Martina Caluori & Simone Züger. Weisswein zum Frühstück – LESEPROBE

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Erschöpft versuche ich mich zu erinnern, wie es vorher war. Vorher, als ich sie frühmorgens leise zuschloss, während du noch schliefst. Vorher, als ich mich mittags heimlich nach Hause schlich, um allein zu sein. Vorher, als du spätabends heimkamst und ich am Küchentisch auf dich wartete, neben mir der übergequollene Aschenbecher. Vorher, als du sie zuknalltest, um sie wenig später wieder aufzureißen und mir eine runterzuhauen. Vorher, als ich mich im Badezimmer einsperrte, um mit meiner Angst zu warten, bis du schliefst. Vorher fand ich sie, die kleinen Schlupflöcher und Verstecke. Sie sind verschwunden und ich mit ihnen.

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Auf dem Foto am Kühlschrank ist sie 72 Jahre alt. Der Fahrtwind verwirbelt ihr achatgraues Haar, sie hat es unter einem dunkelblau gepunkteten Tuch versteckt. Sie schien glücklich an diesem Tag. Vermutlich erinnere ich mich deshalb daran. Es war der letzte Sommer, in dem wir noch den grünen Chevrolet hatten, der so gut zu ihren magnolienweißen Ohrringen passte, die sie nur an besonderen Tagen trug. Ich konnte mich nicht sattsehen am Fliedermeer im Morgengrauen. Sie fand das zu gefühlsselig und freute sich lieber über den Nelkenwurz, der bei der Tankstelle blühte. Ich musste schon damals oft zur Toilette. Die Prostata. Es nervte sie meistens. Aber nicht an diesem Tag. Wir lehnten am Wagen und rauchten, ich Gauloises und sie Marlboro light, danach fuhren wir stillschweigend weiter. Das taten wir oft. Manchmal hörten wir Countrymusik: Charline Arthur, Dolly Parton, Loretta Lynn, Tammy Wynette. Zwei Lieder ließ sie vorbeistreichen, dann schnipste sie mit. Spätestens beim fünften Lied sang sie laut und kräftig und dehnte die Vokale in Südstaatenmanier. Wenn sie sich nach jedem zweiten Song eine Zigarette anzündete, wusste ich, dass sie glücklich war. So richtig. Eine Zigarette hätte ich jetzt gerne, hier vor dem Kühlschrank. Das würde helfen. Ich versuche mich an den Geschmack von Tabak zu erinnern. Vergebens.

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Der süßliche Moschusduft, vermischt mit dem Geruch alternden Fleisches, ist zu stark. Sie liegt einfach da, neben dem Musikschrank, auf ihrer Decke mit dem gelben Blumenmuster. Der Nachschub an Leichensäcken ging aus. Was kann ich schon tun? Außer warten, einen Tag noch oder zwei. Vielleicht lege ich eine Country-Platte auf.

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In den frühen Morgenstunden am Straßenrand spürte meine rechte Hand deine Worte. Es fühlte sich an, als würdest du mit ihr flüstern. Deine andere Hand hielt das Glas aus der Bar. Damals, als Glas noch hygienisch war. Jeden Tag erzähle ich mir dieselbe Geschichte, damit ich etwas zum Erinnern habe. Das Heute ernährt sich von gestern. Doch das Gestern ist wie das Vor­ gestern und das Gestern davor. Eine sich wiederholende Szene. Die Welt bleibt geschlossen. Ich kann um sie nicht herumgehen und auf die Wände ist kein Verlass. Die Bilder menschlicher Beiläufigkeit sind verschwunden. Die Gemeinsamkeiten sind fort und mit ihnen deine Berührungen. Geblieben bin ich. Allein. Ich habe Hunger. Menschenhunger, auf Innigkeit. Die Haut ist trocken, sie brennt wie mein Verlangen. Die angekündigte Leere ist zu eng für meine Bedürfnisse. Verkabelt wie auf der Intensivstation. Zum Hin­hören gezwungen. Versunken im Drinnen. Unter großem Schutz kein Ort für das Gefühl. Mir nah, doch so fremd. Ich versuche mit ihr zu flüstern, in der Stille des kühlen Tages. Aber ich spüre sie nicht. Nichts ist geschehen. Nichts ist zu sehen. Die Unschärfe des Erinnerns. Die Angst vor der eigenen Geschichte.

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Die Sehnsucht dirigiert meine Gedanken. Manchmal würde ich sie gerne an die Hand nehmen und mit ihr an die Orte gehen, wo ich glücklich war. An den Ufern würden wir die Sinne verlieren, im dichten Wald einander lieben, zurück in der Bahn barfuß den Klängen der Musiker folgen. Im Restaurant meine Hände auf der Klaviatur, deine zwischen meinen. Sie wäre gestillt, die Sehnsucht. Für einen Augenblick. Es gibt ihn nicht mehr. Auch die Orte nicht. Geblieben sind Beziehungen, ihre Form veraltet. Hoch technisiert verbunden, sterben wir doch allein. Ohne Einladungen diskret verscharrt, beerdigt im Verborgenen.

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