellschaft geprägten Besonderheiten. Roma wird von der aus Ost- und Südosteuropa stammenden Gruppe als Eigenbezeichnung verwendet. Sowohl aus Gründen ethnischer Zuschreibungen als auch aufgrund ihrer sozialen Situation sehen sich Rom*nja häufig mit Diskriminierung konfrontiert. In ihren Herkunftsländern sind sie vielfach Opfer von Zwangsräumungen und Vertreibung. Das rassistische Klima befördert teilweise sogar pogromartige Gewalt. Dies ist neben der ökonomischen Situation ein weiterer Anlass für Rom*nja, in Deutschland nach einem Zuhause zu suchen. Viele kommen auf der Suche nach einem Ort, der ihnen Sicherheit bietet. Sie wollen in der Regel nicht mehr, als ein Dach über dem Kopf, einen Job, um sich und ihre Kinder zu ernähren und die Möglichkeit, sie zur Schule zu schicken. Doch auch in Deutschland werden Rom*nja weiterhin benachteiligt. Sie haben häufig keine andere Wahl als in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zu arbeiten. Wird ihnen dann ihr Lohn nicht ausgezahlt, können sie infolge dessen nicht mehr ihre Miete zahlen und sind mit Obdachlosigkeit konfrontiert. Andere pendeln regelmäßig aus der Slowakei, Tschechien oder aus Serbien nach Deutschland, um hier zu betteln. Häufig versorgen sie von dem Geld ihre Familie in der Heimat. Unter den Bettelnden sind auch Eltern oder Elternteile, die ihre Kinder zum Betteln mitnehmen. Ein Bettelverbot für Kinder Deshalb fing man 2017 in Dresden an, ein Bettelverbot für Kinder zu diskutieren. Die Befürworter*innen dieses Verbots wähnten sich auf der richtigen Seite - schließlich will ja niemand, dass Kinder betteln müssen. In der BettelLobby schlossen sich mehrere Initiativen zusammen, darunter die Gruppe gegen Antiromaismus, der Flüchtlingsrat Sachsen, die gruppe polar, Romano Sumnal – Roma-Verein-Sach-


ICH MÖCHTE NICHT FÜR IMMER AUF DER STRASSE BLEIBEN. ICH SUCHE NACH SICHERHEIT, DAMIT ICH NICHT IMMER BETTELN MUSS. EIN ZUHAUSE. ICH HABE NUN DREI ORTE, DIE ALLE NICHT SICHER SIND: IN DER SLOWAKEI, IN TSCHECHIEN UND IN DEUTSCHLAND. ICH MÖCHTE, DASS ES EINEN SICHEREN ORT GIBT.

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Brigitta, 21 Jahre (aus „Zuhause bedeutet für mich eigentlich, ein Zuhause zu haben, ganz einfach.“, Hrsg. RomaRespekt und Weiterdenken – H.-Böll-Stiftung Sachsen)

sen, die Freien ArbeiterInnen Union Dresden und auch RomaRespekt, die sich gegen dieses Verbot und vor allem auch gegen einen rassistischen Diskurs über Rom*nja einsetzten. Auch die Vertreter*innen der BettelLobby wollen keineswegs Kinder auf der Straße betteln sehen. Allerdings löst ein Verbot die Probleme nicht, es macht sie nur unsichtbar. Die bettelnden Familien können ihre Kinder in der Regel nicht in die Schule schicken und bekommen keinen Kita-Platz, denn in Dresden ist das ohne eine Meldeadresse nicht möglich. Eine Alternative, mit der die Kinder zu ihrem Recht auf Bildung kämen, wäre ein Berliner Konzept. In der Hauptstadt ist die sogenannte Hotspotanmeldung möglich. Wohnungs- und Obdachlose können sich beim Sozialamt eine Meldeadresse holen und so ihren Kindern den Schulbesuch ermöglichen. Doch das wurde in Dresden bisher nicht realisiert. Die Eltern sind also darauf angewiesen, ihre Kinder mit auf die Straße zu nehmen. Alternativ müssten diese in der Zeit unbeaufsichtigt in Autos, schlechten Wohnungen oder Baracken bleiben. Letztlich stimmte eine Mehrheit für das Bettelverbot für Kinder. Und das, obwohl anstatt der Massen an Rom*nja, die man aufgrund der Medienberichterstattung hätte vermuten können, zum Zeitpunkt der Abstimmung tatsächlich nur ungefähr 40 Rom*nja in Dresden bettelten - in einer Stadt mit einer halben Millionen Einwohner*innen. Für Kathrin Krahn stellt es dennoch eine Erfolgsgeschichte dar, mit Plakatkampagnen und einer Petition Einfluss auf den rassistischen Diskurs in den Medien genommen zu haben. Was aber wären Alternativen zu dem Verbot gewesen?

nigsten der hier lebenden Rom*nja einen deutschen Pass, die meisten sind im Asyl und somit mit einer permanenten Abschiebeandrohung konfrontiert, da sie aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, zum Beispiel Mazedonien, Serbien und dem Kosovo kommen. Würde man als Land seine Schuld anerkennen, eine Minderheit durch einen Genozid nahezu ausgerottet zu haben, dann würde man sicherstellen, dass die Verfolgten dieser Minderheit die Möglichkeit haben, sich irgendwann sicher zu fühlen, so Kathrin Krahn. Dazu kommt, dass die Gentrifizierungsprozesse, die sich in den letzten Jahren vollzogen haben und es noch tun, Stadtviertel aufwerten und bisherige Bewohner*innen und soziale Randgruppen in die Peripherie verdrängen. Der öffentliche städtische Lebensraum ist eine knappe Ressource geworden. Dadurch und aufgrund von Vorurteilen ist es für Rom*nja umso schwerer, eine Wohnung zu finden. Notwendig wären also eine Gleichberechtigung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, eine Gleichberechtigung bei den Zugängen zu Bildung und eine Gleichberechtigung im Gesundheitssystem. „Doch es wird nicht anerkannt, dass Roma strukturell so dermaßen benachteiligt sind, dass es keine Förderung, noch nicht einmal eine Gleichheit gibt“, schließt Kathrin Krahn. Paula Heinze

Die Alternativen Laut eigener Aussage war es ein Ziel der BettelLobby, den Fokus von der innenpolitischen Debatte über das Betteln auf die Beschäftigung mit gesamtgesellschaftlichen sozialen Fragen zu verschieben. Ein Verbot würde noch lange nicht bewirken, dass es Kindern oder Eltern dadurch besser gehen würde. Stattdessen würden sie in die Illegalität gezwungen oder müssten in andere Städte abwandern. In Sachsen haben die we-

© Heinrich Böll Stiftung Sachsen

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VON HEILIGTUM ZU EKEL

FRAUEN - DIE VERKÖRPERUNG VON TABUS

„Wovor man sich fürchtet, wenn man seine Tage hat, ist […] nicht in erster Linie, dass man zusätzliche unbezahlte Hausarbeit verrichten und z.B. Textilien reinigen muss, sondern man fürchtet sich davor, dass jemand entdeckt, dass man seine Tage hat.“ Wie habt ihr reagiert, als ihr das erste Mal eure Menstruation bekommen habt? Oder wie habt ihr euch mit dem Thema Aufklärung auseinandergesetzt? Redet ihr mit euren Freunden über das Thema Masturbation? Werden Themen in Bezug auf die Frau nach wie vor in der Gesellschaft tabuisiert? Die Drogenübergabe Wir sind es gewohnt, dass wir unsere Tampons sicher verpacken, damit auch keiner mitbekommt, dass wir unsere Tage haben. Fragen wir unsere Freundinnen, ob sie einen Tampon dabeihaben, gleicht dieser Vorgang dem einer Drogenübergabe. Es ist in der Gesellschaft ein Tabu, offen über die Menstruation zu sprechen, Grund dafür ist die eingefleischte Meinung der Medien. Tampon- sowie Bindenhersteller werben mit Slogans wie „Damit die Regel sauber und diskret abläuft“ oder „Sie spürt nichts. Er merkt nichts.“ Man fragt sich, warum die Menstruation in der Werbeindustrie als etwas Unreines betrachtet wird und wieso Frauen diesen Vorgang zwingend vor dem männlichen Geschlecht verstecken müssen. Zu Beginn der Menschheit sah man die Periode als etwas Heiliges, sie wurde mit Ehrfurcht betrachtet. Man ging davon aus, dass die Menstruation göttliche, übernatürliche und auch gefährliche Kräfte mit sich brachte, wodurch sie als ein Tabu angesehen wurde. Durch den Einzug patriarchaler Religionen wurde die Ehrfurcht vor der Menstruation durch Ekel abgelöst. Man hatte die Vorstellung, Menstruationsblut sei giftig und die Grundlage für Pech, Tot und Verpestung. Führt man sich abschließend das Thema der monatlichen Blutung nochmal vor Augen, sollte man sich nicht dafür schämen müssen, was der Körper hier mit einem anstellt. Man sollte das Tabu besiegen, in dem man es als das ansieht,

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was es nun mal ist – ein natürlicher Vorgang des weiblichen Körpers. Gehen wir weiter in der Materie und befassen uns mit der Tabuisierung des weiblichen Geschlechtsorgans. Zunächst ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit. Die NASA sendete 1972 eine Aluminium-Plakette ins Weltall, um mit potentiellen Außerirdischen Kontakt aufzunehmen. Es wurden ein nackter Mann und eine nackte Frau gezeigt. Während der Mann in seiner besten Verfassung dargestellt wurde, fehlten der Frau sowohl äußere als auch innere Schamlippen. Es galt als zu anstößig, das originale Bild des Geschlechtes ins All zu schicken. Man schämte sich vor den potenziellen Außerirdischen das Geschlecht der Frau zu zeigen. V wie Vulva Welchen Begriff für das weibliche Geschlecht benutzt ihr denn heute im Alltag? Mumu, Muschi, Vagina, Pussy? Kaum jemand gebraucht den eigentlich richtigen Namen: Vulva. Wusstet ihr, dass das weibliche Geschlecht eigentlich als Vulva und nicht als Vagina bezeichnet wird? Nein? Verwunderlich ist das nicht. Sogar in manchen Biologiebüchern wird das weibliche Geschlecht falsch beschriftet oder dargestellt. Es kommt auch vor, dass das weibliche Geschlecht in Kinderbüchern einfach als Loch bezeichnet wird. Dank dieser Tabuisierung und der schlicht und ergreifend falschen Darstellung, geraten Jugendliche mit Selbstzweifeln in Kontakt, weil ihre Vulva nicht der Norm entspricht. Fasst man also zusammen, ist das weibliche Geschlecht immer noch ein Tabuthema. Man sollte sich nicht schämen, wenn es da unten nicht ganz so aussieht wie auf den Bildern im Internet. Man sollte sich auch nicht in seiner Kommunikation darüber einschränken lassen, welche Worte man nun für die Vulva wählt. An die Frauen (und auch die Männer, auch wenn es um sie gerade nicht geht): Lasst euch nicht vorschreiben, wie etwas an eurem Körper zu sein hat.


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Redet ihr frei über Sex und Masturbation? Gemäß diverser Definitionen, wird der Geschlechtsverkehr für beendet erklärt, sobald der Mann zum Orgasmus kommt. Aber ist nicht genau das eine Unterdrückung der weiblichen Bedürfnisse? Was Man(n) nicht zu entscheiden hat In der heutigen Gesellschaft wird es als normal erachtet, wenn Männer über Selbstbefriedigung sprechen. Ihnen wird dafür im übertragenen Sinne applaudiert und es wird mit einem High Five abgetan. Habt ihr als Frau schon einmal eine ähnliche Reaktion erfahren, wenn ihr über euer Sexualleben gesprochen habt? Immer wieder kommt es zu Konflikten, wenn Frau dieses Thema anführt. Das Problem finden wir beispielsweise in der Musikindustrie. Künstlerinnen, welche frei über ihre Vorlieben berichten, erfahren zwar viel Aufmerksamkeit, ernten aber umso mehr Kritik als Männer. Es ist heutzutage immer noch nicht selbstverständlich, auch auf dieser Ebene gleichwertig behandelt zu werden. Man darf Sex und Selbstbefriedigung der Frau nicht als Tabuthema hinnehmen, da es für Frauen und Männer den gleichen Wert hat. „Die Frau möchte vielleicht gar nicht bei jedem Geschlechtsakt zum Orgasmus kommen“, „Manchmal reicht es ihr einfach, den Mann in sich zu spüren, Intimität und Zärtlichkeit zu erfahren.“ Mit Aussagen wie diesen belügen Männer sich selbst.

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Führt man sich alle Gesichtspunkte nochmal vor Augen, muss man feststellen, wie rückständig wir in einer so fortschrittlichen Zeit sind. Der Körper der Frau wird in vielerlei Hinsicht immer noch als Tabu aufgefasst und eine Besserung ist aktuell nicht in Sicht. Eine Frage an alle Leser*innen zum Abschluss: Sollte der Körper der Frau nicht eigentlich als das angesehen werden, was es nun mal ist? Natürliche Reaktionen, Bedürfnisse und Äußerlichkeiten, vorbestimmt durch Mutter Natur? Sina Trautmann

avant-verlag 19,99€ 140 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-945-03456-9 Cover: © avant-verlag

Schauen wir uns abschließend eine aktuelle politische Situation an: Abtreibungen stehen heute, 2019, in vielen Ländern immer noch unter Strafe. Sie dürfen beispielsweise nur dann durchgeführt werden, wenn sich der Fötus in einem frühen Wachstumsstadium befindet. Das Paradoxe ist, dass Ärzte und Ärztinnen zwar legal Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, aber nicht dafür werben dürfen. So werden einer Frau, die aus verschiedenen Gründen den Weg der Abtreibung wählt, bei der Ärzte*innensuche zusätzlich Steine in den Weg gelegt. Dass ein Mann ohne weitere Probleme eine Vasektomie vornehmen, und sich so vor einer ungewollten Elternschaft schützen kann, sei dahingestellt.

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ICH BIN (K)EIN TABU

VOM VERSCHWINDEN UND DER NEUERSCHAFFUNG EINES VERHALTENSKODEXES

„Die Generation von heute“ - so nennt man die jungen Menschen, die auf der Suche nach mehr Freiheit den Ausbruch aus einer tabuisierten Gesellschaft suchen. Rebellion für eine Welt ohne Verbote und mit Grenzenlosigkeit. Man will sich nicht mehr davor scheuen, befreit über psychische Unbehaglichkeiten wie Depressionen, Angst- oder Essstörungen zu reden. Medien und Menschen diversifizieren diskussionswürdige Themen. Je weniger Schweigen, desto größer die Freiheit. Aber wird eine vermeintlich tabulose Welt wirklich die Erfüllung einer ungebändigten Vollmacht über das eigene Leben?

Danach verschwimmt sie zu einem negativen Tabu. Die Negativität rührt daher, dass wir uns in diesen gewissen Kontexten durch das gesellschaftliche Regelwerk in unserem eigenen Willen und Sinn unterbunden fühlen. Die Tabuisierung häuslicher oder sexueller Gewalt schützt in erster Linie den*die Täter*in, in den meisten Fällen nicht das Opfer. Verhaltensvorschriften bzw. Verbote, die frühere Generationen aufgebaut oder aufrecht erhalten haben, sind heute fehl am Platz. Der Austausch unter Betroffenen, die ähnliche Traumata erlebt haben, wäre ab einem bestimmten Zeitpunkt notwendig und erwünscht, ist aber oftmals nicht möglich.

Unter Tabus werden zumeist ungeschriebene Vorschriften verstanden, die das Denken, Tun oder Sagen bestimmter Dinge als von der Gesellschaft untersagte Verhaltensmuster kategorisieren. Dieser inoffizielle Verhaltenskodex unterliegt dem ständigen Wandel seiner Begründer*innen: der Menschheit. So ist heute das offenkundige Ausleben der eigenen Sexualität, zumindest für unsere Generation, in der Regel nicht mehr mit Scham besetzt. Dafür lässt die Anonymität der digitalen Kommunikation auf sozialen Plattformen die bisher bestehenden Barrieren schmelzen, Menschen öffentlich zu verurteilen, zu mobben oder zu stalken. Es gilt also in negative und positive Tabus zu unterscheiden.

Werden Tabus gebrochen, soll die öffentliche Verpönung des oder der Einzelnen durch größtmögliche Zusammenschlüsse verhindert werden. Im besten Fall wird weitreichende Aufmerksamkeit dadurch generiert, dass es für die jeweilige Bewegung ein symbolisch einstehendes Gesicht gibt; wie das von Alyssa Milano (#metoo) oder Greta Thunberg (Fridays for Future). Ob ein Tabu vorteilhaft für die von ihm betroffenen Menschen, oder in der Auslebung des eigenen Willens einschränkend ist, entscheidet sich letztendlich im Einzelfall.

(Wozu) Bedarf es Begrenzungen? Als positive Tabus verstehen sich diejenigen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben ordnen und beieinander halten. Eine fremde Frau nicht zu fragen, ob sie jemals einen Schwangerschaftsabbruch hat durchführen lassen, ist laut Kommunikationswissenschaftlerin Sabine Krajewski Ausdruck von respektvollem Umgang mit der Privatsphäre unserer Mitmenschen. Es gilt stets zu hinterfragen, wen oder was wir mit dem Ver-/Gebot schützen. Die Preisgabe persönlicher Erlebnisse bleibt durch das Tabu solange in Kontrolle meiner selbst, bis ich sie veräußern möchte. Die inoffizielle Verschwiegenheitsklausel ist bis zu dem Moment von Nutzen, ab dem ich mich von ihr unterdrückt fühle.

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Kein Fortschritt ohne Startschuss Der Bruch mit einer dieser auferzwungenen Verpflichtungen unterliegt meistens einer langjährigen Prozedur. Dass sexuelle Vielfalten nicht mehr unter einem dunklen Vorhang verschwiegen werden müssen, ist nicht das Ergebnis politischer und gesellschaftlicher Machtkämpfe in kürzester Vergangenheit. Der Christopher Street Day (CSD) fand seinen Ursprung im Jahre 1969, als sich Gäste einer New Yorker Schwulenbar offensichtlich diskriminierenden Maßnahmen polizeilicher Gewalt widersetzten und damit den Beginn für die wohl weltweit bekannteste Protestbewegung einleiteten. Abertausende Menschen haben und hatten in den vergangen Jahren einen maßgeblichen Anteil daran, dass sowohl politischen als auch gesellschaftlichen Forderungen Gehör geschenkt wurde oder ihnen Selbiges gewidmet und Folge geleistet worden ist. Durch die eigene Popularität hat der


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CSD wiederum selber zu (Namens-)Prägungen wie LGBTQI+ (aus dem Englischen: lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, intersexuell, plus) beigetragen. Denn obwohl für gleichgeschlechtliche Beziehungen und Ehen größere soziale Akzeptanzen und juristische Legalisierungen gewonnen wurden, gibt es noch keine vollständige Gleichstellung. Eine solche Prozesshaftigkeit lässt sich auch zum jetzigen Zeitpunkt beobachten. Obwohl es von der medialen Welt zunehmend thematisiert wird, gilt die Menstruation der Frau immer noch als etwas, über das nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. In und auf Werbemitteln für Binden oder Tampons wird die rote Blutung als blaue Flüssigkeit dargestellt. Menstruierende Menschen beschreiben ihren körperlichen Zustand mit dem Synonym „Erdbeerwoche“. Dennoch weicht die Mystifizierung rund um den weiblichen Zyklus auf. Initiativen für die Abschaffung der „Pink Tax“ gewinnen an Aufmerksamkeit und Reichweite. Ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent für Damenhygieneartikel, oder geschlechterspezifische Preisdifferenzierungen bei Dienstleistungen, wie dem Friseurbesuch, werden angefochten. Sollten bereits begonnene Petitionen Erfolg haben, bedeutet das möglicherweise nicht die Abschaffung dieses Tabus, aber durch die öffentliche Debatte können möglicherweise Fortschritte erreichbar werden.

© Vivien Koschig

Um ein gemeinsames Miteinander in einem hochgradig heterogenen System zu schaffen, bleiben Tabus Teil einer Gesellschaft. Sie ausschließlich als Instrument sozialer Kontrolle zu verstehen, das es zu vernichten gilt, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Jedes Individuum sollte es sich zur Aufgabe machen, die Angemessenheit des zeitgenössischen Kodexes in Frage zu stellen. Durch aktives Einstehen kann und sollte jeder Verantwortung für den Vollzug entsprechender Veränderungen übernehmen. Damit behalten wir alle in unserer eigenen Macht, welchen Tabus wir uns weiterhin unterordnen, und welche wir aufbrechen werden. Vivien Koschig

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ICH HAB DOCH KEINEN DACHSCHADEN!

DAS TABU UM PSYCHISCHE KRANKHEITEN

Obwohl psychische Krankheiten zunehmend an Relevanz gewinnen und die Zahl der Betroffenen in der Gesellschaft wächst, sind psychische Erkrankungen immer noch ein Tabuthema. Leidet ein Mensch an einer psychischen Störung, wird das oft mit Geisteskrankheit oder Irrsinn gleichgesetzt. Nicht selten hört man die Aussagen: „Der/die hat doch einen Dachschaden“ oder „Der/die hat sie nicht mehr alle“. Die Tatsache, dass eine Erkrankung der Psyche im Gegensatz zu einer körperlichen Krankheit nicht sichtbar ist, sorgt dafür, dass sie oftmals einfach abgetan und nicht ernst genommen wird. Doch gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft mit ständiger Medienpräsenz, in der jede*r besser als der/die andere sein will und sich mit jeder und jedem vergleicht, sind psychische Probleme aktueller denn je. Eine „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS-Studie) des Robert Koch Instituts zeigt, dass jede*r Dritte im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung leidet. Zu den weltweit häufigsten Krankheiten zählen Depressionen, bipolare Störungen und Schizophrenie und Suchterkrankungen. Ursachen dafür gibt es viele und es kann jede*n treffen. Die Auslöser können sowohl in der genetischen Veranlagung sowie dem sozialen Umfeld liegen, aber auch Belastungen wie Stress, Mobbing oder Versagensängste sein. Doch obwohl geistige Erkrankungen inzwischen zu den Volkskrankheiten gehören, werden sie in unserer sonst so aufgeklärten Gesellschaft noch tabuisiert und stigmatisiert. Die Gründe dafür sind vor allem Unwissenheit und Vorurteile, die bei vielen Menschen zu einem völlig falschen Bild führen. Menschen mit Depressionen wird Faulheit und mangelnde Disziplin unterstellt und Personen mit Magersucht wird gesagt, sie sollen doch einfach mehr essen. Dabei ist die Problematik viel komplexer. Lasst uns aus diesem Grund einige Vorurteile aus dem Weg räumen. Depressionen und Suizid Fangen wir mit Depressionen an. Vor ein paar Jahren wurden diese einfach nur als traurige

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oder melancholische Phase abgetan. Viele erkannten den Ernst dieser Krankheit nicht an, bis auch viele prominente Personen offen über ihre Erkrankung sprachen und die Problematik auch in den Medien wie z. B. dem Roman „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher und der darauf basierenden Netflix-Serie thematisiert wurde. Der Roman bzw. die Serie behandelt auch ein weiteres Tabu: das Thema Suizid. 10 000 Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben, darunter viele aufgrund von Depressionen. Somit sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Mord oder Totschlag. Obwohl Suizid nicht nur ein Problem von Randgruppen ist und auch eine Person, die in einem wohlbehüteten Umfeld aufwächst und der es scheinbar an nichts fehlt, suizidgefährdet sein kann, wird das Thema immer noch totgeschwiegen. Erst wenn ein Prominenter oder eine Prominente sich das Leben nimmt, wird es in der Öffentlichkeit und den Nachrichten präsent. Über das Krankheitsbild wird jedoch nicht hinreichend aufgeklärt. Dabei ist es wichtig, betroffenen Personen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind und sich Hilfe suchen können. Genauso muss Außenstehenden klargemacht werden, dass sie Personen mit Suizidgedanken Verständnis entgegenbringen sollten, anstatt sie zu verurteilen und ihnen zu unterstellen, nur Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Geschlechterspezifische Unterschiede Im Bezug auf die Auftretenshäufigkeit sowie die Symptome und das Krankheitsbild konnten Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen auch einige geschlechterspezifische Unterschiede beobachten. Obwohl die Zahl der diagnostizierten Depressionserkrankungen bei Frauen doppelt so hoch ist wie bei Männern, begehen Männer häufiger Suizid. Dieses Paradoxon kann vor allem dadurch erklärt werden, dass aufgrund des traditionellen Rollenbildes, psychische Erkrankung bei Männern sehr viel stärker tabuisiert werden als bei Frauen. Die depressiven Symptome wie Traurigkeit, Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit werden meist als weiblich


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erachtet, weshalb viele männliche Betroffene versuchen, ihre mentalen Probleme zu verstecken. Es herrscht das Klischee, bei Depressionen handele es sich um eine weibliche Krankheit. Dabei äußern sich Depressionen bei Männern einfach anders als bei Frauen. Neben den üblichen Symptomen treten bei männlichen Personen oft auch Gereiztheit, Aggressivität, Wut und antisoziales Verhalten auf. Diese Verhaltensweisen werden meist als männertypische Abwehrstrategien getarnt oder als Stresssymptome interpretiert, sodass psychische Erkrankungen bei Männern oftmals nicht diagnostiziert werden und auch keine Behandlung stattfindet. Schizophrenie Auch was Schizophrenie betrifft, halten sich in unserer Gesellschaft einige Irrtümer. Oftmals wird diese fälschlicherweise mit einer gespaltenen Persönlichkeit in Verbindung gebracht, bei der Betroffene mehrere Persönlichkeiten in sich tragen. Stattdessen handelt es sich jedoch um eine Krankheit, die von Symptomen wie Realitätsverlust, Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen geprägt ist. Viele Erkrankte hören Stimmen und leiden unter Verfolgungswahn. Die Gefühle, die Sprache und das Erleben der eigenen Person sowie die Wahrnehmung der Umgebung weichen bei den Betroffen stark vom Empfinden gesunder Menschen ab. Daher bemerken beziehungsweise akzeptieren schizophrene Personen oft nicht, dass sie krank sind. Schizophrenie hat nichts mit einem Intelligenzverlust zu tun. Die Handlungen der Betroffenen sind für Außenstehende zwar unverständlich und erscheinen unsinnig, dennoch entstammen sie nicht einem Mangel an Intelligenz, sondern sind das Resultat von Fehlwahrnehmungen und -interpretationen der Umwelt.

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terstützt. Dadurch, dass über geistige Erkrankungen meist nur im Kontext von Gewalt und Verbrechen berichtet wird und nur wenige Medienberichte die Bewältigung solcher Erkrankungen thematisieren, wird die Psychiatrie nicht als Heilanstalt, sondern als Gefängnis oder Strafe angesehen. Oft werden psychisch Kranke als aggressiv und gefährlich eingestuft. Solche stereotypischen Darstellungen verstärken gesellschaftliche Vorurteile und führen dazu, dass Betroffene Angst haben, als verrückt und bedrohlich abgestempelt oder sogar sozial ausgegrenzt zu werden. Viele schämen sich und verschweigen ihre Probleme. Häufig geben sich Betroffene sogar selbst die Schuld und denken, dass ihre Probleme Ausdruck ihres eigenen Versagens sind. Dass sich Menschen mit psychischen Problemen aus Angst vor Stigmatisierung und Unverständnis nicht trauen professionelle Hilfe zu suchen, führt dazu, dass ihre Behandlung durch eine späte Diagnose oft viel schwieriger und langwieriger ist. Um geistige Erkrankungen wirksam behandeln zu können, ist Prävention und Früherkennung wichtig. Daher ist es notwendig, dass psychische Krankheiten genauso wie körperliche Erkrankungen sozial anerkannt und als ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko betrachtet werden. Denn entgegen vieler Vorurteile sind psychische Störungen nicht unabwendbar, sondern behandelbar. Elisabeth Meißner

Mangelnde Aufklärung

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Wie man sieht, liegt die Kernproblematik der Tabuisierung in der mangelnden Aufklärung über psychische Krankheiten sowie der Stigmatisierung und Verbreitung von Vorurteilen. Diese werden teilweise auch durch die falsche, einseitige Berichterstattung in den Medien un-

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LEIPZIGER DROGEN- & CLUBSZENE EIN KOMMENTAR

„…die Menschen scheinen ständig danach zu verlangen, ihren Bewusstseinszustand zu verändern. Sie benutzen stimulierende Drogen, um wach zu bleiben und die Nacht durchzutanzen, Beruhigungsmittel um ihre Ängste zu lindern, und Rauschmittel, um neue Bewusstseinszustände zu erfahren und die Probleme des Alltags zu vergessen.“ - „Drogen und Medikamente“, Leslie Iversen Der kleine Bruder eines Freundes erzählt stolz, dass er seit drei Tagen wach sei. Freitag Institut für Zukunft (IfZ), Samstag OpenAir und Sonntag Distillery. Seine Pupillen so groß, dass man keine Iris mehr sieht, seine Haut blass und verschwitzt. Was es gab? Einen bunten Mix aus MDMA, Speed und LSD. MDMA zur Ausschüttung von Glückshormonen, Speed zum Wachbleiben und LSD zur psychoaktiven Sinneserweiterung. Einen ehemaligen Schulkameraden traf ich im Club, eine Gesichtshälfte hing taub und angeschwollen herunter. Nach langem Brechreiz wurde er auf der Party bewusstlos und wurde vom Krankenwagen abgeholt. Was es gab? Ketamin und viel LiquidEctasy (GBL). Eine Kombination wie diese führt zu extremer Herz-Kreislaufbelastung, schlimmstenfalls sogar zum Atemstillstand. Ketamin ist ein Narkosemittel, das vor allem in der Notfall- und Tiermedizin angewendet wird. GBL wird in der Industrie als Lösungsmittel u.a. für Graffitientferner eingesetzt. Der Nachbar eines Freundes wollte letztes Wochenende mit seiner Freundin feiern gehen und verwechselte zum „in Partystimmung kommen“ Speed mit 2-CB. Unglücklicherweise ist 2-CB ein Halluzinogen, welches bereits minimal dosiert zum Rausch führt. Ahnungslos zog die Freundin eine übergroße Line mit. Wenige Minuten später mussten Sanitäter alarmiert werden, inmitten der Eisenbahnstraße schrie eine nackte Frau, verfolgt von Irrlichtern, um ihr Leben. Das alles sind Geschichten, bei denen es einem kalt den Rücken herunterläuft, für die meisten sind sie jedoch kaum vorstellbar. Wenn aber aus ihnen bereits Serien entstehen, wie die deutsche Netflix-Produktion „How to sell drugs online (fast)“, welche ein vermeintlich reales Generationsportrait zeichnen soll, benötigt das

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Thema endlich die nötige Aufmerksamkeit. Wer „Leipziger Drogenszene“ googlet, stößt nach diversen Artikeln über genannte Vorfälle, Suchtberichte, Razzien und Drogenmissbräuche auf Websites Leipziger Clubs. Das Onlinemagazin Vice teilt die Leipziger Clubszene in Techno und Nicht-Techno, besser gesagt in illegalen Drogenkonsum und legalen Alkoholkonsum, ein. Ersetzt man „Drogenszene“ durch „Clubkultur“ findet man Beiträge der Zeit, der Sueddeutschen sowie des Focus. „Druff, druff, druff“ und „Wie drauf ist die Leipziger Club-Szene?“ lauten die Überschriften. Leipzig wird als Vorreiter der Techno- und der damit verbundenen Drogenkultur betitelt. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht oder sich selbst in die dunklen Gemäuer der Leipziger Technoclubs traut, will und kann nichts gegen diesen Titel einwenden. Wo man geht und steht Ein kurzer Spaziergang über die Eisenbahnstraße reicht und man wird nicht nur einmal angesprochen, ob man kaufen möchte. Am Köhlerpark wird vor dem Zaun eines Kindergartens die Nadel aufgezogen und nach Gebrauch über selbigen geschmissen. Am Rabet kann man beobachten wie in den Büschen hockende Konsumenten*innen von der Alufolie Crystal Meth rauchen. Im Velvet wird einem regelmäßig Kokain angeboten. Im Elipamanoke gibt es Behälter für benutzte Spritzen auf dem WC, sowie frische Spritzen an der Bar. Im IfZ wurden nebst Toiletten extra Kammern mit Ziehablagen eingerichtet. Im Gegensatz dazu wartet man in der Distillery Ewigkeiten auf eine freie Toilette, aus welcher sich dann eine Hand voll Leute herausquetschen. - Die waren doch nicht alle zusammen pinkeln, oder? Hält man es hier lang genug aus, kann man beobachten, wie sich die Tanzfläche ab sechs Uhr leert und von schwarz bekleideten, verschwitzten und kauenden Silhouetten gefüllt wird. Im monotonen Beat tanzt die Masse wie hypnotisiert die gleichen Bewegungen, ihre Wasserflaschen im Rhythmus schwingend. Um diese Uhrzeit ist ein spontaner Smalltalk unmöglich.


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Bei meinem letzten Clubbesuch belausche ich in der Schlange eine Mädchengruppe: Heute ist ihr erstes Mal „so richtig Techno feiern“. Wenige Zeit später treffe ich besagte Gruppe wieder ein Mädchen weint, eines kotzt hinter das Sofa, zwei weitere versuchen total überfordert zu helfen. Anscheinend heißt das erste Mal „so richtig Techno feiern“ auch das erste Mal Drogen nehmen. Schnell kommt ein Angestellter mit Wasser: „Ach, das ist euer erstes Mal IfZ? Ach, und das erste Mal Ecstasy?“ Er grinst, während er wahrscheinlich an sein erstes Mal zurückdenkt und verabschiedet sich mit einem „das wird gleich wieder, dann könnt ihr richtig fett dancen“ in den grauenden Morgen. Safer Clubbing & Awareness Philosophie Das soll die angekündigte Umsetzung der Philosophie von Safer Clubbing und Awareness sein? Laut Veranstalter führen illegale Drogen hier zum Rauswurf und man setze sich für Aufklärung ein, um Risiken zu minimieren sowie ein Bewusstsein für den Konsum zu schaffen. Um selbiges bemüht sich beispielsweise der Drugscouts e.V. unter dem Slogan „Tanzen, Rausch und Party… aber sicher!“ An einem Informationsstand werden Flyer zu psychoaktiven Substanzen, Obst und Wasser verteilt. Das Projekt wird in Leipzig finanziell von der Stadt getragen, dennoch sieht man selten Helfer*innen vor Ort. Selbst die Staatsgewalt glänzt durch Abwesenheit. Es gibt keine polizeilichen Clubkontrollen, da abseits der Tanzfläche der Kampf gegen Drogen bereits sämtliche Kräfte fordert. Aus dem Leipziger Suchtbericht 2018 geht hervor, dass sich die Rauschgiftdelikte im Vergleich zum vorherigen Jahr verdoppelt haben. Dealerjagd und Drogenrazzia stehen zunehmend an der Tagesordnung. Bisher ergriffene Maßnahmen zur Eindämmung des Konsums illegaler Substanzen führten durch Kontrolle, Polizeipräsenz und mangelhafte Aufklärung nur zur Verlagerung der Brennpunkte. Gegen den unkontrollierbaren Hype in der Leipziger Technoszene und den ausufernden Konsum wird einfach nichts unternommen. Beschriebenes Vorgehen bleibt erfolglos und zieht einen langen Rattenschwanz hinter sich

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her. Die größte Gefahr, die mit der Legitimation von Freizeitdrogen einhergeht, ist die Sucht. Erst wird vom Partykonsum und „Ballern am Wochenende“ erzählt, später gibt es mal ein paar Bahnen zwischendurch. Je mehr Grenzen überschritten werden, desto schwerer wird es beim nächsten Mal „Nein“ zu sagen. Viele rutschen vom gelegentlichen Wochenendkonsum in einen bleibenden Alltagskonsum. Dies stützt die rapide wachsende Zahl der Cannabis-, Crystal Meth- und Polytoxikomanie (Mischkonsum)Abhängigen des Leipziger Suchtberichts. Große Defizite stellen stark begrenzte Therapieplätze, aber auch lückenhafte Rehabilitations- und Jugendhilfskonzepte dar. Die Stadt Leipzig setzt auf Repression, anstatt Suchträume oder umfangreiche Prävention zu ermöglichen, um gegen den Trend und die aufkommende Banalisierung der Thematik anzukämpfen. Maxi Josephine Rauch

Du hast ein Problem mit Drogen und/oder Sucht? Dann findest du hier in der Informationsbox Adressen von verschiedenen Anlaufstellen. • • • •

Zentrum für Drogenhilfe Alternative ll, Heinrichstraße 18 DrugStore/Drogeninformationsladen der Drugscouts, Demmeringstraße 32 Suchberatungsstelle IMPULS, Möckernsche Straße 3 Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Känguruh, Beethovenstraße 21

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DIE NICHT-DROGE: VORURTEIL CBD

DAS GRAS OHNE HIGH, ABER HEILUNG

Hier bekommst du noch mehr Informationen zu CBD: Greentime CBD-Store Thomasiusstraße 2 04109 Leipzig

Es ist noch nicht allzu lange her, da habe ich das erste Mal von CBD gehört. Auf Instagram stellten sogenannte „mindful & holistic healing“ Blogger*innen diese neue Heilpflanze vor. Natürlich direkt mit Discount Code. Sie sprachen davon, chronische Schmerzen, Schlafstörungen und sogar Panikattacken damit behandeln zu können. Ich war zunächst skeptisch, vor allem wegen der Vermarktung mittels gefilterter, glitzernder Insta-Stories. Ich konnte mir außerdem nicht vorstellen, dass das Ganze legal sein sollte. Das Wort Cannabis wurde oft erwähnt und ab da wollte ich nicht mehr wirklich zuhören.

CBD sieht genauso aus wie das, was man gemeinhin als Gras oder Cannabis bezeichnet. Im Wesentlichen unterscheidet es sich davon, dass man CBD legal kaufen kann, da es keine psychedelische Wirkung hat. Dies geschieht nur, wenn der THC Anteil (der High-Wirkstoff ) hoch genug ist, was bei CBD-Gras nicht vorkommt. Doch Konsument*innen schätzen viel mehr die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten mit Cannabidoil und davon gibt es eine ganze Menge. Dazu gehören z.B.: Entzündungshemmung, das Lösen von Krämpfen, verlangsamtes Krebszellenwachstum, Blutdrucksenkung und antidepressive Effekte.

Es dauerte nicht lange und das Thema drängte sich mir fast auf, als ich für ein Wochenende in die Niederlande fuhr. Dort hängen an seriösen Drogerien große Werbeplakate, die die vielseitigen Wirkungen von CBD anpreisen. Gras und Holland? Na gut, dachte ich, die Holländer*innen sind da einfach offener. Auf den Verpackungen der kleinen Fläschchen stand jedoch, dass es sogar für „kinderen“ geeignet sei. Ab da begann ich mich näher mit Cannabidoil auseinanderzusetzen.

Vor kurzem besuchte ich eine Messe in Dortmund, wo jeder über diese alternative Medizin redete. Die Aussteller*innen präsentierten alles Mögliche mit Nutzhanf: Eistee, Pesto, Badesalz, Muffins, ... Als sich ein Mann neben mir einen Joint baute, mit CBD-Gras, da sah das alles immer noch komisch aus, aber es schien mir schon normaler. Die Glitzer-Insta-Stories belächele ich zwar immer noch, aber ich bin froh, mich genug mit diesem Thema beschäftigt zu haben, um meine Vorurteile zu widerlegen.

Mir wurde schnell bewusst, dass ich diese Heilpflanze in eine Schublade gesteckt hatte, in die sie gar nicht rein gehört. Sozusagen eine GrasIllegal-Schublade und mit der wollte ich nichts zu tun haben. Ab und zu ertappe ich mich dabei, wie ich mich nicht genug mit bestimmten Themen auseinandersetze. Manchmal, weil ich denke ich wüsste schon genug - oder einfach „Das ist momentan nix für mich.“ So auch bei CBD. Nachdem ich mir im Internet ein paar Artikel durchgelesen hatte, fing ich sogar an, für Verwandte zur Schmerztherapie zu recherchieren. Ich ging in einen Leipziger CBD-Shop von denen mittlerweile immer mehr in Deutschland eröffnen. Trotzdem fühlte es sich komisch an, dort neben Cremes und Shampoos, Gläschen mit Hanfknollen zu sehen. Der Verkäufer sagte mir, dass seine Kunden*innen das CBD meistens in Öl-Form zu sich nehmen. Als er mich fragte: „Oder willst du das zum Rauchen haben?“, da fühlte ich mich unsicher. Doch warum?

Leipziger Lerche 51 | Herbst 2019

Danielle Schneider

© Danielle Schneider


lokales

HTWK-NEWS

NEUES AUS DER HOCHSCHULE

Ihr seid neugierig, was seit unserer letzten Ausgabe an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig so alles geschehen ist? Dann freut euch auf die folgenden Zeilen, denn hier berichten wir wie immer alles Wissenswerte. Am 05. Juni 2019 ist Prof. Dr. Mark Mietzner zum neuen Rektor der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) gewählt worden. Seine Amtszeit beginnt am 01. Oktober 2019 und beträgt fünf Jahre. Die Wahl ist das Ergebnis einer Kampfkandidatur gegen die bisherige Amtsinhaberin Gesine Grande und wurde, unter anderem von der Leipziger Volkszeitung, als „Paukenschlag“ wahrgenommen. Mark Mietzner ist Hochschulmanager, Wissenschaftler und Unternehmer. Vormals begleitete er die Zeppelin Universität auf deren Weg zur Qualitätsanbieterin internationaler und interdisziplinärer Programme für Führungskräfte und innovativer Studienprogramme. Womit wir bereits bei den richtige Stichworten wären: Innovation, Zukunft, Digitalisierung. An der HTWK wird seit November 2018 der Aufbau einer neuen Fakultät „Digitale Transformation“ vorangetrieben. Inzwischen sind die ersten rund 130 Studierenden der Studiengänge Informations- und Kommunikationstechnik sowie Telekommunikationsinformatik eingeschrieben. Die Deutsche Telekom AG stiftet als offizieller Partner sämtliche Professuren und wissenschaftliche Mitarbeiter*innenstellen. Ein Stiftungsprojekt

in diesem Umfang ist an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Deutschland einmalig. Martin Dulig (Sächsischer Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr) sagte dazu, die HTWK Leipzig sei „der ideale Standort für eine Fakultät Digitale Transformation.“ Sachsen verfüge heute über herausragende Kompetenzen bei Schlüsseltechnologien der Digitalisierung und dies sei vor allem der exzellenten Forschungsund Hochschullandschaft zu verdanken. Geplant wird derweil auch ein Ausbau der Gründungsunterstützung: Die Hochschule strebt an, ein Gründungszentrum zu etablieren, dass alle Studierenden individuell und zielgerichtet bei der Gründung begleitet. Um die Erneuerung abzurunden hat die HTWK außerdem zum 01. April 2019 ein neues Corporate Design - inklusive Logo, Fakultätskennzeichnungen und Schriften - bekommen. Für die Erarbeitung und Entscheidung ist eine Arbeitsgruppe zuständig gewesen, der auch Studierende aller Fakultäten angehört haben. Der visuelle Auftritt soll die Offenheit und Modernität der Hochschule widerspiegeln und zeichnet sich durch viel Weißraum und lebendige Farben aus. Christian Bartl

das lerche-abo

informativ, regelmäßig, kostenlos Ja, hiermit abonniere ich die Leipziger Lerche. Ich erhalte zwei Hefte pro Jahr pünktlich zu den Buchmessen kostenlos zugeschickt. Ich kann das Abonnement jederzeit kündigen. Einrichtung/Firma:

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buchempfehlung

„LOLITA“

VON VLADIMIR NABOKOV

„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta.“

RoRoRo 11,99 € 717 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-499-22543-7 Cover: © Rowohlt Taschenbuch (Verlag)

Der Literaturagent Humbert Humbert verfasst im Gefängnis sitzend seine Memoiren, die Geschichte seines Lebens - seines Lebens mit Lolita. Im Alter von 13 Jahren verliebt er sich erstmals in die gleichaltrige Annabel Lee. Beide versuchen sich einander sexuell anzunähern, jedoch ohne Erfolg: Annabel verstirbt frühzeitig. Dieses Erlebnis prägt Humberts Leben ausschlaggebend und löst bei ihm einen Fetisch aus, den er nicht mehr loslassen kann. Seine sexuellen Begierden beziehen sich von nun an ausschließlich auf Mädchen nach Annabels Vorbild, „Nymphetten“ wie er sie nennt. Eines Tages zieht der gebürtige Franzose in die kleine amerikanische Stadt Ramsdale, wo er Dolores Haze - seine Lolita - und deren Mutter Charlotte kennenlernt. Mit ihr beginnt er eine lieblose Ehe, die nur dem Zweck dient, Lolita näher zu kommen. Nachdem Charlotte bei einem Autounfall ums Leben kommt, ist Humbert plötzlich der alleinige Vormund Lolitas. Die beiden reisen nun quer durch die USA und Humbert beginnt, seine sexuellen Phantasien mit Lolita auszuleben. Kann Lolita ihrem perversen Liebhaber entkommen? Gibt es für sie ein Leben nach Humbert Humbert? Und was ist der eigentliche Grund für seinen Gefängnisaufenthalt? Ein Buch so bizarr, dass es bereits wieder fesselnd wirkt - und stets für Diskussion und Furore sorgt, damals wie heute. Virginia Lieder-Wittig

„DARLING DAYS“ VON IO TILLET WRIGHT

„Wenn es nicht höllisch weh tut, ist es einen Scheiß wert.“

Suhrkamp Nova 15,95 € 436 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-518-46803-6 Cover: © Suhrkamp Verlag

1985 kommt iO in den verrufenen Gegenden der New Yorker Lower East Side zur Welt und wächst zwischen Armut, Kunst und Drogenrausch auf. Seine exzentrische Mutter nimmt Zeit ihres Lebens sowohl die Rolle der großen Heldin und Beschützerin als auch die einer gebrochenen Existenz und unberechenbaren Widersacherin ein. Schon im Alter von 6 Jahren merkt iO, dass er sich im eigenen weiblichen Körper nicht Zuhause fühlt und beschließt, als Junge zu leben. Seine Kindheit und Jugend sind geprägt von Mobbing, dem Gefühl der Andersartigkeit sowie der Sehnsucht nach Beständigkeit und einem normalen Leben. Autor, Künstler, Schauspieler und TV-Moderator, iO Tillett Wright, schreibt in der Autobiografie „Darling Days“ über sein Leben zwischen den Geschlechtern und erzählt den Leser*innen eine außergewöhnlich mutige Geschichte voller verheerend starker Erinnerungen, die gleichermaßen erschütternd und inspirierend ist. Eine Geschichte von der Suche nach der eigenen Identität, vom Hadern mit gesellschaftlichen Normen, von Freiheit, Sucht, Rebellion und dem nackten Überleben und schließlich von Vergebung.

Leipziger Lerche 51 | Herbst 2019

Stefanie Kaiser


buchempfehlung

„TABU“

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VON FERDINAND VON SCHIRACH

Sebastian von Eschburg zeigt bereits als Kind eine ungewöhnliche Gabe zur Synästhesie. Jedes noch so kleine Detail der Welt nimmt er in Verbindung mit einer zusätzlichen Farbe wahr. Der Buchstabe A scheint ihm rot, die Hände des Kindermädchens türkis und der Staub des Elternhauses von dunklem, sanftem grün zu sein. Als er beginnt zu verstehen, dass „nur für ihn alle Dinge neben der sichtbaren noch die andere, die unsichtbare Farbe haben“, stellt er fest: Wahrheit und Wirklichkeit sind ganz verschiedene Dinge. Die persönliche Beschäftigung mit dieser Erkenntnis - in Kombination mit seinem besonderen Händchen für Farben - wird ihn schließlich zum weltweit gefeierten Künstler machen. Eine Laufbahn, die jäh unterbrochen wird, als er unter Mordverdacht gerät. Der in die Jahre gekommene Rechtsanwalt Konrad Biegler übernimmt den Fall und muss sich damit arrangieren, dass sein Mandant es auch ihm gegenüber mit Wahrheit und Wirklichkeit alles andere als genau nimmt. Ohnehin schon geplagt von Burnout und Überdruss, kämpft der Strafverteidiger im Rahmen des Prozesses zudem für seine ganz eigene Wahrheit: auch Recht und Moral sind ganz verschiedene Dinge. Der Autor Ferdinand von Schirach hält auch seinen zweiten Roman in dem lakonisch knappen, mitunter kühl anmutenden Stil, der ihn bekannt gemacht hat. Diese zurückgenommene Sprache ermöglicht es ihm, sich voll und ganz auf den Spannungsbogen der Geschichte zu konzentrieren, und der hat es dieses Mal wirklich in sich! Ähnlich den Irreführungen und Verwirrspiele, in die der Protagonist seinen Anwalt verwickelt, müssen sich auch die Leser*innen fortwährend Täuschungsversuche seitens des Autors gefallen lassen. Besonders allen Liebhaber*innen unerwarteter, trickreicher Wendungen und überraschender Schlusspunkte sei das Buch daher wärmstens empfohlen. Christian Bartl

btb Verlag 10,00€ 256 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-442-71498-8 Cover: © btb Verlag

„EINMAL“

VON MORRIS GLEITZMANN „Jeder verdient es, etwas Gutes zu haben. Wenigstens einmal im Leben.“ Der neunjährige Felix wurde vor fast vier Jahren von seinen jüdischen Eltern in ein katholisches Waisenhaus in den Bergen gebracht. Den wirklichen Grund weiß er allerdings nicht. Er denkt noch immer, seine Eltern müssten einige Angelegenheiten für ihren Buchladen erledigen. Von der Problematik der Judenverfolgung durch die Nazis weiß er zu diesem Zeitpunkt nichts. Felix schaut mit an, wie eine Gruppe Nationalsozialisten Bücher aus der Bibliothek verbrennt, versteht allerdings nicht den Hintergrund. Aus Angst um die Bücher seiner Eltern, die ja Buchhändler*innen sind, flüchtet er heimlich aus dem Waisenhaus und begibt sich auf die Suche nach ihnen. Anfangs noch unwissend, wird ihm mit zunehmender Zeit das Ausmaß des Ganzen bewusst und damit auch, was dies für ihn und alle anderen Juden und Jüdinnen bedeutet. Morris Gleitzmans „Einmal“ behandelt sensibel und kindgerecht das schwierige Thema der Judenverfolgung. Trotz dessen, dass das Buch ab zwölf Jahren ist, wird die Thematik auf ihre Art schonungslos dargestellt. Der Autor schafft dabei eine gut komponierte Geschichte, die durchaus so hätte ablaufen können. Die naive Sicht des Jungen und die Versuche, alles schön zu reden, machen schmerzhaft bewusst, wie schlimm die Zeit damals für Kinder gewesen sein muss und wie sehr sie sich nach einem normalen Leben gesehnt haben müssen.

Carlsen Verlag 8,95€ 186 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-551-35862-2 Cover: © Carlsen Verlag

Selina Günther

Leipziger Lerche 51 | Herbst 2019


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branchenanekdoten

Überspannte Spannungsliteratur Kundin, älter, Touristin aus Aachen, fragt nach dem „überaus wichtigen“ Buch „Die Wahrheit beginnt zu zweit“ (erschienen übrigens 1997). Beginnt sogar einen Vortrag darüber, wieso wir es ins Schaufenster legen müssen. Meine Mitarbeiterin macht sie höflich darauf aufmerksam, dass wir eine ausgewiesene Krimibuchhandlung sind, was am Schaufester auch steht. Kundin empört: „Pfui, so übles Zeug. Nur Mord und Totschlag. Denken Sie doch mal an die Familien!“ Weil sie nicht aufhören wollte, zu zetern, mussten wir sie leider auffordern zu gehen. Wir überlegen derweil, wie lange wir das Wort „Pfui“ nicht mehr gehört haben.

Aus unserer Lieblingsrubrik: Kunde betritt Laden... Ein von sich selbst nur das Beste haltender Mensch, stadtbekannt, Anwalt mit Siegelring und Fönfrisur - steht vor dem Regal mit unseren persönlichen Empfehlungen. Plötzlich mit entsetzen: „DAS sind ihre Empfehlungen??!“ Die Kollegin: „Ja, genau!“ „Is‘ aber sehr krimilastig...“ „Im Moment schon, ja.“ Er daraufhin - abrupter Themenwechsel: „Und hier arbeiten ja auch nur Frauen!“ Kollegin: „Äh, ja...?“ Er: „Dann sind das ja alles nur Frauenbücher!“ Wir Frauen: größtenteils sprachlos. Aber kombinieren kann er! Ganz sicher der Anwalt meiner Wahl, falls ich mal keinen(!) brauche...

Die typischste aller Fragen Eine Kundin kommt zur Info und stellt die übliche Frage: „Ich suche ein Buch?!“ Über Piraten gehe es und es sei gelb. Reclam! Aha. Und immerhin wusste sie sogar den Autoren. Nachdem die Suche im Warenwirtschaftssystem nichts jedoch nichts ergeben hatte, brachte mein Servicedenken mich dazu, etwas ausgiebiger im Netz zu recherchieren. Und siehe da: das Buch existierte, war allerdings eine Abhandlung über Piraterie aus dem 17. Jahrhundert, längst vergriffen und interessierte wohl abseits unserer Kundin keinen Menschen weltweit mehr.

IMPRESSUM „LEIPZIGER LERCHE“ ISSN: 1430-0737

Meißner, Pauline Braune, Melanie Menge

Auflage: 3 000 Exemplare

Vertrieb: Milena Lohse, Christian Bartl, Virginia Lieder-Wittig, Stefanie Kaiser

Herausgeber: Hochschule für Technik, Wirtschaft und

Anzeigen: Milena Lohse, Christian Bartl, Sina Trautmann, Pauline Braune

Kultur Leipzig, Fakultät Informatik und Medien,

Layout-Chefin: Danielle Schneider

Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft,

Layout: Paula Heinze, Danielle Schneider, Maxi Josephine Rauch, Sina Trautmann,

Karl-Liebknecht-Str. 145, 04277 Leipzig

Eileen Abe, Selina Günther, Elisabeth Meißner

Internet: www.fim.htwk-leipzig.de

Herstellung: Paula Heinze, Eileen Abe, Selina Günther

www.leipzigerlerche.com

Fotografin Titelbild: © Maxi Josephine Rauch

E-Mail: lerche-online@htwk-leipzig.de

Model Titelbild: Nastassja von der Weiden

V.i.S.d.P.: Prof. Gunter Janssen

Titelbild Spezial: © Lisa Wagner

Chefredakteur: Christian Bartl

Editorial: © Christian Bartl

Stellvertretende Chefredaktion: Stefanie Kaiser, Allegra Wendemuth

Reproduktion/Druck: Anke Schlegel, Roger Troks,

Redaktion: Christian Bartl, Paula Heinze, Danielle Schneider, Milena Lohse, Maxi

Hausdruckerei der HTWK, Gustav-Freytag-Str. 40, 04277 Leipzig

Josephine Rauch, Anh Ty Le Tran, Ngoc Anh To, Stefanie Kaiser, Allegra Wendemuth, Sina

Weiterverarbeitung: Zschämisch Buchbinderei, Weststraße 9, 04425 Taucha

Trautmann, Vivien Koschig, Eileen Abe, Selina Günther, Virginia Lieder-Wittig, Elisabeth


Die nächste Ausgabe der Leipziger Lerche erscheint im März 2020. Wer uns bis dahin zu sehr vermisst, findet regelmäßig Neues auf unserem Blog und die alten Ausgaben als ePaper auf der Magazinpla@orm issuu.

www.leipzigerlerche.com


Schleipen Papier zum Lesen Papierfabrik Schleipen Kaiserslauterer Straße 403 67098 Bad Dürkheim Telefon 0 63 22 / 6 00 80 Fax 0 63 22 / 6 17 02

Die Leipziger Lerche wurde gedruckt auf Schleipen Fly 07 Schneeweiß 1,2-faches Volumen 115 g/qm

Ein Unternehmen der Cordier Spezialpapier GmbH www.cordier-paper.de

Studien gang Buchhandel Verlags

Fakultät: Informatik und Medien Regelstudienzeit: 6 Semester (inkl. Praxissemester) Voraussetzungen: allgemeine Hochschulreife oder fachgebundene Hochschulreife Studienabschluss: Bachelor of Arts

Studium rund ums Buch Besuchen Sie den der Hochschulen auf der Leipziger Buchmesse und auf der Frankfurter Buchmesse 2019!

Dezernat Studienangelegenheiten • Postfach 30 11 66 • 04251 Leipzig • htwk-leipzig.de