Magazin #16 der Kulturstiftung des Bundes

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das magazin der kulturstiftung des bundes

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herbst/winter 2010

texte von petra gehring detlef hoffmann georg seeßlen joseph vogl ralf wagner hans zender u.a.

Das vorliegende Magazin bildet wieder ein breites Spektrum un serer Aktivitäten ab: Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt Projekte durch eine einmalige finanzielle Förderung (wie die Ausstellung Lawrence von Arabien , siehe S. 22 in diesem Magazin), sie initiiert längerfristige Programme (wie den Fonds Wanderlust , S. 26 ), unterstützt über einen mehrjährigen Zeitraum kulturelle Leuchttürme von internationaler Ausstrah lung (wie das Ensemble Modern , S. 29 ) und sie richtet im mer wieder eigene Veranstaltungen aus: Dazu gehört das Festival Die Untoten. Zwischen Life Science & Pulp Fiction , das vom 12. bis 14. Mai 2011 auf Kampnagel in Hamburg stattfindet. Die Veranstaltung versteht sich als eine Plattform, die in wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträgen auslotet, was im Zeitalter der Biotechnologien noch oder schon als (menschliches) Leben begriffen wird. Sie geht der Frage nach, in wiefern die herkömmlichen Grenzziehungen zwischen Tod und Leben, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, unscharf wer den. Zwischen Tod und Leben entstehen anthropologisch frag würdige und moralisch bedenkliche Grauzonen, die sich in den Wohlstandsregionen im Umgang mit Komapatienten, in den De batten um Sterbehilfe und Patientenverfügungen identifizieren.

Während Eingriffe zur Verbesserung des Lebens (von der Schön heitschirurgie über die medikamentöse Optimierung bis zum Einsatz von Prothesen) immer stärker in unseren Lebensalltag vor dringen, nimmt gleichzeitig das Unbehagen zu. Mit den techno logischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung oder -erzeu gung könnte eine der letzten kulturgeschichtlichen Bastionen geschleift werden, nämlich die Auffassung, dass Leben und Tod letztlich unverfügbare Ereignisse seien. Wir möchten mit unserer Veranstaltung einen Dialog zwischen Experten und Interes sierten ermöglichen, ob die Entstehung des Lebens und der Tod immer mehr zu ›Projekten‹ werden, die individuelle Entschei dungen erfordern und bestimmte gesellschaftliche Rahmenbe dingungen brauchen. Inwieweit verändert ›künstlich‹, nämlich biotechnologisch erzeugtes, medizintechnisch perfektioniertes oder maschinengestütztes verlängertes Leben unsere Vorstellun gen von Lebendigkeit und Lebensqualität? Die neuen Unsicher heiten und unbequemen Fragestellungen könnten Phantasien von Zwischenwesen, Zwittern zwischen Mensch und Maschine, Wesen mit eingeschränkter Vitalität, Tür und Tor geöffnet haben. Insofern verwundert es nicht, dass in künstlerischen und pop kulturellen Produktionen vermehrt Ängste und Utopien über

menschliche Existenzformen zum Ausdruck kommen. Wo das wissenschaftliche Wissen keine hinreichenden Antworten auf moralische und gesellschaftspolitische Fragen gibt, tauchen Er zählungen, Bilder und Mythen auf. Die populäre Kultur hat vor allem in Film und Literatur mit ihren Untoten-Gestalten wie Zombies oder Vampiren Phantasien über anthropologische Grundfragen entwickelt, noch bevor die Problematisierung eines ›natürlichen Lebens‹ in Wissenschaft, Politik und Rechtsprechung zum Thema wurde.

Wir haben in diesem Heft sechs Autoren aus Wissenschaft und Kultur gebeten, sich mit den biotechnologischen Entwicklun gen und ihren Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von Le ben und Tod auseinanderzusetzen. Auch die Bildstrecke ist die sem Thema gewidmet. Wir haben uns diesmal für einen Comic entschieden, ein angestammtes Genre für ›untote‹ Gestalten. Für die Textvorlage konnten wir den Schriftsteller Dietmar Dath gewinnen, der die Motive des Untotseins in eine historische Ab folge bringt.

untote georg seeßlen das untote, und wie man dorthin gelangt 4 petra gehring leben frisst tod? 9 interview mit ralf wagner leben bauen 12 heiko stoff die schlurfenden massen 15 marcus stiglegger wenn in der hölle kein platz mehr ist... 18 gespräch mit joseph vogl weniger leben als gewinn 20

ausstellung detlef hoffmann lawrence von arabien. genese eines mythos 22 fonds wanderlust renate klett grenzerfahrungen 26 ensemble modern hans zender glückwunsch 29 meldungen 0 neue projekte 2 gremien + impressum 5

Christopher Tauber (*1979 ), in der Comicszene unter dem Namen »Piwi« bekannt, ist Illustrator und Co-Verleger des Independent Comic-Verlages Zwerchfell. Piwi zeichnete den Comic in diesem Magazin nach der Textvorlage Die Kadaverwandten des Schriftstellers Dietmar Dath (*1970 ), den der SPIEGEL als »Marxisten mit den Interessenschwerpunkten Zombies, Gentechnik und Heavy Metal« (unzureichend) charakterisierte. Wahr ist, dass in Daths Romanen immer wieder untote Fabelwesen (z.B. Die Abschaffung der Arten , Suhrkamp, FfM 2008 ) und Zombies vorkommen ( Für immer in Ho nig , Implex Verlag, Berlin 2005, Die salzweissen Augen: Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit , Suhrkamp 2005). Auch die Technik(kritik) ist ein wiederkehrendes Thema (z.B. Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift , Suhrkamp 2008 ). Dietmar Dath und Piwi haben schon einmal zusammengearbeitet: Piwi illustrierte Daths politisches Bilderbuch Deutschland macht dicht , Suhrkamp 2009. Im September 2010 erschien von Dietmar Dath Eisenmäuse im Halblizel-Verlag, Lohmar.

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editorial
Hortensia Völckers / Vorstand KulturAlexander Farenholtz stiftung des Bundes


das untote, und wie man dor thin gelangt

Inwieweit das mit biotechnologischen Mitteln verbesserte oder verlängerte Le ben als ein umfassend menschliches zu betrachten ist, gehört zu den neuen Unsicherheiten, mit denen sich die Ethik und die Künste beschäftigen. Mit den Fortschritten in Wissenschaft und Technik werden die Grenzziehungen zwischen Leben und Tod, Kultur und Natur immer komplizierter, und aus den anthropo logischen Grauzonen rücken die Untoten in unsere gesellschaftliche Wirklich keit vor. Georg Seeßlen betreibt Feldforschung in den Zonen des Untodes.

Ein Wort hat denkwürdige Konjunktur: untot. Es drückt ein weites, eigenartiges Empfinden der Zeit aus. Da-Sein und doch nicht Da-Sein; Dasein und doch kein Dasein. Man denkt an Gespens ter, Zombies, Retortenwesen oder radikal Entwürdigte, an Men schen jenseits ihrer Geschichte und jenseits ihrer, nun ja, Menschlichkeit, an RoboCops und Pilleneinwerfer, Vampire und Junkies, an Bürokraten und Fließbandarbeiter, Soldatenmaschinen und Maschinensoldaten, Hirndoping und Flatliners. Leute, die sich halb zu Tode schuften, und Leute, die sich halb zu Tode amüsieren. An zum Tode Verurteilte, die jahrelang auf die Vollstreckung warten, Dead Man Walking . Untot! Und immer denkt man, ein ganz klein wenig, an sich selber: Bin ich/ist Ich schon kontaminiert vom Untod?

Das Untote bezeichnet gerade eine neu entdeckte Unschärfe. Definiere ›Leben‹! Definiere ›Tod‹! Das war immer schwer und wird noch schwieriger. Nein, treibe dich stattdessen in der UntotenZone herum, bildlich, semiotisch, ungreifbar, aber fest entschlossen, wenigstens dieser Zukunft nicht auszuweichen: Da entsteht etwas zwischen dem gewohnten Leben und dem nach wie vor skandalösen Tod; verlängertes Leben, verändertes, verbessertes, enteignetes, reduziertes Leben, oder eben anders herum: verlän gertes Sterben, philosophische Zombies, Wesen, denen ›ihr eige ner Tod‹, der ihnen versprochen war (als Todespoesie immerhin), verweigert wurde, der Kino-Spruch von einem, der tot ist, aber es noch nicht weiß, wiedergeboren als Maschine, als Monster, als Mutant, als genau, Untoter.

So rätselhaft die Sache selbst ist, diese sich ausbreitende Zone ei ner Ungewissheit, die man sich auf die unterschiedlichste Weise, vom Diskurs zum Bild, von der ›Erprobung‹ zum Modell, irgend wie vorzustellen versucht, so deutlich sind die verschiedenen ge sellschaftlichen Kräfte, die sich ihr in ihrem jeweiligen Interesse und mit den jeweiligen Mitteln nähern und dabei auch in direkte und indirekte Wechselwirkungen treten.

Nicht, dass es einen Bereich zwischen Leben und Tod nicht schon immer gegeben hätte. Er mag sogar, genauer besehen, der Ursprung der Kulte und Kulturen, der Religion und der Philoso phie, der Kunst und des Karnevals sein. Wie auch wäre es anders möglich bei einem Wesen, das in dem Augenblick, da es (im anderen) erkennt, dass es sterben muss, zugleich erkennt, dass es nicht sterben will? »Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm zwei Hände Erde gibt«, sagt Brecht. Und fast ein jeder wünscht, die zwei Hände Erde nicht geben zu müssen. Wohin gehen die Toten? In eine bessere Welt, ins Paradies, in die ewigen Jagdgrün de vielleicht. Wenn man sie richtig behandelt, wenn ihnen Re spekt, Angedenken und Wegzehrung gegeben wird. Doch wenn dies alles nicht geschieht? (Und kann es überhaupt noch gesche hen in einer Welt, in der nichts heilig ist und alles Profit und En tertainment?) Manchmal kommen sie wieder…

Die Doppelstrategie, den Tod kulturell zu akzeptieren und ihn technisch zu bekämpfen, hat sich lange bewährt, vor allem dort, wo Kultur und Technik in eine Balance gebracht wer den. An den Brüchen von Kultur und Technik hingegen bricht die eine oder andere Panik aus; das eine Mal lähmt ein Totenkult (oder gar ein Todeskult), das andere Mal führt pure Technik zu bizarren Experimenten.

So erscheinen die Untoten offenbar als Symptome des Bruchs zwischen Totenkult und Lebenstechnik. Es fällt uns nicht schwer zu behaupten, unsere derzeitige Form der Besessenheit von Un toten, Posthumanen und Transhumanen sei nicht nur der näher rückenden technischen Produzierbarkeit der früheren ›Wunder‹ geschuldet, sondern vor allem ein Symptom der radikalen Vor herrschaft ökonomisierter Naturwissenschaft und Technologie gegenüber Philosophie und Kultur. Dauernd wird Technologie und Information »revolutioniert«, und am Elend von Alltag und Geschichte ändert sich so gut wie nichts. (Wer weiß, vielleicht wollen wir auch deshalb länger leben, möglichst unsterblich wer den, um damit die Chance zu erhöhen, dieses Jammertal des Boring Age zu überleben. Fatalerweise scheinen wir es aber gerade durch diese Fixiertheit lieber am neuen Menschen basteln als dem alten Bewusstsein für sich und seine Geschichte abzu verlangen — zu verlängern.) Frankenstein flieht vor der Lange weile; das klappt nie und nimmer. Wir können nicht sagen, wo das Ausdifferenzieren un serer Gesellschaften in den Zerfall übergeht, wir wissen nur, dass sich an eben jenem Übergang das Untote ausbreitet. Es bildet in des nicht nur das Angstbild aus, es will, ganz im Gegenteil, erst einmal heilen. Das technologisch erzeugte und erhaltene Leben ist in aller Regel erst einmal Reaktion auf ein physisches Leiden und die Todesdrohung, in zweiter Linie auf ein psychisches (ich kann meine eigene Erscheinung nicht mehr ertragen; wenn ich kein Kind, nicht das richtige Kind bekomme, zerbreche ich end gültig; ich halte die Belastungen meines Berufes, meiner Karrie re anders nicht aus; ich muss irgendwo, und sei’s am eigenen Kör per, das eigene verwirklichen, das mir der Rest der Welt nicht zu billigt). Aber nie taucht dieses Untote als Lösung allein auf, im mer ist es sogleich wieder Problem.

chende Fähigkeiten des Gehirns verfügen, um als »normale« Menschen zu leben. Menschen, die aufgrund einer Demenzkrank heit ihre eigene Geschichte und Umwelt verloren haben. Diese Menschen, die mit dem Kopf fort und mit dem Körper da sind, erzeugen die furchtbarsten individuellen Konflikte: Wie mit Wesen leben, die nicht mit uns leben? Wird, was »Mensch« nicht mehr richtig sein kann, zum Tier, oder noch eher zu einem »Pflan zenwesen, zu einem »Ding«, zu einem Teil der Maschine, an die es angeschlossen werden muss, weil dieses so oder so lebende Sys tem sich allein nicht erhalten kann? Die Maschine abschalten, zum richtigen Augenblick, das verlangt die kollektive Phantasie. Jede Entscheidung verlangt eine ungeheuerliche moralische und philosophische Anstrengung, das Leben und sein Wert müs sen neu definiert werden (und nicht nur in Deutschland muss man in den historischen Abgrund zu jenen sehen, die bedenkenlos »lebensunwertes Leben« vernichteten). Von solchen Hot Spots der offensichtlichen Trennung von Körper und Geist ver breitet sich, weit jenseits persönlicher Verantwortung und Tragö die, der Diskurs des Untodes in die Gesellschaft.

1Von solchem Unheimlichen, vom Leben, das an unserem nicht mehr teilhaben kann, raunt es dann auch in der Öffentlichkeit. Einige Beispiele aus den vermischten Seiten unserer Gazetten: Menschen, die »im Koma liegen« und von denen niemand sagen kann, ob sie wieder »erwachen« können, ob sie »etwas« von der Welt um sie wahrnehmen oder ob sie eine Innenwelt ausbilden. Menschen, die durch Krankheit oder Unfall über nicht ausrei

2Zum zweiten geht es um Menschen, die sich, zum Beispiel durch plastische Chirurgie, so sehr verändert haben, dass weder sie selbst noch ihre Umwelt sagen könnte, sie seien im Wesent lichen noch sie selbst. Die Verwandlungen von schwarz in weiß, alt in jung, Mann in Frau etc. sind da eher Vorübungen wie die Verwandlung nach einem Schönheitsideal (die Verwandlung in das Bild), die Verwandlung nach einem Effizienz-Grundsatz (die Erzeugung eines ›künstlichen‹ Supersportlers), die Auslage rung von ›Entscheidungen‹ (Mikrochips im Gehirn, ›intelligente‹ Prothesen, programmierte Drogierung etc.). Es ist die genau ent gegengesetzte Frage: Geht es im ersten Fall um die unnatür liche Verlängerung des Sterbens so hier um ein unnatürlich getuntes Leben. Fundamentalisten mögen fragen: Darf man das? Uns normalen Menschen gehen angesichts der »enhanced humans« andere Fragen im Kopf herum: Wie kommuniziere ich eigentlich mit einem Menschen, der so sichtbar Erscheinung und Sein getrennt hat? Der, um etwas sehr Einfaches zu erwäh nen, durch die mechanische, chemische oder organische Verän derung seines Körpers etwas kann, was weder in seinem Kopf noch in seiner Biographie »vorgezeichnet« ist? Eine »Sexbombe«, in der die Seele einer alten Frau wohnt; ein Politiker, der das Dau ergrinsen nicht einmal sein lassen kann, wenn die Kameras abge schaltet sind, weil es ihm wahrhaft eingepflanzt wurde; eine Frau, die sich mit Hilfe ihrer Ärzte alle Nase lang »neu erfindet«. Ein schleichender Untod ist dies: Menschen (auch das kennen wir aus dem Horrorfilm), deren körperliche Erscheinung von einem

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Inneren nichts mehr preisgibt, eine Maske, die nicht mehr abge nommen werden kann, (schlimmer noch: man weiß nicht mehr, was Maske und was Gesicht ist).

Statt durch eine sicht- und spürbare Veränderung des Körpers (die ohne Veränderung der Seele nicht stattfinden kann, wenn man nur Schmerz als Einschreiben des Körperlichen ins Seeli sche begreift) das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz (und damit wohl auch Hierarchie, Ordnung und sexuelle Ökonomie) zu regeln, geht es nun, buchstäblich, um Deregulation, Privatisierung, und auch für den Körper soll gelten: Das regelt der Markt. Der Versuch, am Körper Bedeutungen und Fähigkeiten zu erzeugen, die es ›im Leben‹ nicht gab (und schon gar nicht in der Arbeit und in der Liebe).

Wo fängt das an? Im kleinen Corriger la fortune der Kosmetik, im Fitnessstudio, bei der Brustvergrößerung und Botox für den Hausgebrauch? Bei der mehr oder weniger lustvollen Scarifica tion des Körpers durch Piercing und Tattoos? Beim Doping von Körper und Geist (unfair!), bei der Verschmelzung des Körpers mit dem Gerät, das eine nur noch für das andere da und ohne einander nicht mehr zu denken, bei der Prothese, die, weit jen seits von Captain Hooks Enterhaken und Ahabs Bein aus Wal knochen, mitdenkt und besser läuft als geschmiert?

Offensichtlich gibt es einen Punkt, in dem die körperlich-tech nische Verstellung vom Mittel zum Zweck wird, und die Vortäu schung durch solche Veränderungen nicht mehr den anderen, sondern dem Subjekt selber gilt: Man will nicht mehr als jemand an deres gelten, man will jemand anderes werden, was die Eingriffe in die Semiotik und Mechanik des Körpers immerhin unum kehrbar macht. Anders als für den Mann mit der Maske gibt es für den Untoten keinen Ort der Zuflucht, und einem Zombie ist verwehrt, was noch der furchtbarste Alien besitzt: Zuhause. Ru helos ist alles Untote, selbst wenn es gefesselt ist, im Inneren wie im Äußeren. Es ist, als müsse sich der Mensch angesichts des Todes entscheiden, zu sterben oder nie mehr heimzukommen. Drehen wir den Spieß noch einmal um: Die Voraussetzung für den Untod ist die Heimatlosigkeit des Menschen.

Der Eingriff ins Körperliche, so will es die Mythologie (und so leicht, Fortschritt hin oder her, treten wir aus dem Mythos nicht heraus, wie wir uns unter die Messer der plastischen Chirurgie begeben), entspricht einem Verlust an Seele, oder, säkularer ge sprochen, an Identität. Es ist die Geschichte vom Bildnis des Dorian Gray, rückwärts erzählt; als müsste die äußere Schönheit oder die mechanische Effizienz mit einer inneren Leere erkauft werden. So viel Angst und Reaktion in diesem Mythos vom Ver rat an der menschlichen Ganzheit auch stecken mag, für die soziale Praxis bleibt die Frage: Als wer oder was betritt dieser veränderte, verbesserte und entganzheitlichte Mensch (der neu erfundene) den öffentlichen Raum? (Und wieder ein furchtbarer Verdacht zur Ausbreitung des Untoten in der Gesellschaft: Der ›leicht‹ posthumane Mensch kann den öffentlichen Raum gar nicht mehr betreten, sein Lebensraum beschränkt sich auf das Medium und das Spektakel. Dieser ›ein bisschen‹ untote Mensch lebt nur im Spektakel und in den Medien, er kann daraus, wenn man so will, nicht mehr zu sich selbst zurückkehren.) Problema tisch also wird diese allgemeine, konventionelle und weitläufig kontrollierte Posthumanisierung, wenn sie die Sphären der Kunst, der Politik, des Sports und der Unterhaltung verlässt. Kann man sich für den Alltag neu erfinden, oder wird, umge kehrt, durch solche Zurichtung des Körpers der Alltag selber verspektakelt? (Kann, nur zum Beispiel, dann der DiscounterManager verlangen, dass ›seine‹ Kassiererinnen sich in kunden freundliche Barbie-Dolls verwandeln, die durch künstliche Ge lenke nie ermüden und auch bei der nächsten Lohnkürzung ihr körper-eingeschriebenes Lächeln nicht verlieren? Feuchter Traum des Neoliberalismus; wir arbeiten dran.)

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Nach den Menschen, die wir nicht sterben lassen, und nach den Menschen, die sich verbessern und neu erfinden, geht es um jene sozialen Untoten, die existieren, ohne von der Gesellschaft einen Platz dafür zugeordnet zu bekommen (die überflüssigen Menschen, von denen es allenthalben raunt) oder die ihren Platz durch eigene Schuld verloren haben (Junkies, Fernsehsüchtige, Workaholics und andere, die das Klassenziel des ›reichen und er füllten Lebens‹ so gründlich verfehlt haben, dass sie von ihren Mitmenschen oft als Zombies bezeichnet werden). Hinter dem Zerfall die einen, die das Vorbild für die Zombies der HorrorIkonographie abgeben mögen, hinter dem Funktionieren die an deren, in deren Erscheinung sich jene Leere auszubreiten scheint, die die mittelständischen ›verbesserten‹ Menschen in ihr Inneres verbannen mussten. Die Verhältnisse von Erscheinung und We sen drehen sich hier noch einmal um, der verfallende Körper eines nächtlichen Obdachlosen birgt die Vita eines Universitäts professors, ein Scheidungsdrama, eine Krankheitsgeschichte, der medizinisch nicht adäquat begegnet wurde; hinter dem lee ren Körper des Bankers verbirgt sich eine dramatische Familien geschichte, eine große Kränkung vielleicht, eine Entseelung, ein Missbrauch. (Wir bewegen uns, natürlich, in einer Sphäre der Klischees und der Legenden, wie stets auf der Flucht vor schierer Banalität. Aber wir wussten von Beginn an, dass es um Bilder und Erzählungen geht; für die ›harte‹ Wissenschaft macht das Wort untot in seiner gezielten Unschärfe ja keinen Sinn.)

Der Bereich des Untodes aber breitet sich auch jenseits solcher Erscheinungsformen eines unvollständigen, gespaltenen oder maschinisierten Lebens aus. Eine mediale Doppelexistenz gehört zur Lebenspraxis: Man ist imaginäres Mitglied einer Soap OperaFamilie, man sucht ein ›erfülltes und reiches Leben‹ im Second Life , wo die oben beschriebene, leicht posthumane Zurichtung bereits digitale Vor-Schrift ist, man beginnt ein ›wahres Leben‹ jenseits des Alltags in Performance und Extremsport und, anders als das privilegierte Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft von einst, lernt man die Sphären sorgfältig voneinander zu scheiden: Hier bin ich ein anderer als dort. Die Gegenwart des Fernen (im Fernsehen, zum Beispiel) und die Entrückung des Nahen und Nachbarschaftlichen, kurzum ein Mangel an sozialer Praxis, der durch mehr oder weniger künstliche Parallelwelten ausgeglichen werden soll, erscheint als nächster Verrat am Ideal der Ganz heit des menschlichen Lebens oder des im allgemeinen so be nannten Subjekts (lassen wir philosophisch-theoretisches Fein-Tuning des Begriffs einmal beiseite). In den einzelnen Sphären kann man nur leben, wenn man die Kunst beherrscht, nicht ganz da zu sein; der clevere Mensch unserer Zeit und un seres Raumes richtet sich weder an der Konzentration noch an der Kohärenz aus.

Wir ahnen möglicherweise schon bei solchen ersten, vorsichtigen und äußeren Annäherungen, noch weit vom »heißen Kern« des Diskurses entfernt, dass sich in der Ausbreitung von Untot als Begriff Empfinden, Gerücht, Mythos, Karikatur, Zuschrei bung, Kränkung usw. ein anderes, übergeordnetes Projekt zeigt: die Ablösung des aufklärerischen (und, gewiss doch, dann: romantischen) Ideals der Ganzheit in Subjekt und Identität. Um den neuen Menschen (den neu erfundenen Menschen/den sich neu erfindenden Menschen) zu erzeugen, geht dieses Projekt nicht von der Verwandlung des ganzen subjekthaften und iden tischen Menschen aus (wie es freundliche Utopisten noch zu tun pflegten), sondern von seiner Zerlegung und Neu-Zusammen setzung.

Das Untote als utopisch/apokalyptischer Ort erscheint nun als kommunizierendes Element in einem System, das wir ohne wei teres auch als Zivilisationsprozess ansehen können (die Angleichung des Menschen und seiner Umwelt mit dem Ziel, ein-

ander »irgendwann« einmal vollkommen zu entsprechen: Was Marx als Aneignung und Vermenschlichung der Natur angese hen hat, und Kant als Erkenntnis des Menschen zugleich seiner selbst und seiner Umwelt, das soll nun technologisch vollbracht werden. Man muss es nicht erarbeiten, es wird mit einem ge macht.)

Neben den medizinischen und sozialen Formen des Untoten gibt es ein weites Feld, dem Tod zu entgehen: Lebensverlänge rung und -verbesserung mit allen Mitteln, Anti-Aging, immer neue Erkenntnisse (und damit immer neue Kulte) zum ›gesun den Leben‹ (An Apple a Day keeps the Doctor away, vor allem wenn man dazu ein wenig Bewegung in frischer Luft betreibt, das Rauchen und den Alkohol vermeidet und, sagen wir mal, durch Simplifying oder positives Denken den allfälligen Stress be wältigt), jene »demografische Entwicklung«, die den Versiche rungsmathematiker und den Steuereintreiber verzweifeln lässt: Wir leben einfach zu lange! Und wir leben immer länger! Aber wozu?

Dass das Glück der Länger-Lebigkeit (passende Bilder dazu bie ten Fernsehen und Werbung: rüstige Rentner, gute Kunden und eifrige Leser der Apotheken-Rundschau ) zugleich ein ökonomisches Problem ist, geht an die Substanz der post-bürger lichen Gesellschaft und zerreißt, nach dem identischen Subjekt mit der Solidargemeinschaft auch die Genealogie (nach dem die Verehrung von Vater und Mutter, der Ahnen überhaupt, bereits in der bürgerlichen Gesellschaft spürbar nachließ und durch künstliche Kulte ersetzt werden musste); die Genera tionen empfinden sich gegenseitig als Untote, hier die alten Zau sel, die nicht sterben wollen und von »unserem Geld« weiterle ben, ohne Nutzen zu bringen, dort die von Sex, Drogen und Rock’n’Roll (oder was da gerade in Mode sein mag) durchdrun genen besinnungs- und verantwortungslosen Mitglieder der ent körperten und überkörperten Spaßgesellschaft). Kultiviertere Menschen zeigen statt Hass und Häme aufeinander Mitleid und Ein fühlung, was die Sache aber keineswegs viel besser macht: In die ser neuerlichen Spaltung von alt und jung und in einer neuer lichen Hysterisierung des Jung-Seins spiegeln sich verschiedene Formen des unvollkommenen, sinnlosen Lebens ineinander. Grufties, Junkies, Workaholics und Karrieristen finden sich zum Unto ten-Tanz aber ohne anfassen. So ist untot nicht nur ein inneres Empfinden und ein äußeres Projekt, sondern auch eine Form der distanzierenden Denunziation. Im Regelfall sind die Zombies immer die anderen.

4Ein weiterer Bereich des Untodes ist gebildet aus dem Maquis ei ner utopisch-ideologischen Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Propheten, die das posthumane Leben (unsterblich nahezu, nicht leidend, nicht verlustreich) oder das transhumane Leben (das Weiterleben in anderer Form, die Entkopplung der Software Mensch von der Hardware Körper) in den Diskurs des bürgerlichen oder post-bürgerlichen Progressismus einschrieben. Das klingt, zum Beispiel bei Ray Kurzweil, eigentlich ganz einfach: »Schon mit dem heutigen Wissen können selbst Angehörige meiner Generation [da war Kurzweil gerade sechzig d. Verf.] in fünfzehn Jahren noch bei guter Verfassung sein. Ich nenne das Brücke eins. Danach wird es möglich werden, unsere Biochemie zu reprogrammieren und unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu modifizieren, das ist Brücke zwei. Dies wird uns wiederum lange genug leben lassen, um Brücke drei zu erreichen. Und dann werden uns die Nanotechnologie und Na noroboter in unserem Körper dazu befähigen, ewig zu leben«.

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Die Life Sciences müssen sich, ethisch befragt, mit ganz anderen Formen jener Zonen zwischen Leben und Nicht-Leben beschäf tigen als wir es schon im Alltag tun: Wie viel Künstliches darf ein Leben enthalten (und ist, was Craig Venter mit seiner Zelle und einem Computerprogramm erzeugt, schon künstliches Leben?); wie weit darf die Trennung von Hardware und Software gehen (darf also ›Software‹ des Lebens beliebig gespeichert, sortiert und kombiniert werden?), wann ist ein menschliches Leben entstanden, das nicht mehr »getötet« werden darf? Arbeiten wir bereits an einer Psychologie des Klons? Werden die Frozen Angels einmal über uns kommen? Und was vermag Synthetische Biologie?

Das doppelte Untot-Werden, von dem wir ausgegangen sind, als Verlängerung des Lebens in die todesnahen Sphären hinein ei nerseits (untote Gewinner) und als Vorgriff des (sozialen, geisti gen, schließlich organischen) Sterbens in die ›eigentlich‹ lebens vollen Sphären (untote Verlierer), nimmt in diesem Bereich der Life Sciences eine ganz andere Position ein. Zustand, Empfin dung oder Zuschreibung des Untodes ist nun eine Zone, durch die man hindurch muss, um zum (mehr oder weniger) ewigen Leben zu gelangen, also nicht mehr Symptom und Entwicklung, das Untote ist hier vielmehr selber der Experimentier- und Schaf fensraum des Nach-Menschen. Und so rational und luzide so wohl der Ausgangspunkt (leidbehaftetes, erheblich verbesserungsbedürftiges menschliches Leben) als auch das Ziel (einfach super leben) erscheinen mögen, so mysteriös und gefährlich bleibt doch diese zu durchquerende Zone, keine Black Box (radikale aber hoch begrenzte Finsternis), sondern in der Tat Twilight, durchzo gen von halbem Wissen, Spekulationen, Phantasmen, Rationalisierungen und Karnevalisierungen, um nur die freundlichsten der Gespenster in der Untoten-Zone zu nennen. Und noch zum Harmlosesten (auf den ersten Blick), was da geschehen könnte und was wir uns vorstellen können, zählt eine radikale und mög licherweise nicht gewaltfreie Komplexreduzierung des menschlichen Lebens. Muss, einfaches Beispiel, der neue Mensch nach seiner Wanderung durch das Tal der Untoten, jenen alles heilenden und alles erkennenden Nanorobotern, von denen Ray Kurzweil träumt, einen Teil seines Denkens abtreten? Was ver liert ein Mensch an Wahrnehmung und Erkenntnis, der nicht mehr über den Schmerz mit der Welt verbunden ist? Was ge schieht, wenn ›vereinfachte‹ Menschen auf eine komplexe Welt treffen so dass wir, nicht nur in Science Fiction-Romanen da von träumen müssen, die Roboter, Cyborgs und Androiden müssten den Menschen nicht nur das Denken, sondern auch das Fühlen abnehmen, eben alles, was zur Komplexität gehört? Käme also beim ewig lebenden, extrem komplexreduzierten Post-Menschen so etwas wie ein ewiger Säugling heraus, genährt an den virtuellen Brüsten digitaler Ammen? Oder ein mit Wet ware verbundener mechanischer Arbeitssklave?

Gewiss schlägt die Phantasie da wieder einmal ihre Blasen, wie bei jeder Twilight Zone des Fortschritts allesamt auch »große Kränkungen«, vom Kopernikus über Darwin bis zu Sigmund Freud: die Vertreibung des Menschen aus seinem Welt-Zentrum und am Ende aus sich selbst, nach Sonnensystem, Evolution, und Psychoanalyse nun vielleicht die Gattung selber: Den Menschen gibt es nicht mehr, und wenn es ihn nicht mehr gibt, so viel negative Dialektik ist uns gegeben, dann hat es ihn wo möglich nie gegeben. Unsere »Katastrophenphantasie« regt sich nicht umsonst (und nein, sie wird auch diesmal nicht dazu die nen, eine Katastrophe durch ihr »Ausmalen« zu verhindern). Es ist dieses Ineinander, das Wechselspiel von scharfen und un scharfen Diskursen, von Modellen und Traumbildern, von Zah len und Blasen, was das Untote der gesellschaftlichen Bearbeitung durch das öffnet, was Jacques Rancière die »Softethik« nennt: ei

ne Ethik, die sich weniger von Projekten und Positionen bestim men lässt, als durch das Ad hoc ständiger Reparaturen und Nach justierungen. Softethik versucht unentwegt entstandene Brüche zu schließen, Löcher zu stopfen und sich im Übrigen mit dem Faktischen (oder wenigstens mit dem in den Medien Abgebildeten) zu arrangieren.

Diese vier Bereiche des Untodes stehen einer wahrhaft unheim lichen Produktion der populären Kultur an Bildern und Erzäh lungen gegenüber, die zugleich in archaische Tiefen reichen, in Religion, kindliche und animistische Prä-Religion und semiotisch entfesselte Post-Religion, und die sich an den geheimen Machbarkeiten von Medizin, Wissenschaft, Informatik und Technologie festmacht. »Wirklichkeitspartikel« durchziehen so sehr die Pro duktion von Bildern und Erzählungen auf dem Traummarkt, wie umgekehrt Fiktionen und Bilder in den Laboratorien der Life Sciences spuken. Wenn Produzenten ihre heftigen Untoten-Träume in der Unterhaltungsindustrie rechtfertigen müssen, dann verweisen sie auf das eigene Produkt als Metapher realer Wissen schaft und Technologie; wenn sich Vertreter der Informatik, der synthetischen Biologie, der Life Sciences und verwandter Dis kurse öffentlich (das heißt: medial) zu Wort melden, dann benutzen sie Sprache und Bilder der populären Kultur (was man chen Ortes den Eindruck verstärkt, es handele sich um »spielende Kinder«, die sich als Sandkasten nichts geringeres als ›unser Leben‹ ausgesucht haben).

Hier treffen sich die Effizienz der ökonomisierten Wissenschaft und das Unterhaltungsinteresse der Medien: Wissenschaft auf dem Markt muss »marktschreierisch« genug sein, um »weltbewe gende« Dinge zu versprechen (nur so kann sich die Forschung fi nanzieren: Das Untote kann nur für den Markt produziert wer den), und um in die Medien zu kommen, muss Wissenschaft Sprache und Bilder aus der Unterhaltung (Marktgeschrei und Mythos) übernehmen. So entsteht ein Paradoxon um die Zone des Unbekannten in den Life Sciences: Was hier geschieht, muss zugleich verborgen und bedeutsam sein, zugleich irrational und rational, zugleich normal und phantastisch, zugleich Geheim wissen und Markschreierei. (Was wäre, wenn nach dem Durch gang durch jene Zone des Untodes der Mensch nicht mehr der selbe wäre, sondern auch seine Sprache nicht mehr, also jene, die er benutzt, und jene, die man auf ihn anwendet: Der Zombie ist in erster Linie der sprachlose Mensch und dann das Wesen, auf das man all die wertenden Begriffe des Menschen nicht anwen den kann, kein Toter, aber ein Gestorbener, kein Böser, aber ein Gefährlicher, einer, der nichts hat und alles ist). Einmal mehr: Der diskursive Brei, der angerichtet wurde, ist die Voraussetzung für die Aktivierung der Softethik in der neoliberalen Gesell schaft; sie wird mit dem Untoten in dieser oder jener Form zu recht kommen, weil sie zugleich versteht und nicht versteht, weil sie die Kunst beherrscht, ihr Nicht-Wissen (und ihr Nicht-Wis sen-Wollen) zu organisieren.

Alledem steht eine soziale und kulturelle Praxis gegenüber, die dem Phantasieren im Bereich des Untodes Nahrung gibt, der von einer ganz anderen Seite real erzeugt wird. Wir produzie ren einerseits ein wechselseitiges Vergessen, den Verlust jener so zialen Kontakte und der öffentlichen Räume, an denen sich das Versprechen der Aufklärung erfüllen könnte, sich zugleich selbst zu erkennen und in die Gemeinschaft zu bewegen, eine Kohä renz von Ich und Welt zu erzeugen durch Arbeit, Interesse und Intelligenz. Und zum zweiten eine »Schere« zwischen arm und reich, wissend und dumm, bedeutend und überflüssig, die eine Art des doppelten Untodes erzeugt: Der überlebende Reiche, der seinen Körper und seinen Geist für den Genuss erhält, den Ge nuss immerhin seines Reichtums und seiner Macht, und der »un

terlebende« Arme, der nicht sterben darf, solange sein Körper noch für irgendeine Form des Profits nützlich sein könnte, als Arbeitsmaschine, als Zwangsprostituierte, als Ersatzteillager oder als Konsument im Staatsdienst etc. Denn ist nicht das Wirtschafts system, in dem wir leben, paradoxerweise von etwas Untotem ›beseelt‹, von dem wir so wenig wissen und so viel phantasieren wie von menschlichen oder post- und transmenschlichen Untoten, nämlich vom Geld?

Wir werden versuchen müssen, das alles zusammen zu denken oder sogar zusammenzudenken. Von einer Zelle im Labor eines Wissenschaftlers, aus der vielleicht einmal ein Mensch oder et was ganz anderes wird, bis zu einem drastischen Zombiefilm; von der Frage nach dem Menschen ohne Gedächtnis und ohne Bewusstsein bis zur Enhanced Reality, mit einem Blick, der sich aus Wirklichkeit und Fiktion, Traum und Wahrnehmung zusam mensetzt, in perfekter Stereoskopie.

Die Felder für die Diskurse sind, wie man sieht, nach wie vor viel fältiger, als dass sie je in einer einzigen Theorie des Un todes gefasst werden könnten. Doch verbietet es ein solches kritisches Design, in aller Demut, auf die Zumutungen der Un gewissheit mit dem hilflosen Versuch zu reagieren, »Grenzen zu ziehen«, anhand eingeschlagener Pflöcke von Werten (die die einen haben und die anderen eben nicht), kurzum, auf die Ritua le der Softethik hereinzufallen. An der Auseinandersetzung mit diesem neuen Diskurs müssen auch die Sinn-, Bild-, Erzähl- und Rationalisierungsmaschinen, die daran beteiligt sind, einer kri tischen (Selbst-)Prüfung unterzogen werden. Das Untote näm lich, schon vor und dann während es technologisch produziert wird, stellt so ziemlich alle Fragen, mit denen wir uns seit ein paar tausend Jahren herumschlagen, noch einmal neu. Schon dafür müssten wir die Zombies lieben.

Georg Seeßlen , *1948, studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und arbeitet als freier Autor und Filmkritiker. Im Herbst 2010 erscheint Blödmaschinen — Die Fabrikation der Stupidität von Georg Seeßlen und Markus Metz im Suhrkamp Verlag.

die untoten. life sciences & pulp fiction kongress und inszenierung 12 14. Mai 2011. Kampnagel Hamburg. Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes in Zusammenarbeit mit Kampnagel Hamburg.

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leben frisst tod?

sterben in einer epoche des lebens

Wie haben sich die Vorstellungen von Leben und Tod in der Moderne entwi ckelt und mit welchen neuen Leitideen und Mythen sind wir derzeit konfron tiert? Die Philosophin Petra Gehring beschreibt Verschiebungen unserer Moral und erklärt, warum die Untoten in der Ethik eine Konjunktur erleben.

von petra gehring

Ist die Moderne das Zeitalter von Techniken, die den Tod immer weiter hinausschieben, das Zeitalter der Unsichtbarmachung und Entwertung des Todes und zugleich der Aufwertung, ›Entschlüs selung‹ und Technisierung des Lebens? Wird das Sterben verleugnet eine bloße Vernichtung von Leben, die man zweckmäßig oder unnötig finden kann oder wird es nicht doch eher als ›zum Leben gehörig‹ geradezu eine Sache der Selbstverwirkli chung und mittels neuer, moderner Todesbilder romantisiert? Todesverdrängung, Formlosigkeit des Sterbens, biotechnische Szenarien einer Abschaffung des Todes einerseits, Sterbehilfe, Right do die, massenmediale Inszenierungen von Todesangst, Leichen, Trauer andererseits.

Der Umgang mit dem Sterben scheint widersprüchlich gewor den. Eigenartig blass stehen dem alten Namen Tod profane For men von ›zu Ende gehendem Leben‹ gegenüber. Dennoch ist das Sterben nicht unbedingt belanglos, sondern auch ungreifbar und unheimlich geworden. Dazu scheinen die Trenngrenzen zu verschwimmen: Ab wann ist jemand oder etwas lebendig? Brin gen Lebenstechnologien nicht eigenartige neue Zwischenzustände zwischen Leben und Tod hervor?

Und verschiebt sich nicht auch die Moral? Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass die früher ganz verschiedenen Erfahrungs bereiche des Schwangergehens bzw. Gebärens oder aber des Ster bens in der Bioethik als Grenzfragen von ›Lebensanfang und Lebensende‹ unter einer gemeinsamen Überschrift zusammen

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gefasst werden. Abwägungen, bis wann sich Leben lohnt und was es wert sei, stehen neben dem Schwur auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. So werden die humane embryonale Stammzelle und die Greisin im Wachkoma durch Bioethik zu sammengerückt. Sie gelten nicht zum einen als eine bis dato un bekannte Labortatsache und zum anderen als Mensch, dem der Tod sich nähert. Sie erscheinen vielmehr beide gleichermaßen als Grauzonenwesen, als Grenztatbestände von Leben. Die Ar gumente ähneln sich, mit denen man die zu ›menschlichem Le ben‹ erklärte Zelle und die Sterbende bewertet. Das Untote hat auch in der Ethik Konjunktur.

1. leben als geschichtsmacht

Die Form, in der sich Tod und Sterben heute verändern, hat mit dem ›Leben‹ zu tun, dessen Karriere mit der Moderne beginnt. In dieser Diagnose sind sich die meisten zeitgenössischen Theo rien einig. Das Leben als Kollektivsingular für ein überindividu elles Ganzes, dem man eine biologische Beschaffenheit und eine natürliche Dynamik zuschreibt, die durch die Generationen fortreicht, ist ein modernes Konstrukt. Bis etwa 1800 gab es zwar die Lebendigkeit als Eigenschaft, die ein Wesen haben kann. Und es gab die Sterblichkeit als Eigenschaft alles Irdischen wie auch aller Dinge im Kosmos. Man konnte auch vom ›eigenen Leben‹ oder vom ›guten Leben‹ sprechen. Dies hieß dann aber, Leben als Erzählzusammenhang oder als Erinnerung zu fassen, als Lebenslauf und gerade nicht als Naturstoff.

Mit der entstehenden Gewebephysiologie und Biologie sowie der Populationsstatistik, Anthropologie und Soziologie formt sich ab 1800 dann die Vorstellung, dass ›das‹ Leben eine natur wissenschaftliche Größe ist: etwas Empirisches. Eine Sache, die auf Zellebene ebenso angetroffen werden kann wie im Individu um und auf der Ebene ganzer Völker, Gesellschaften oder Arten. Zellen sterben nicht eigentlich, sie teilen sich lediglich und geben das Kontinuum des Lebens weiter. Ähnlich überdauern die Erb eigenschaften den Tod des Exemplars einer Gattung oder Art, sobald das Exemplar sich fortpflanzen konnte. Leben in diesem neuen Sinn als im Inneren biologischer Prozesse verankert wird nicht nur zur Grundgröße der modernen Medizin: der Bio medizin und ihren Techniken, von der Epidemiologie und der Immunologie über die Intensivmedizin und Transplantations chirurgie bis zur Gendiagnostik und (angekündigt) der Genthe rapie. Ein empirischer Zugriff auf ›Leben‹ prägt auch die im 19 Jahrhundert entstehende sozialwissenschaftliche Sicht auf die Gesellschaft: von der Sittenstatistik über Sozialversicherung, So zialhygiene bis zur Eugenik und dem sich zuspitzenden Kampf gegen die Delinquenz.

Die heute so genannten Lebenswissenschaften Life Sciences sind eng mit dem Gedanken des sozialen Nutzens verbunden. Ab 1900 bringt ein Klima von Lebensreform das naturwissen schaftliche Weltbild, sozialtechnische Visionen und Lebensphi losophien der verschiedensten Art zusammen. Die biologische Po-

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litik mit Lebenswertkriterien, ersten Selektionstechniken und medizinischer Sterbehilfe entsteht. Sie ist präventiv orientiert. Sie hantiert auf verschiedenen Skalen mit der Idee der gestaltbaren ›Qualität‹ von Leben. Und sie ist nur begrenzt am aktuell zu behandelnden Individuum interessiert. Gilt eine Maßnahme der Verbesserung von Leben, wird vielmehr im Medium der Körper der Einzelnen gleichsam die Population therapiert: der Mensch der Zukunft hergestellt. Leben kann so um des Lebens willen Lebendiges abwerten und ausschließen, ohne dass es überhaupt noch als tötbar gilt, ohne also vom Konzept des Todes noch Ge brauch zu machen.

Michel Foucault zufolge ist es eine Macht zum Leben, welche die Sozialpolitik der Moderne trägt: Politik ist Biopolitik, die Leben macht und Sterben lässt wobei das Sterben, der Gravität und Würde des Todes beraubt, in den Dienst der Produktion von Le ben gestellt werden kann, was zunehmend passiert. In den 1970er und 1980er Jahren war daher vom »Verschwinden« des Todes die Rede. Elisabeth Kübler-Ross und Ivan Illich haben kritisiert, wie die Medizin das Sterben verdrängt, und Philippe Ariès hat den modernen Tod als einen »ins Gegenteil verkehrten«, formlos ge wordenen Tod beschrieben, welcher dem Schweigen anheimfällt. Foucaults Diagnose geht weiter: Der Tod wird nicht nur unsicht bar, er wird vielmehr regelrecht absorbiert, er wird zum Rohstoff des Lebens. Giorgio Agamben sieht nicht nur die Opfer der Ver nichtungslager des 20. Jahrhunderts, sondern auch die Patienten moderner Intensivstationen darauf reduziert, nur noch »nack tes«, rechtlich ungeschütztes Leben zu sein. Sterben ist hier Ver nichtung oder auch Sterbenlassen von jemandem, der gar nicht mehr als Sterbender erscheint. Stets geht es dabei jedoch nicht eigentlich gegen den Einzelnen, sondern vor allem darum, alles für das Ziel einer Qualität des Lebens des Ganzen zu tun.

2.

technisierung des todes Leben als Kontinuum, das sich selbst steigern kann und sich zum Wohle seiner selbst auch steigern sollte: im Ergebnis ein Kontinuum, das sein altes Gegenüber, den Tod, und überhaupt sein eige nes Außen frisst. Wird der Tod unter diesem Vorzeichen zum bloßen Lebensende, so erscheint das einerseits als Entwertung. Alte Rituale verblassen, Todesfurcht verliert ihre Gründe, sie ver wandelt sich in Furcht vor den konkreten Umständen des Ster bens Bettlägerigkeit, Hilflosigkeit, Schmerz. Dazu bleibt viel leicht noch eine bilderlose Angst vor etwas, das keinen Namen mehr hat. So geläufig diese Diagnose sein mag sie ist unvoll ständig. Denn es gibt ein zweites Faktum, das ebenfalls kaum bestritten wird. Es ist dasjenige einer Ökonomisierung und Tech nisierung des Todes. Der Entwertung steht eine Inwertsetzung entgegen. Wählt man eine andere Perspektive als diejenige der verlorenen Anerkennung einer eigenständigen Realität des Todes, so ist das Lebensende sehr wohl etwas wert.

Moderne medizinische Techniken, aber auch Militärtechnik und Bestattungstechnik binden ähnlich wie den lebenden Kör per des Menschen auch das Sterben und seine stofflichen Resul tate in neue Ökonomien ein. Der lebende Organismus verfügt über Funktionen, die sich mit technischen Mitteln ersetzen, ver stärken und verändern lassen. So entfaltet die Intensivmedizin von der künstlichen Ernährung und Beatmung bis zu Reanima tionstechniken am Herzen zahlreiche Möglichkeiten, Menschen aus dem Sterben zurückzuholen. Der Organismus enthält aber auch Substanzen, aus denen man etwas machen kann. So wird etwa die Blutspende zu einem wichtigen Baustein der Chirurgie. Auch der tote Körper mobilisiert neue Verwertungsperspektiven. Der Respekt vor der bürgerlichen Totenruhe schwindet. So wird zur hygienischen Entsorgung von Leichen schon vor 1900 die Feuerbestattung üblich. Vor allem aber entwickelt sich der frisch gestorbene Körper zur Rohstoffquelle. Denn die entstehende Transplantationsmedizin benötigt Materialien, die noch mög lichst lebendig sind.

Organentnahmen, die den lebenden Menschen töten würden, wären Mord. Darin liegt das Paradox der Transplantationsmedizin: Will sie lebenswichtige Organe verpflanzen, so muss sie Leben aus dem toten Körper gewinnen. Zu warten, bis das Herz eines Sterbenden nicht mehr schlägt, ruiniert die für das Weiter funktionieren von transplantierten Organen erforderliche Qua lität des Materials. Hat die technische Vision eines Transfers von ›Leben‹ so besehen kannibalistische Züge? Ist, was dem einen nützt, auf todbringendem Wege entnommen? Nach ersten Trans-

plantationen in der Grauzone löst die Einführung einer neuen Todesdefinition im Jahr 1968 das Problem zugunsten der Organ gewinnung auf: Der sogenannte Hirntod legt zerebrale Kriterien für das strafrechtlich bindende Lebensende fest. So kann der Tod eines Patienten bereits lange vor dem Herztod diagnosti ziert werden: Obwohl das Herz noch schlägt, den Körper durch blutet und vitale Funktionen noch gegeben sind, gilt der Körper als empirisch tot womit dann der medizinischen Verwertung rechtlich nichts mehr entgegensteht.

Mehr noch als die Intensivmedizin, die Bewusstlose über lange Zeit beatmen und ernähren kann, ist die Zweideutigkeit des Hirntodes zum Exempel dafür geworden, wie die Biomedizin Untote produziert. Der sinnlich erlebte Widerspruch zwischen durch blutetem und auch noch Reflexe zeigendem Körper und der auf abstrakten Messungen beruhenden Erklärung, die ihn als »tot« zur Organentnahme freigibt, taucht die Transplantationsmedi zin in ein fahles Licht.

Ist also die Technik die Ursache für verwischende Grenzen zwi schen Tod und Leben? Es ist eine Vereinfachung, den Geräten die Schuld zu geben. Der Mythos, die Technik habe den Tod verändert, ist so alt wie die Kritik an der viel beschworenen Lebenserhaltung um jeden Preis, zu welcher die Apparatemedizin angeblich zwingt. Technik am Sterbebett ist vielmehr ebenfalls zweideutig: Sie schafft sowohl die Option einer gewissen Lebensverlänge rung wie auch die Option einer Tötung, die gemessen an früheren Standards legal nicht möglich war. Die Technik folgt le diglich den vielfachen Interessen am Mehrwert des Lebens. Kei neswegs wird die Ressource Leben durch Apparatemedizin blind erhalten, sie wird vielmehr gemessen, bewertet, zugeteilt, umver teilt und rationiert. Medizintechnologien schaffen Möglichkeiten und die technischen Möglichkeiten sind nicht um ihrer selbst willen da. Sie dienen einer differenzierten Ökonomie der Lebensnutzung, in welcher ganz verschiedene Interessen von Patienten, Angehörigen, Betreuern, verschiedenen medizinischen Akteuren, Kostenträgern und auch der Gesundheitsökonomie als Gan zer widerstreiten. Das moderne Hinausdehnen des Sterbens ist folglich mehr als bloße Technikfolge. Es zeigt, wie dort, wo Tod war, rund um die stofflichen, zeitlichen und qualitativen Poten ziale von Leben ein Markt entstanden ist.

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animierte materie

Nicht nur in der Klinik, auch im Labor geraten lebendig und tot durcheinander. Diese Wahrnehmung hat sich in den letzten Jah ren vor allem für den Bereich der Biologie verstärkt, wo mittels sogenannter synthetischer Verfahren lebende Zellen in entschei denden Komponenten im Labor hergestellt werden können. Of fenbar pflanzen sich diese weitgehend technisch hergestellten Formen fort und sind auch sonst überlebensfähig, als seien sie auf natürlichem Wege entstanden.

Die Vision einer Verlebendigung toter Materie wurde schon im 20 Jahrhundert durch Science Fiction-Szenarien stimuliert: Menschliche Gehirne sollten im Computer eine Art ewiges Leben begin nen, winzige Roboter sich im Körperinneren tummeln und durch symbiotische Reparaturarbeiten den Alterstod verhindern. Das Faszinosum, aus totem Stoff könnte Lebendes gemacht werden, reicht noch weiter zurück. Das ›künstliche‹ Leben gehört zu den Visionen, die den romantischen Beginn der Moderne bebildern: die Beseelung des Automaten, der Homunculus aus dem Glaskolben, das Wesen aus Leichenteilen, das auf elektrischem Wege zum Leben erweckt werden kann.

Der Skandal des künstlichen Lebens unterscheidet sich von demjenigen eines vorgezogenen, unwirklich gewordenen Todes. Ani mation der Materie dies hat mit dem Tod erst einmal wenig zu tun. Die Irritation daran, dass Leben womöglich durch bioche mische Synthese geschaffen werden kann, stellt weniger das Le ben dem Tod als vielmehr das Leben dem Künstlichen gegenü ber. In Frage steht nicht ein vom Leben gestaltbares Sterben, son dern die Frage der unnatürlichen Entstehung von Leben und damit Leitdifferenz von Natur und Künstlichkeit. Tatsächlich setzt es eine Metaphysik der Natürlichkeit von Le ben und die Charakterisierung alles Künstlichen als tot vor aus, Artefakte aus dem Labor als »untot« zu bezeichnen. Auf in teressante Weise finden wir den Status von Labortatsachen der zeit mit diametral gegensätzlicher Begründung, aber ähnlichem Ergebnis in der Diskussion. Auf der einen Seite weist die religiös-

fundamentalistische Bioethik biotechnische Artefakte als »un natürliche« (weil der Schöpfung fremde) Konstrukte zurück. Auf der anderen Seite analysieren Wissenschaftssoziologie und Wis senschaftsgeschichte den hybriden Charakter biotechnischer La borprodukte, sie seien nicht Artefakte, sondern »Biofakte«, wie die Wissenschaftsphilosophin Nicole Karafyllis es genannt hat: Zwischendinge aus Natur und Kultur und nicht Leben im herkömmlichen Sinn. So verschieden beide Parteien sind: Je weils werden hier nicht nur Leben und Natur assoziiert, sondern im Umkehrschluss auch Künstlichkeit, Kultur und unechtes vulgo ›untotes‹ Leben gleichgesetzt. Vom Menschen mit tech nischen Mitteln und aus unbelebtem Stoff gewonnenes Leben, so die Suggestion, muss falsches, totes Leben sein.

4. lauter mitteldinge?

Auch Agambens »nacktes Leben« trägt Züge eines Hybrids we niger als Zwischending von Natur und Kunst denn als Mischung aus anerkannter Humanität und bloßer Sache. Die an der Frage des Todes gewonnenen Diagnosen zum Siegeszug des Lebens in der Moderne lassen sich also durchaus mit dem suggestiven Bild des Mitteldinges verbinden: einer Deutung der Phänomene am Rande oder jenseits der modernen Grenze des Lebens unter Zu hilfenahme eines Dualismus. Also als Phänomene eines Zwischenzweien, beispielsweise eines Zwischenreichs zwischen Leben und Tod.

Leben/Tod sowie Natur/Kultur sind allerdings leicht zu ver wechseln. Mitteldinge sind einander nicht automatisch gleich. Und namentlich die Natur zaubert sich schnell aus dem meta physischen Hut. Es ist wahrscheinlich die schwer zu bestimmende Rolle der Technik des technischen Artefakts, der technischen Intervention , welche diejenigen, die an den Innovati onsdiskursen der Technikentwickler grundsätzlich zweifeln, an gesichts des unfassbaren Wandels, der im Zeichen des Lebens zu beobachten ist, zu Dualismen greifen lässt. Und letztlich dann zu Kategorien wie Natur, Schöpfung oder auch einem ir gendwie eigentlichen oder echten Leben, das die Züge eines un manipulierten Naturstoffes trägt.

Stimmt die Diagnose, dass die Moderne von einer Politik der Im manenz des Lebens zehrt, welche dem Tod seine Eigenständig keit und seine Formen genommen hat, dann ist zu warnen vor einer gewissen Beliebigkeit bei der Verwendung des Attributes tot. Ist im biologischen Sinne unbelebte Materie tot? Ist die Greisin nach festgestelltem Hirntod tot? Ist ein Phänomen an den Rändern dessen, was wir heute Leben nennen, nur deshalb, weil es sich nicht im vollen Wortsinn um Leben handelt, bereits beinahe tot?

Leben kann eine Macht und ein Problem sein, gerade weil es heu te keinen Gegenbegriff (mehr) kennt. Analysen eines Biopolitischen setzen hier ein. Der Schock neuer Technologien lädt den noch dazu ein, wenn schon nicht das ›echte‹ Leben, so doch die Natur oder anderswie eine außermenschliche Macht als Hilfs größe zu nutzen, um die Konturen von Biopolitik zu bestimmen: Einer Sterbepolitik, die ins Sterben variable Wertgesichtspunkte einbringt und so Lebenspolitik ist; oder eben einer Biologie, die lebendige Agenzien hervorbringt, die bisher auf der Welt nicht vorkommen, weswegen sie Möglichkeiten eröffnen sollen, aber auch keiner sie kennt.

Petra Gehring , *1961, ist Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. 2010 erschien ihr Buch Theorien des Todes: Zur Einführung im Junius Verlag, 2006 ihr Buch Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens im Campus Verlag. 2007 gab sie gemeinsam mit Marc Rölli und Maxine Saborowski den bei der Wissen schaftlichen Buchgesellschaft verlegten Band Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute heraus.

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leben bauen

Ein Interview mit Prof. Dr. Ralf Wagner, Professor für Molekulare Mikrobiolo gie und Gentherapie an der Universität Regensburg und Chief Executive Officer der Biotechnologie-Firma GeneArt (»The Gene of your Choice«) über Chancen und Grenzen der synthetischen Biologie.

Dr. Oliver Müller / Josef Mackert: Herr Prof. Wagner, nach einer üb lichen Definition ist das Ziel der synthetischen Biologie die Pro duktion von maßgeschneiderten Bio-Bauteilen, die bestimmte Aufgaben erfüllen können. Was bedeutet das?

Prof. Dr. Ralf Wagner: Ich übernehme gern die Definition des Bio technikers Sven Panke, der sagt: Die synthetische Biologie folgt einer Engineering-Agenda, stellt auf der Basis von standardisierten Bio-Bauteilen neue Biosynthesewege dar, und zwar in einer Form, in der sie in der Natur nicht vorkommen. In der Biologie wurde lange hypothesengetrieben gearbeitet. Im Zeitalter von Genomics und Postgenomics haben wir neue analytische Werkzeuge in der Hand. Wir können nicht nur unsere Hypothesen schärfen, sondern das Wissen über zellulare Prozesse in Konstruktion übersetzen. Dies ist das Zeitalter, in das wir gerade aufbrechen. Dazu verwendet man idealerweise das meint man mit Engineering-Agenda standardisierte Bio-Bauteile. Das ist vergleichbar mit der Elek trotechnik: Dort haben wir Widerstände, Kondensatoren, elek trische Leitungen etc. und abhängig davon, wie ich diese Bauteile zusammensetze, kommt entweder ein Radio, ein Fernseher, ein Föhn oder ein Staubsauger heraus. Auch mit Bio-Standardbau teilen kann man, je nach Kombination, Organismen mit ganz unterschiedlichen Leistungen generieren.

Müller/Mackert: Was unterscheidet das von herkömmlicher Bio technologie?

Wagner: Der Grad der Veränderung. In der Vergangenheit haben wir einem Bakterium, üblicherweise E. coli, ein neues Gen unter geschoben oder wir haben eine oder zwei Komponenten eines Stoffwechselweges modifiziert und damit einen Sekundärmeta bolismus derart verändert, dass beispielsweise ein Vitamin in größeren Mengen produziert werden kann. Das waren minimale Veränderungen. Eine ›signifikante Veränderung‹ würde heißen, ich nehme den gesamten Pathway (»Stoffwechselweg«) eines Organismus und übertrage ihn auf einen anderen Organis mus. Das ist schon richtig komplex und hat eine andere Qualität als das, was man in der Vergangenheit gemacht hat. Und schließ lich nenne ich ›substantiell verändert‹, wenn etwas ganz neu ist, z.B. Enzymfunktionen, die in der Natur überhaupt nicht kombiniert sind. Wenn also Biotechniker biologische Din ge herstellen, die die Natur überhaupt nicht kennt.

Müller/Mackert: Die die Natur überhaupt nicht kennt?

Wagner: Wir haben 20 Aminosäuren, die Bausteine des Lebens. Vielleicht 21, die in der Natur vorkommen. Jetzt können wir künstli che Aminosäuren herstellen. Also eine 22ste, eine 25ste bis zu 80 künstliche Komponenten, möglicherweise mehr. Ich verwen de also nicht mehr die übliche Chemie der Zelle, sondern ich nutze die in der Zelle vorliegende ›Maschine‹, ihren ›Apparat‹, um ganz neue Eiweißbestandteile zu generieren. Ich baue quasi ein Paralleluniversum in der Zelle auf. Das würde ich am ehesten als ›künstlich‹ bezeichnen. Die Biotechnikerin Petra Schwille sagt sogar, sie baue Leben from the scratch. Sie konstruiert künstli che Membrane, die sie vielleicht in eine Transkriptionsmaschine inseriert, um dann da eine Translationsmaschine mit einzubringen, mit der nicht mehr nur Eiweiße synthetisiert werden können. Hierbei kann man schon sagen, naja, die Evolution hätte ja auch ganz anders laufen können. Warum haben wir eigentlich ein Po

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lypeptidrückgrat in Eiweißen? Warum sind das überhaupt Pep tidbindungen es könnten doch auch andere kovalente Bindungen, könnten doch auch ganz andere Moleküle sein? Das hat für mich eine neue Qualität.

Müller/Mackert: Hat das Konsequenzen für unseren Lebensbegriff?

Wagner: Eckart Wimmer von der Stony Brooks University hat vor kurzem ein künstliches Polyvirus aus der Retorte geschaffen. Sind solche künstlichen Viren, die in Zellen einchecken können, tatsächlich schon ›Leben‹? Ich würde mich da von der technischen Seite nähern, und sagen: Alles, was sich reproduzieren kann, ist Leben, fertig…

Müller/Mackert: Es gibt auch Versuche, Zellen zu ›entkernen‹, ein ›Chassis‹ zu bauen, um dann auf dieser Grundlage neue Organis men zu produzieren was ja auch der Biotechnologe J. Craig Venter macht , sind das Living Machines, von denen in der Syn thetischen Biologie gern geredet wird?

Wagner: Craig Venter hat nichts anderes gemacht, als ein Genom zu synthetisieren, das ein bisschen anders aussah, als das Genom, das ursprünglich in der Zelle war. Er hat dieses neue Genom und ein Genom ist das Programm des Lebens, wenn Sie so wol len in die Zelle eingebracht. Dann wurde von der Zelle das neue Programm übernommen, weil aufgrund der eingebauten Selek tionsmarker das alte Programm dominiert wurde. Und nach ein paar Zell-Generationen hat die neue Software, also die neue DNA , auch die Hardware entsprechend verändert. Also was ist Leben? Schaut man sich das Chassis und die DNA an, die Venter und Kollegen zusammengebracht haben, dann würde man als Tech niker sagen, die DNA ist eine physikalische Komponente. Nie mand würde sagen, dass das selbst schon ›Leben‹ ist. Es ist viel mehr ein Programm für Leben, vergleichbar mit einem SoftwareTool. Und wenn Sie dies in die Zelle einbringen, dann so kann man das letzte Paper vom Venter-Institute zusammenfassen wird die Zelle gebootet. Und an dieser Stelle hört die Analogie zur Informatik auch schon auf, denn in der Biotechnik bestimmt die Software die Hardware: Was nach ein paar Zellgenerationen dann herauskommt, ist auch eine neue Hardware. Mir fällt es schwer, eine klare Grenze zu ziehen: Zu sagen, das ist künstliches Leben, eine Living Machine und das ist kein künstliches Leben… Doch das letzte Experiment von Venter, der sagt: »Ich nehme halt das eine Genom und stecke es in eine Zelle rein und dadurch wird die Zelle umprogrammiert«, das finde ich noch am ehesten ›künstlich‹, aber Living Machine, ich weißt nicht…

Müller/Mackert: Leben wurde in unserer Kulturgeschichte, aber auch in den Wissenschaften als etwas Unerklärbares, Geheimnisvolles, nicht vollständig Kontrollierbares verstanden. Werden solche elementaren Vorstellungen und Metaphern für das Lebendige nicht radikal in Frage gestellt, wenn in der Synthetischen Bio logie Lebendiges zu einem herstellbaren und kontrollierbaren Produkt wird?

Wagner: Hm, auch hier würde ich mich als Wissenschaftler eher von der technischen Seite nähern und fragen: Was ist der Unter schied zu dem, was wir bislang gemacht haben? Ich akzeptiere natürlich, dass man zur Definition des Lebens einen technischen und einen ethischen oder religiösen Zugang haben kann. Wenn

ich provokant sein wollte, könnte ich sagen: Ob ich ein Gen, fünf oder sechs oder mehr ändere, das ist alter Wein in neuen Schläu chen…

Müller/Mackert: Aber gemessen an Ihrer Eingangsdefinition: Wenn es ein Charakteristikum der synthetischen Biologie ist, dass sie Organismen produziert, die es nicht in der Natur gibt, dann wäre das doch schon rein programmatisch ein Unterschied zu dem, was vor zehn, zwanzig Jahren gemacht wurde, oder?

Wagner: Jein. Wir haben schon immer Dinge generiert, die über das in der Natur Vorfindliche hinausgehen. Die Natur hätte nie einen Roggen oder Weizen hervorgebracht, wie wir ihn heute haben. Die Evolution wäre nie den Weg von sich alleine gegan gen und trotzdem haben wir über die Züchtungsforschung diese Dinge hervorgebracht. Jetzt machen wir es biotechnolo gisch gezielter. Das erdölfressende Bakterium, das kann ich jetzt schon konstruieren, aber es gibt sicher auch andere Wege, wie ich der Evolution auf die Sprünge helfen kann…

Müller/Mackert: Ist es das, was Sie mit Paralleluniversum meinen? Wagner: Abgesehen davon, dass man in einem solchen intrazellu lären Paralleluniversum Therapeutika oder neue Arzneimittel ef fizienter produzieren kann, ist an der Idee des Paralleluniversums faszinierend, dass es für die Frage sensibilisiert, warum denn un ser Leben so aussieht, wie es aussieht. Es gibt, wie gesagt, ganz bestimmte Aminosäuren und Peptidbindungen, die so sind, wie sie sind aber hätte die Evolution auch einen anderen Weg neh men können? Warum hat die Evolution andere Wege nicht ein geschlagen?

Müller/Mackert: Um dann vielleicht auch die Idee, diese anderen Wege einzuschlagen?

Wagner: Sehr weit nach vorne geschaut, vielleicht ja.

Müller/Mackert: Es gibt immerhin Biologen, die sagen, dass man einmal ein komplett künstliches Chromosom in einen Embryo einsetzen kann…

Wagner: Man muss nicht alles machen, was man machen kann… Aber klar, man kann ein Chromosom konstruieren und synthetisieren, das ist wahrscheinlich gar nicht so schwierig… Technisch scheint mir das nicht besonders visionär zu sein. Nehmen wir E. coli, das ist ein einfaches Bakterium. E.coli hat 4× 10 6 Basenpaa re, das haben wir bei GeneArt in vier bis sechs Wochen syntheti siert. Not a big deal. Wenn ich mir ansehe, wie sich bei GeneArt die Synthesekapazitäten entwickelt haben: Noch vor acht Jahren haben wir eben 10 000 Basenpaare pro Monat synthetisiert und heute können wir 5× 10 6 Basenpaare pro Monat synthetisieren. Ich überzeichne bewusst, aber nächstes Jahr werde ich Ihnen vielleicht sagen: No problem, 107 Basenpaare machen wir in vier Wochen. Dann braucht man noch kleine Technologiesprünge an der einen oder anderen Stelle und schon wird man ein Chromosom synthetisieren können. Und dann fragt sich natür lich: Wie weit gehen wir? Wo ist eine Grenze, wo höre ich auf?

Müller/Mackert: Aber sind denn, so wie Wissenschaft im Moment organisiert ist und aus den Erfahrungen der Fortschrittsprozesse der letzten Jahre, Grenzziehungen überhaupt noch vorstellbar?

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Wagner: Wir diskutieren zumindest in der Firma über mögliche Selbstbeschränkungen. Wir haben innerhalb des IGSC (Interna tional Gene Synthesis Consortium) eine Datenbank angelegt, in die man dann Informationen über die Gen-Sequenzen, die an gefragt wurden, reinstellt und vermerkt, warum wir die Anfrage für kritisch halten. Dies betrifft insbesondere dual use -Fälle, also Organismen, die auch Bioterroristen nutzen könnten. Wir geben nicht alles an alle Kunden raus. Grundsätzlich würden wir den Kollegen, dessen Projekt ich kenne und einsehen kann, beliefern, während ich einen Forscher, den ich nicht kenne, oder der viel leicht an keiner Universität angesiedelt ist, nicht unterstütze. Aber klar, es ist schwierig, Selbstbeschränkungen weltweit durch zusetzen.

Müller/Mackert: Die Schwierigkeiten mit der Beschränkung liegen vielleicht auch daran, dass sie mit ihrer Arbeit zwei Bereiche be rühren, die generell auf Unbegrenztheit, Unbeschränktheit zie len, nämlich die Bereiche Religion und Kunst das Perfekter machen der Schöpfung und das Kreative scheinen die Synthetische Biologie zu charakterisieren Ihre Firma heißt ja auch GeneArt… Wagner: Ja, unser Name… also: Gene und Art, ein völlig künstli ches Gen, das gibt es nicht. Wir dachten eher an die Kunst in technischer Hinsicht: Es ist sehr anspruchsvoll, ein Gen zu konstruieren, es ist eine Kunst, ein Gen in spezifischer Hinsicht zu konstruieren und es ist eine hohe Kunst, Gene auf bestimmte Anwendungszwecke hin zu optimieren. Was aber auch mitschwang, ist die Idee, dass die Natur ein großes Gesamtkunstwerk ist, uner reichbar für jede Design-Option, die wir uns als Menschen auch nur im Entferntesten vorstellen können, viel zu komplex, viel zu… ja, irgendwie göttlich. Wir sagen nicht, wir sind der Natur oder Gott hier oder dort überlegen. Bei uns und bei mir stand nicht, was ich gelegentlich bei Venter gehört habe, das Playing God im Zentrum…

Müller/Mackert: Der Trend zum Leben als Designerprodukt scheint in der synthetischen Biologie immer wieder auf und damit tritt man doch in eine gewisse Konkurrenz zur Natur, oder?

Wagner: Tja, besser als Gott oder so gut wie Gott… Diese Frage taucht immer auf, wenn wir erklären müssen, was das Besondere an dem ist, das wir machen. Wenn wir sagen: Wir machen es an ders als die Natur, wir machen es besser als die Natur dann ist es ja dem Augenschein nach nur noch ein kleiner Schritt hin zu: Wir sind besser als Gott. Man kann es so erklären: Die Insulin produktion in der Bauchspeicheldrüse wird durch physiologische Parameter geregelt und da hat die Natur die beste Balance, sie hat ein perfektes Regelwerk um die Insulin-Produktion entwi ckelt. Das ist genial, das könnte sich nie irgendjemand ausden ken. Wenn wir nun sagen, wir sind besser als die Natur, weil wir mehr produzieren können, dann bezieht sich das z. B. auf ein Produktionsenvironment. Ich habe einen Fermenter, einen Bio reaktor und ganz bestimmte Rahmenbedingungen, ich nehme eine Zelle, in der ich produziere. Und dann frage ich: Wie kann ich das Gen verändern, so dass ich bei einer bestimmten Belüf tung, bei einer bestimmten Rührgeschwindigkeit die optimale Ausbeute an Insulin bekomme. Und dementsprechend verände-

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re ich mein Gen. Das ist, gemessen an dem, was die Natur an Re gelwerk geschaffen hat, vollkommen banales und simples Hand werkszeug. Oft stutze ich und denke, was erzählst du denn hier: besser als die Natur. Und dann versuche ich klarzustellen, in wel chem Sinne besser als die Natur.

Müller/Mackert: Welche Bio-Bausteine bietet Ihre Firma an? Wie wird mit diesen Lebensschnipseln gehandelt? Wagner: Ich habe damals im Kontext meiner Arbeit zur Entwick lung von HIV-Impfstoffen jemanden gesucht, der mir ein be stimmtes künstliches Gen herstellen kann. Ich konnte zwar ein paar Firmen ergoogeln, doch alle haben abgewunken, extrem hohe Preise, lange Lieferzeiten, technische Probleme… Also ver suchten wir es selbst. Es war mühsam, hat eine lange Zeit gedau ert und viel gekostet aber es ist dann genau das rausgekommen, was wir uns erwünscht hatten, nämlich dass das HIV-Gen in großen Mengen produziert wird. Uns wurde klar: Wenn man solche künstlichen Gene schnell und in hohem Durchsatz herstellen kann, dann wird das das gesamte Genetic Engineering revolutionieren und am Ende des Tages ist es dann nur eine Frage von Kosten und Zeit. Denn wenn es billig genug ist, bestellt jeder ein Gen exakt maßgeschneidert auf die experimentellen Bedürfnisse. Unser Business-Konzept sah dann so aus: Kosten und Preis runterbringen. Dafür muss ich ein schönes Verfahren haben, idealerweise modular aufgebaut, so dass ich es dann in den Modu len automatisieren kann und dass ich es in den automatisierten Modulen weiter miniaturisieren kann. Und das haben wir Schrittchen für Schrittchen gemacht…

Müller/Mackert: Sie bieten also Basenpaare an, die bei Ihnen be stellt werden können?

Wagner: Genau. Der Kunde sagt: Liebe GeneArt, ich möchte ger ne ein optimiertes HIV-Hüllprotein-Gen haben, die Eiweißse quenz soll so und so aussehen, bitte entwerft mir dazu das pas sende Gen. Ich möchte das Eiweiß in chinesischen Hamsterovarzellen produzieren. Bastelt mir doch bitte ein Gen und kodiert exakt dieses Eiweiß! Dann überlegen wir, wie das Gen aussehen muss, damit es den höchsten Output in diesem Produktionssys tem hat. Da steckt zunächst mal eine Designleistung drin, dann muss man das Gen synthetisieren, muss es in eine Genfähre pa cken, muss es einer Qualitätskontrolle unterziehen und dann an den Kunden ausliefern.

Müller/Mackert: Die Gensequenzen kann man patentieren lassen. Dass man Lebendiges patentieren lassen kann, scheint merkwür dig…

Wagner: Wir haben im Wesentlichen Verfahrenspatente, die die Herstellung von Genen nach dem bei uns praktizierten Verfah ren schützen. Dabei ist das technische Alleinstellungsmerkmal wichtig: Die Gene sind mittels einer Technik spezifisch verän dert sei es das Eiweiß oder das funktionelle Gen selbst und mit einer Genoptimierung verknüpft, die die Ausbeuten verbes sert, also den Output bei der Produktion. In dieser Kombination gibt es eine ganze Reihe von Patenten.

Müller/Mackert: Das heißt aber: Ganze Mikroorganismen könnte man nicht patentieren lassen?

Wagner: Doch, ein Bakterium, in das Sie einen neuen Stoffwech selweg eingebaut haben, können Sie schon patentieren lassen. Auch Gene wurden schon patentiert. Ein Gen, das aussieht wie ein natürliches Gen, können Sie nicht patentieren lassen. Aber die künstlichen Gene, die z. B. im Hinblick auf die Produktion verbessert sind oder wenn die Funktion des Eiweißes, das durch das Gen kodiert ist, verändert ist, dann können Sie das patentie ren lassen. Es gibt in der Scientific Community gerade eine Dis kussion, ob nicht nur auf eine bestimmte Applikation hin opti mierte Gene, sondern auch die die Gene regulierenden Schalter patentiert werden können. Die biologischen Pathways, um die es hier geht, werden auch Bio-Bricks genannt und diese Bio-Baustei ne werden in Datenbanken gesammelt und nun stellt sich eben die Frage, ob in Zukunft bezahlt werden muss oder ob es eine Open Acces-Policy geben wird. Zur Zeit bewegen sich einige in ei ner Grauzone weil viele Bio-Bricks, die vertrieben werden, for free sind. Aber viele der Schalter, Gene und Reagenzien sind be reits patentiert. Aber ich bin mir sicher, wenn sie den Weg in eine kommerzielle Nutzung finden, dann wird auch jemand da sein und sein Patent hochhalten…

Müller/Mackert: Der US -amerikanische Bioinformatiker Ray Kurzweil behauptet, dass wir mittels Informationstechnologie und Biotechnik in der Lage sein werden, in 15 Jahren die ersten Brü cken in die Unsterblichkeit zu bauen. Kurzweil glaubt, dass un sere Biologie reprogrammierbar wird, so dass der Mensch wie er es vorrechnet mit jedem Jahr, das er lebt, ein neues gewinnt. Halten Sie das für möglich?

Wagner: Ich halte es für relativ phantastisch… Schauen Sie, vor 20 Jahren, als ich angefangen habe, hatten wir noch eine hypothe sengetriebene Forschung, vor zehn Jahren haben wir dann Ins trumente in die Hand bekommen, mit denen wir begonnen ha ben, das Genom zu lesen. Und damals, so um 2000, als Venter seine Forschungsergebnisse publiziert hat, haben alle gesagt: Wow, jetzt haben wir es! Jetzt verstehen wir das Leben. Heute würden wir das mit einem Buchstabensalat vergleichen. Wir müssen aber Wörter schreiben, wir müssen ein ganzes Buch schreiben, ach was: Bände, mehrere Bände von Büchern zu der einen Geschichte. Es wird uns schon gelingen, neue Ebenen von Komplexität zu erreichen, von der Konstruktion einer Zelle zu Organen und zu Organverbänden. Aber sich zielgerichtet der Unsterblichkeit nä hern: I don’t know.

Die Fragen stellten Dr. Oliver Müller , Wissenschaftlicher Mitar beiter des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin Freiburg i.Br. und Josef Mackert , Stellvertreter der Intendantin in künstlerischen Fragen und Leitender Dramaturg am Theater Freiburg.

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die schlurfenden massen von heiko

stoff

Ein Untoter kommt selten allein. Im Zuge des ungeheuerlichen Erfolgs von Vampirge schichten sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Nachtmahren aus den dunklen Bezirken kollektiver Albträume ins helle Licht der öffentlichen Unterhaltung getreten. Neuerdings beanspruchen nun auch die Zombies, aus dem Totenreich zurückgekehrte, lebende Leichname, Aufmerksamkeit jenseits der engeren Grenzen des Genres. Zu Recht. Denn Zombies sind genuin moderne Untote. Ihre heute gängige, ›klassische‹ Ausgestaltung er fuhren sie in Die Nacht der lebenden Toten des US -amerikanischen Under ground-Filmregisseurs George A. Romero. Dieser Film kam 1968 in die Kinos, im selben Jahr, als das Hirntodkriterium eingeführt wurde und ein Jahr nach der weltweit ersten er folgreichen Herztransplantation bei einem Menschen. Dies mag ein Zufall gewesen sein, rückblickend bildet es eine Konstellation. Der Medizinhistoriker Heiko Stoff und der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger (S. 18 ) beleuchten die Geschichte und die vielfäl tigen Implikationen des modernen Zombie-Mythos. Dabei zeigt sich unter anderem, dass uns die unheimlichen, apokalyptischen Gestalten immer schon näher waren, als wir dach ten. Dass das, was uns in seiner Monstrosität das absolut Andere, Fremde und Feindliche schien, Ausdruck eines grundlegenden Verdachts sein könnte, den wir gegen uns selber hegen. Zombies verkörpern wie kein anderes Mitglied der vielköpfigen, Völker, Religionen und Zeiten eklektizistisch umgreifenden Familie der Untoten zentrale Ängste der Men schen in den rast- und ruhelosen, durchtechnisierten und materialistischen Gesellschaften unserer Zeit: die Angst, ein seelen-, sinn- und heilloses Leben zu führen, allein auf den Körper und dessen Machbarkeiten reduziert; und die Angst, komplett fremdbestimmt zu werden, durch Alltag, Arbeit, Drogen, Technik.

Die Popularität der Zombies ist erklärungsbe dürftig. Kein anderes Monster erinnert auf so erschreckende Weise an die Sterblichkeit des Menschen, an dessen reine Körperlichkeit und potentielle Seelenlosigkeit. Die lebenden Toten repräsentieren dabei auf allegorische Weise zu gleich den Horror der miserablen Gegenwart und apokalyptischen Zukunft des Menschen. Aber Zombies, diese Wesen, die weder lebendig noch tot sind, gehören ebenso auch in die Reihe der Menschenschöpfungen, der Androiden, Cyborgs und Klone, welche auf utopisch-dystopische Weise das Verhältnis von Leben und Tod verhandeln.

zombiekultur

In den 1930er Jahren wurde der Haitianische Voodoomythos des Zombies in die Populärkultur übersetzt. Filme wie White Zombie (1932 ) und I Walked With a Zom bie (1943) stellten die lebenden Toten als fremdgeleitete, somnambule Sklavenwesen dar. Das Schlagwort Zombie erwies sich dabei als hochgradig effektiv, machte in den 1950er Jah ren eine B-Movie-Karriere und wurde zu einer oft besungenen Ikone der amerikanischen Trashund Popkultur. Seitdem George R. Romero 1968 mit Night of the Living Dead eine paradigmatische Auffassung des Zombies ein führte, welche er 1978 mit Dawn of The Dead verfeinerte, verschob sich der Fokus des Zombiefilms von der Beziehung von master und slave zum ebenso unentscheidbaren wie unheimlichen Status des weder lebendigen noch toten Zombiekörpers. Mit Romeros »zombie invasion narrative«, dem Angriff der in Massen auftretenden lebenden Toten auf die wenigen

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überlebenden Menschen, erhielt der Zombie film Genre- und der Zombie selbst Speziescha rakter. Vor allem italienische und spanische Produktionen pflegten dann in den 1970er und 80er Jahren die Splatter- und Goreelemente des Zom biefilms.

Aber die Geschichte der Zombies findet kein Ende. Der Literaturwissenschaftler Kyle William Bishop spricht in seinem 2010 publizierten Stan dardwerk American Zombie Go thic geradezu von einer »Zombie Renais sance« und bezieht dies nicht nur auf die zu Be ginn des 21. Jahrhunderts ansteigende Flut an Zombiefilmen, sondern auch auf deren zuneh mende Bedeutung in PC -Spielen und Graphic Novels. Noch bemerkenswerter ist die häufige Verwendung der Metapher des Zombies, welche in den Computer- und Neurowissenschaften sogar wissenschaftlichen Gehalt bekommen hat. Es lässt sich mit Recht vom Entstehen einer Zombiekultur sprechen. Eine Attraktivität des Zombiefilms besteht in dessen Offenheit für ei ne zeitkritische Allegorisierung: Rassismus und Krieg, Kapitalismus und Konsumgesellschaft, Ausgrenzung und Unterdrückung von Minder heiten, Biotechnologien und Pandemien, 9/11 und War on Terror all diese Phänomene sind in Zombiefilmen verarbeitet worden. Zombies verkörpern ebenso existenzielle wie gesellschaftliche Ängste. Mittlerweile werden die Zombies begleitet von einer gewaltigen und stetig anwachsenden Menge an filmanalytischer, literaturund politikwissenschaftlicher sowie philosophischer Literatur. Der Zombie ist eine imaginärphantastische Figur, die Erkenntnisse über un ser heutiges Dasein liefert, wie vergleichsweise nur noch der Cyborg. Es kann daher nicht er

staunen, dass Donna Haraways berühmtes Cyborg Manifesto durch ein Zombie Manifesto ergänzt wurde. Es ist die Schwellenexistenz zwischen Leben und Tod, Natur und Kultur sowie Realität und Fiktion, welche den Zombies in posthumanistischen Diskursen eine bedeutungsvolle Position einräumt.

leben und tod

Zombies sind weder tot noch lebendig. Ihre un versöhnliche Existenz reflektiert jenes biotechnologische Projekt, welches die Ausbreitung und Regulierung menschlichen Lebens mit der Zu rückdrängung und Kontrolle des Todes verbin det. Evolutionstheorie und Zellforschung hat ten Ende des 19. Jahrhunderts die Frage nach Leben und Tod neu gestellt und nach Erklärungen dafür gesucht, wie der Tod in lebende Mehr zeller eindringt. Die demografische und medizinische Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die längere Lebensdauer sowie der Rück gang der Säuglings- und Kindersterblichkeit, forcierten zugleich den Rückzug des Todes in die fortgeschrittenen Lebensjahre. Zwischen Leben und Tod lässt sich keine Grenze ziehen, lautete die entsprechende biologische Wahrheit, denn der Tod entwickelt sich aus dem Leben. Biopoli tik bedeutet dabei, das Reich des Lebens zu ver größern und die Herrschaft des Todes, die Ne krobiose, zu schwächen. Die Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts waren damit befasst, jede einzelne Todesart zu bekämpfen sowie zu nächst das Altern und schließlich den Tod selbst in Frage zu stellen. Damit aber stellte sich die Frage nach der ebenso ontologischen wie episte mischen Beschränktheit des menschlichen Kör-

pers. Die biotechnologische Neuerfindung des Menschen durch Genselektionen oder physio logisch-chirurgische Manipulationen des plastischen Körpers trat in radikale Konkurrenz zum aufklärerischen Projekt der disziplinierenden und erzieherischen Verbesserung des Menschen. Körper- und Seelenbildung standen in einem prekären Verhältnis zueinander.

Der perfekte Körper ist seit dem 19. Jahrhundert ein Produkt des biologischen und literarischen Laboratoriums. Unsterblichkeit und Unwandelbarkeit sind wiederum die Charakteristika des Androiden als biotechnologische Überwindung der unperfekten menschlichen Natur. »Wir an deren leben, wir sterben«, proklamiert der fikti ve Thomas Alva Edison in Auguste de Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future aus dem Jahr 1886, »die Androide kennt weder Leben, noch Krankheit, noch Tod. Sie ist über alle Unvoll kommenheiten, alle Hinfälligkeiten erhaben; die Schönheit des Traumes behält sie bei.« Was diese Androide, die perfekte Frau, zuvorderst auszeichnet, ist die Überwindung des Todes, die vollkommene körperliche Gestaltung, welche sich dem Verfall entzieht. Aber als Geschöpf er mangelt es ihr an Seele. Wie in Trance folgt sie ihrer vorgegebenen Bestimmung und mit Me lancholie erlebt sie, dass sie niemals Mensch sein wird. Die misslungene Subjektwerdung ist schließlich auch ihr Todesurteil. Hanns Heinz Ewers’ 1911 veröffentlichter Schauerroman Al raune. Die Geschichte eines lebenden Wesens war dann bereits ein Kommentar zu jenen neuen experimentalphysiologischen Methoden der Transplantation und künstlichen Befruchtung, welche es, so der Hallenser Anatom Wilhelm Roux, ermöglichten, »die Bil

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dung der Lebewesen experimentell nach unserem Willen zu leiten«. Auch Alraune, das Laborprodukt der Schwängerung einer Prostituierten mittels des Samens eines gerade hingerichteten Verbrechers, bleibt seelenlos. Somnambul reißt sie die Männer ins Verderben und muss notwen digerweise sterben. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren die Lebenswissenschaften, na mentlich die entstehende Transplantationsme dizin und Hormonforschung, auf die Verlänge rung und Verjüngung des Lebens ausgerichtet. Die »Elemente des Lebens«, Organe und Glied maßen von Tieren und Leichen, dienten zugleich als Rohstoffe zur Reparatur und Optimierung des menschlichen Körpers. Mit den Techniken der Transplantation wurden jene Demarkationen wie natürlich und künstlich, eigen und fremd, le bendig und tot, Mensch und Tier experimentell aufgehoben. Damit war aber zugleich die Angst verbunden, dass die implantierten Fremdkörper die Kontrolle über den Körper übernähmen. weder lebendig noch tot

Auf dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts ent wickelten biotechnologischen Utopie der Verbesserung und Überwindung des Menschen basierten auch die seit den 1960er Jahren formulierten Erwartungen an den Cyborg als Mensch-Maschinen-System sowie an den Klon als genetisch verändertes, potentiell sogar Verstorbene reprodu zierendes Lebewesen. Die kybernetische Logik eines Posthumanismus verband sich mit dem transhumanistischen Arsenal von Klonierung, Lebensverlängerung, Implantaten und Prothe sentechnik. Die phantastischen Körper der Jahrtausendwende sind entfleischlicht und enthistorisiert. Der Überwindung des Menschen ent sprach dabei der Tod des Subjekts, die Verflüchtigung aller Bedeutungen, mit denen der Mensch überhaupt erst stabilisiert worden war. Werden in der Zukunft so wird seit Ende des 19. Jahr hunderts gefragt Menschen, die ihr Mensch sein überwunden haben, existieren, die ewig jung, wenn nicht gar unsterblich sind, die sich vor keinen Krankheiten sorgen müssen, in einem System technischer Erweiterungen leben, sich ständig neu erfinden und mit bisher nicht bekannten psychophysischen Kräften ausgestattet sind? Oder werden vielmehr Monstrositäten als schreckliche Ergebnisse fehlgegangener oder böswilliger Experimente, als entseelte, technisch zugerichtete und hierarchisch recodierte Geschöpfe hergestellt?

Sarah Juliet Lauro und Karen Embry bedenken in ihrem Zombie Manifesto , dass der em phatische Posthumanismus eher Zombies als Cyborgs hervorbringe. Die lebenden Toten wä ren zudem das angemessene Phantasma, um den Posthumanismus und den Tod des Subjekts als zukünftige Existenz bewusstloser Wesen in einem Schwarmorganismus zu Ende zu denken. Der einzelne Zombie, langsam, schwankend, angetrieben durch Instinkte und vage Erinnerungen, ist schwach und verloren, es ist die Masse, die ihn stark macht, eine schmatzende, ächzende Menge, ziellos erscheinend und doch ausge richtet auf ein Ziel.

Zombies sind posthuman, weil sie die Frage nach Leben und Tod auf neue Weise stellen. Sie sind zunächst ein Paradox, denn sie sind unentscheidbar tot und lebendig. Den Zombies kann kaum das Potential einer emanzipatorischen Befreiung zugeschrieben werden, wie Haraway es mit ihrer Aneignung der Cyborgs getan hat. Gleichwohl eigneten sich Zombies gleichzei-

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tig lebend und tot, Subjekt und Objekt, Sklave und Rebell als ein theoretisches Modell, wel ches mit Macht und Geschichte gesättigt ist.

dinge und menschwerdung

Der Zombie ist zugleich Antagonist und Prota gonist der Menschenschöpfungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Er karikiert das ewige Leben und vollendet zugleich das posthumane Projekt. Im Blog antagonist geht es dabei dem Au tor Rodney noch nicht weit genug: »A zomby is the material realization of the perpetual post ponement of humanity. […] It is a thing among things. To some that’s the most horrifying pro spect possible.« Eben diese Verdinglichung ermög licht es den brutalisierten menschlichen Überlebenden in allen Romero-Filmen überhaupt erst, die lebenden Toten gnadenlos und durchaus lustvoll zu jagen und zu töten. Verworfen als »these things« müssen die Zombies von den Menschen auch nicht mehr als ihresgleichen behandelt werden. In Dawn of the Dead werden sie als »low life bastards« beschimpft; in Day of the Dead sind sie schlicht »dumbfucks«. In allen von Romeros Zombiefilmen hat sich die menschliche Gesellschaft trotz des schockierenden Erscheinens der lebenden Toten nicht geändert: Die Klassenverhältnisse machen weiter, der Rassismus macht weiter, der Sexismus macht weiter. Gefährlicher noch als die Zombies, dazu mahnt auch Max Brooks Zombie Survival Guide , sind die marodierenden Menschen banden, die sich immer dann bilden, wenn ge sellschaftliche Strukturen sich auflösen. Aber damit gibt Romero der Geschichte der Zombies eine überraschende Wendung, die durchaus als Kommentar zum posthumanistischen Projekt verstanden werden kann. Die Zombies wirken bereits seit Dawn of the Dead eher me lancholisch, gedankenverloren, verwirrt, als trenne sie nur noch ein Schleier vom Menschsein. Zombies, es sei an ihre ursprüngliche Sklavenexistenz erinnert, sind rebellierende Wesen, sie rebellieren gegen den Tod, aber auch gegen jene Menschen, welche ihnen Menschlichkeit absprechen.

Es ist just der verrückte Wissenschaftler Dr. Lo gan aus Day of the Dead , welcher die Ver menschlichung der Zombies einleitet, indem er seine Forschungsarbeiten zum Zombiegehirn in ein aufklärerisches Experiment ähnlich der Erziehung des Wolfsjungen verwandelt. Logan versucht einem Zombie namens Bub soziales, zivilisiertes Verhalten beizubringen, ihn al lerdings mittels Belohnungen in Form von fri schem Menschenfleisch zu konditionieren. Tatsächlich erinnert sich Bub bald an Praktiken aus seinem menschlichen Leben, er versucht sie auszuführen und lernt sogar wieder zu sprechen. Als Logan von verständnislosen Militärs umge bracht wird, zeigt Bub Zeichen der Trauer und Wut. In Land of the Dead sind es die le benden Toten schließlich selbst, die lernen, wie Menschen zu sein. Sie kommunizieren unter einander, um den Zombieaufstand gegen die Lebenden zu organisieren. Sie werden wieder zu Subjekten, sie handeln eher rächend als hungrig. Die Zombies, Romero spart nicht mit den Tro pen der Ichbildung, betrachten sich sogar erken nend im Spiegelbild. Die Seele kehrt in den zer störten Körper zurück. Aus dem »they’re not your neighbours«, welches die Vernichtung der Zombies durch die Verwandlung gewöhnlicher Leute in animalisierte Unmenschen begründe te, wird schließlich in Day of the Dead

ein »they are us«, die Wiederaufnahme der Zombies in eine zur Entwicklung fähige Menschen gemeinschaft.

In dem Film Otto; or up with Dead People von Bruce LaBruce, welcher 2008 Romeros Narrativ mit einer besonderen Pointe fortschreibt, sind die Zombies bereits nichts Au ßergewöhnliches mehr. Sie haben sich weiter entwickelt, verfeinert und in begrenztem Um fang das Sprechen und Argumentieren gelernt. Ein Off-Kommentar deutet dies als einen Evo lutionsprozess. Jede Generation von Zombies sei vernichtet worden, weil sie die Menschen an ihre Sterblichkeit und ihr eigenes somnambules Verhalten erinnert hätten. Diejenigen, wel che die brutale und unablässige Feindseligkeit der Lebenden überlebten, gaben ihre erworbene Intelligenz weiter. Otto, der Held dieses schwu len Zombiefilms, ein bedauernswert, aber nicht unsexy aussehender lebender Toter mit einer Identitätskrise und Seelenstörungen (»he loo ked extremely abject«, unterrichtet uns die Stim me aus dem Off), stellt auf authentische Weise jene innere Leere und Suche nach intensiven Reizen dar, welche die angemessene Existenzweise in einer toten und sterilen Welt ist.

die humanisierung der zombies

Zombies sind auch heute zumeist jene verwor fenen Bestien, als welche sie in den 1970er Jah ren Karriere machten. Exemplarisch sei auf Danny Boyles 28 Hours Later (2002 ) verwiesen, in dessen postapokalyptischem Szena rio auch wenn dabei eher das Pandemiethe ma, wie es David Cronenberg mit seinen Filmen Shivers (1975) und Rabid (1977) eingeführt hatte, als das klassische Zombienarrativ verwen det wird sich Menschen in kürzester Zeit in blutrünstige Menschenjäger verwandeln, deren Tötung nicht nur legitim, sondern lebensnotwendig erscheint. Aber Romero hat eine von LaBruce anschaulich kommentierte Charakteristik des Zombies eingeführt, welche die Frage des Um gangs der Lebenden mit den Untoten ganz an ders beantwortet. Die Humanisierung der Zom bies gemahnt an das Zombieleben, welches die Menschen im Kapitalismus selbst führen und ermöglicht damit Empathie, wenn nicht sogar Identifikation. In Dawn of the Dead schwärmen die Zombies in einem Einkaufszentrum aus, wo sie rudimentäre Rituale des Kon sums vollziehen. Zombies agieren instinktiv und haben dabei eine vage Erinnerung an ihr Leben im Kapitalismus. Sie sind auf verdrehte Art seelenlose Konsumenten geblieben. Die Menschen selbst sind lebende Tote, vermerkt wiederum LaBruce ebenso lakonisch wie sar kastisch, sie sind »lonely, empty, dead inside«. Die Figur Otto ist vor allem deshalb der ideale Darsteller für einen Film namens Up with Dead People , welchen die Filmemacherin Medea drehen will, weil er so authentisch wirkt. Gleichwohl ist es nur sein Styling das bleiche Gesicht, die dreckig-zerrissene Kleidung, der Gestank , welches ihn von den lebenden Dar stellern des Films unterscheidet. Zombie ist eine Bezeichnung für alle jene Exis tenzen, welche von den zunehmend brutalisier ten Lebenden verachtet und verworfen werden. Auch Otto wird in einem Hinterhof von jugend lichen Migranten so kompliziert sind die Verhältnisse zusammengeschlagen. Die Humanisierung der Zombies reflektiert die Dehumanisierung der Lebenden. Dies aber reagiert mit jenem ebenso phantastischen wie politischen Pro-

jekt, das eine zukünftige biotechnologische Ras se verkündet, welche endlich die Schwächen des Menschseins, die Müdigkeit, Trägheit, Sterblichkeit, überwunden haben wird. Je mehr Cyborgs phantasiert werden, desto größer wird jedoch auch die Zahl der lebenden Toten als derjenigen apathischen Mangelwesen, welche der posthumanen Spezies nicht angehören. Es sind nicht von ungefähr die Alten, welche immer wieder als in Massen auftretende Untote dargestellt werden. Schon in den Utopien des frühen 20. Jahrhun derts waren sie dem Tod zu nahe, um in die neue Menschheit aufgenommen zu werden. Es ist der Grundgedanke des Posthumanismus, dass die Zukunft von alten Menschen befreit sein wird, und entsprechend eine luzide Idee des franzö sischen Regisseurs Robin Campillo in seinem Film Les Revenants (2003 ), die Toten, in der Mehrzahl ordentlich gekleidete Alte, plötz lich wieder zu den Lebenden zurückkehren und ihren Platz in der Gesellschaft einfordern zu las sen. Ein stummer Appell, der ihnen tatsächlich auch mit allem administrativen Aufwand ge währt wird. Aber diese Zombies haben keines wegs vor, auf friedliche Weise mit den Lebenden zu koexistieren, sie kommunizieren auf klandestine Weise und sabotieren schließlich die post moderne Welt mit einem Bombenanschlag. Die Geschichten und Wunden der Zombies wi dersprechen dem biotechnologischen Perfekti onismus des Cyborgs. Der posthumanistische Tod des Subjekts ist keine Option für jene zum Abschuss freigegebenen Untoten, die als Ver worfene und Ausgeschlossene, als gesellschaft lich Tote, ihre Subjektwerdung immer wieder erkämpfen müssen. Dieses Mensch-Werden kann sich als Rebellion wie bei Romero, als Hipness wie bei LaBruce oder als Terrorismus wie bei Campillo vollziehen, immer ist es ein Rekurs auf die Möglichkeiten der Veränderung und Historizität, welcher der erstarrten Ordnung, wie sie der Cyborg repräsentiert, widerspricht. Lie ber Zombie als Cyborg!

Heiko Stoff , *1964 , ist Wissenschaftshistoriker in Braunschweig. Er hat ein Buch zur Geschichte der Verjün gung geschrieben: Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln, Weimar: Böhlau, 2004. Zur zeit beschäftigt er sich mit einer Geschichte der Wirkstoffe , welche 2011 erscheinen wird.

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wenn in der hölle kein plat z mehr ist

Literatur und Film sind die Medien, die sich am stärksten den Figuren des Unto ten widmen. Dabei ist es keineswegs so, dass diese Figuren immer wieder fröh liche Urständ als Klischees feiern. Marcus Stiglegger zeigt am Beispiel der Ge schichte der Zombie-Filme, wie sie auf gesellschaftspolitische Kontexte reagieren und welche Wandlungen die Zombies im Laufe ihrer (Film-)Geschichte durch gemacht haben.

Der wiederkehrende Tote ist eine Konstante der unheimlichen Phantastik, die sich in zahlreichen Konzepten und Subgenres verdichtete. Dabei besteht eine unleugbare Verwandtschaft zwi schen all jenen Kreaturen des Reiches zwischen Leben und Tod: dem blutsaugenden Vampir, der wiedererwachten Mumie, dem leichenfressenden Ghul und schließlich dem auferstandenen Leichnam, dem Zombie. So bedrohlich diese Wesen erscheinen mögen, so tragisch gebärden sie sich zugleich. Die Untoten ha ben den Tod transzendiert und vertreten jenseits des menschlichen Lebens dessen Kontinuität. Dieses Weiterleben hat seinen Preis: eine ewige Suche nach Nahrung (Blut, Fleisch) oder nach Rache an den Lebenden. Gerade in den modernen Adaptionen wird immer wieder die Tragik dieser Zwischenwesen deutlich: Wenn sich die Untoten an ihre menschliche Existenz erinnern und diese zerrbildhaft wiederholen, wenn der Vampir die Ein samkeit seines ewigen Lebens beklagt oder die Mumie nach der verlorenen Liebe sucht, dann erscheinen diese vermeintlichen Schreckenswesen letztlich menschlicher als ihre Jäger. Als mo dernste Variante der Untoten wenn zweifellos auch als primi tivste hat sich der Zombie erwiesen: der auferstandene Tote als Metapher für den ewigen Kreislauf des Lebens und dessen wiederkehrende Strukturen über den Tod hinaus. Doch wo her kommt diese auf den ersten Blick tumbe, kannibalische Spe zies, die sich aus Infektion und Seuche generiert?

Der Begriff Zombie entstammt der afrikanischen Sprache Kim bundu und bedeutet ›Totengeist‹ (nzùmbe). Durch die Ver schleppung afrikanischer Sklaven nach Mittelamerika (speziell auch Haiti) wurden einst Elemente afrikanischer Kulte von einem Kontinent zum anderen transferiert und verschmolzen mit Teilen christlicher Religion zu einem vielschichtigen Syn kretismus. Als Haiti unter US -amerikanischer Besatzung stand (1915 1934), verbreiteten sich Begriffe und Elemente des VoodooKultes bis in die Südstaaten Nordamerikas, wo diese populari siert und mythisiert wurden. So wird dort noch heute der VoodooZauber (hoodoo) gefürchtet und verehrt. Unter einem Zombie Cadavre versteht man im Voodoo-Kult einen Menschen, der mittels eines Pulvers getötet wird und wenig später als willenloses Wesen wieder aufersteht, um dem Priester (houngan) zu dienen. Lange hat die Ethnobotanik nach Erklärungen für den Effekt dieses mysteriösen Pulvers gesucht. So geht der Ethnologe Wade Davis davon aus, dass dabei das Kugelfischgift Tetrodotoxin in Wechselwirkung mit der Datura-Gurke Verwendung findet. Andere Ansätze gehen davon aus, dass die wenigen als ›Zombies‹ bekannten Menschen schlicht fehlidentifizierte, geis teskranke Obdachlose seien. Der Mythos jedoch besagt, diese Menschen seien einst gestorben und als Zombies wieder erwacht, was sie zu apathisch herumirrenden verlorenen Seelen degra diere. Davis konterte später mit der These, dass alle ermittelten Faktoren, biologische wie soziale, am Prozess der Voodoo-Zom bifikation beteiligt seien (Davis 1988 1, S. 212 ). Wichtig sei jedoch vor allem der Glaube an die Wirksamkeit der Rituale eine These, die Wes Cravens Verfilmung von Davis’ erstem Buch The Serpent and the Rainbow (dt.: Die Schlange im Regenbo

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gen, 1987) phantasievoll ›widerlegte‹. Und nicht zuletzt Cravens Film verweist auf eine politische Dimension dieses Kultes: auf die Angst der Bevölkerung, willenlose (zombifizierte) Marionet ten einer tyrannischen Diktatur zu werden. Ausgerechnet ›Papa Doc‹, einem haitianischen Diktator, sagte man den Hang zu Voo doo-Praktiken nach.

Da andererseits die Angst vor der Wiederkehr der Toten als menschheitsgeschichtliche Universalie begriffen werden kann, beziehen sich zahlreiche religiöse Ursprungsmythen auf Ideen der Wiederauferstehung der Toten. Aus Vorsicht wurden daher Totenwachen und Bestattungsrituale eingeführt, die diese be ängstigende Wiederkehr verhindern sollten. Dennoch tauchen sie auf: die Untoten, die Wiedererwachten, die ruhelos Umher wandernden. Direkt bezogen aus der Popularisierung haitianischer Mythen wandte sich Hollywood bald einer filmischen Ad aption zu. White Zombie (1932 ) von Victor Halperin mischte Motive von Kolonialismuskritik, Sklaverei-Problematik und religiösem Synkretismus zu einem beängstigenden Modell, das direkt aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit generiert wurde. Die Voodoo-Religion gedieh auf Haiti zunächst als Form der Abwehr gegen die französische Kolonialmacht und brachte zahl reiche Geheimorganisationen hervor, die Geschichten von Zom bifizierung und ewigen Flüchen florieren ließen. Zugleich war Voodoo die Religion der ehemaligen Sklaven, deren Wut sich ge gen die Plantagenbesitzer richtete. In White Zombie wird der Voodoo-Zauber missbraucht, um private Begierden zu be friedigen und willenlose kapitalistische Sklaven zu züchten. Die totale Verfügbarkeit des Körpers der Endpunkt des radikalen Kapitalismus steckt bereits in diesem ersten filmischen Bei spiel als latent kritischer Subtext.

Den einflussreichsten Filmklassiker dieses Voodoo-Subgenres schufen Jacques Tourneur und Val Lewton mit I Walked With a Zombie (dt.: Ich folgte einem Zombie, 1942 ). Dramatur gisch orientiert an dem Brontë-Roman Jane Eyre erzählt der Film auf der ersten Ebene von einer Krankenschwester (Frances Dee), die nach Jamaika geladen wird, um sich dort um die see lisch kranke Ehefrau (Christine Hordon) eines Plantagenbesit zers (Tom Conway) zu kümmern. In den geheimnisvollen Ritu alen der Jamaikaner lernt sie eine mächtige fremde Welt kennen, die sie umgehend nutzen möchte, um die Patientin von ihrer Apathie zu heilen. Doch diese steht bereits im Banne eines Voo doo-Zaubers. Wiederum kann man die Zombifikation hier als eine politische Metapher verstehen, als Abwehr gegen den kolonialen Machteinfluss. Diese politische Metapher bemühten auch die britischen Hammer Studios in The Plague of the Zombies (dt.: Nächte des Entsetzens, 1965) von John Gilling. Der Film zeigt, wie im viktorianischen England ein Adliger den Voo doo-Zauber als kolonialistische Beute nach Cornwall bringt und sein Bergwerk mittels willenloser untoter Arbeiter betreibt. Deut licher noch als in White Zombie wird hier das Horrormotiv der Zombies als Metapher für die ausgebeutete Arbeiterklasse ge nutzt, die der kontrollsüchtigen Herrschaftsschicht zunächst völlig ausgeliefert ist. Gleiches gilt für die Gender-Verhältnisse.

Die aufgeklärten Ärzte haben diesem Ausbeutungssystem kaum etwas entgegenzusetzen. Auch die Angst vor einer Rache der aus gebeuteten Kolonialreiche spielt in diese Variationen hinein. Es blieb dem amerikanischen Kino überlassen, das Zombiephä nomen restlos zu modernisieren und dem Atomzeitalter anzu gleichen, welches die Kolonialreiche längst ersetzt hatte. Diese Modernisierung des Horrorgenres setzte im Jahr 1968 mit Filmen von Roman Polanski, Stanley Kubrick und George A. Romero ein (Nicholls 1984 , S. 68 ). In der Nachwirkung des Zweiten Welt krieges, des Holocaust, des Koreakrieges, des Kalten Krieges und unter dem frischen Eindruck des langsam eskalierenden Viet namkrieges kam Romeros Independent-Produktion aus der Ar beiterstadt Pittsburgh mit dem prägnanten Titel Night of the Living Dead (dt.: Die Nacht der lebenden Toten, 1968 ) in die Kinos. Der wohlige Schauer der schwarzen Romantik wurde hier durch eine soziopolitische Komponente ersetzt, denn der Film entstand aus Romeros Wut über ein Amerika am Abgrund des Totalitarismus. Während die lebenden Toten hier ein ein sames Landhaus belagern, entspinnt sich darin ein Konflikt zwi schen den höchst unterschiedlichen Mitgliedern dieser Zufalls gemeinschaft. Nur dem einzigen Schwarzen im Haus gelingt es zu überleben um schließlich von der anrückenden Bürger wehr erschossen, mittels Fleischerhaken hinausgeschleift und mit den anderen Kadavern verbrannt zu werden ein deutlicher Verweis auf die Holocaust-Ikonografie. Romero stellt eine unge wohnte Frage: Sind es nicht die Menschen, die sich selbst ver nichten? Sind die kannibalischen Untoten wirklich gefährlicher als die rassistische Bürgerwehr? Sind die infizierten und nun un toten früheren Menschen nicht immer noch ein Teil dessen, was sie einst waren selbst wenn ihr Appetit auf das Leben nun töd lich ist? Romeros Zombies entstammen nicht dem VoodooZauber sie sind von Menschen beschworen und werden zur »ansteckenden Allegorie« (Shaviro 1993 ).

Zehn Jahre später entstand die offizielle Fortsetzung Dawn of the Dead (dt.: Zombie, 1978 ), die jene unvergessliche Werbezeile trug: »Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kehren die Toten auf die Erde zurück.« Das ist die zaghafte Erklärung des jamaikanischen Protagonisten dieser modernen Variante eines Apokalypse-Gemäldes, warum die Toten zurückkehren. In Ro meros Untergangsszenario kämpft sich eine kleine Zufallsge meinschaft durch das von kannibalischen Untoten verseuchte Amerika und verschanzt sich schließlich in einem Einkaufszent rum, in dem die Zombies gleichsam aus Erinnerung und Ge wohnheit die Flure der Geschäfte durchstreifen. Romero betont noch einmal, was diese Toten tatsächlich sind: einfache tote Amerikaner, die es ins Leben zurückverschlagen hat. Der Schau platz qualifiziert Romeros Dawn of the Dead als KonsumSatire, in der der überlebende Mensch selbst zum letzten Kon sumgut geworden ist: als Nahrung für die Untoten. Wie zuvor in Night of the Living Dead ist der autoritären Gewaltlö sung hier kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Bürgerwehr, ge walttätige Rocker und rechte Milizen fallen ihrer eigenen Destruktivität zum Opfer. Dawn of the Dead wirft erstmals

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die ewige wiederkehr der untoten als politische metapher

die bange Frage auf, ob der Mensch in einer Welt der lebenden Toten nicht selbst zum Störfaktor geworden ist. Bei Romero ist der Zombie endgültig zu einer Metapher geworden für das mo derne Leben im Leerlauf. Nicht die ums Überleben kämpfenden Menschen sind die Norm, sondern ihre untoten, apathischen Gegner, die zwischen Vorortsiedlung und Einkaufszentrum um hertorkeln. Das kapitalistische Konsumsystem ist jene Hölle des Gleichen, aus der nur der Untote selbst sich befreien kann.

Auch wenn diese metaphorische Revolte der Untoten noch eini ge Jahre auf sich warten ließ, etablierte sich der moderne Zombie in der Populärkultur zwischen Comics, Musikvideoclips, Gen refilmen und Computerspielen. Der tumb-gefährliche Untote taugte bald als lustiger Sidekick und erschien als seine eigene Parodie. Den wahren Overkill einer Zombiekomödie inszenierte der Neuseeländer Peter Jackson mit Braindead (1992 ), wo nach und nach eine idyllische neuseeländische Vorstadtsiedlung in rasende Untote verwandelt wird, die am Ende nur noch mit tels Rasenmäher dezimiert werden können. Splatterexzess und Slapstickkomik verbinden sich hier zu einer übermütigen Horrorparodie, die zugleich die bürgerliche Konsumgesellschaft scho nungslos vorführt. In Großbritannien zeigte Edgar Wright mit Shaun of the Dead (2004), was passiert, wenn ein etwas linkischer Loser (Simon Pegg) feststellen muss, dass sein Lieb lingspub von aggressiven Zombies belagert wird. Da wehrt man sich zur Not mit den Lieblingsschallplatten, die als Wurfge schosse dienen. Mehr als zuvor entspricht der apathische Groß städter hier jenem umgangssprachlichen Klischee des ›Zombies‹, jener antriebslosen und fremdgesteuerten Kreatur, so dass der Übergang vom menschlichen ›Zombie‹ zum tatsächlichen Untoten nur noch als logischer Schritt erscheint. Aus einstigen Schre ckensfiguren sind in diesen ironischen Modellen mitleiderre gende und tragikomische Wiedergänger geworden, die mensch licher als der Mensch wirken. Der Protagonist bemerkt zunächst nicht einmal, dass er von wankenden Untoten umgeben ist, als er morgens zum Kiosk geht, so natürlich erscheinen diese in ihrer urbanen Umgebung. Der Zombie ist erneut zur Chiffre für bür gerlichen Leerlauf und gesellschaftliche Apathie geworden, dies mal jedoch in der gezähmten Form der Parodie. Bald war auch die Idee, dass die Lebenden mit den Toten zusam menleben, eine fruchtbare Konstante. In der amerikanischen Komödie Fido (dt.: Fido – Gute Tote sind schwer zu finden, 2006 ) hat man aus der Not einfach ein Dienstleistungssystem gemacht. Auch hier werden wieder Erinnerungen an das ökonomische Sklavenmodell der frühen Voodoo-Varianten deutlich. Wenn nur der kannibalische Trieb nicht wäre. Den Menschen gelingt es nicht wirklich, die Untoten zu unterwerfen. Konsequent spie len schließlich die Coming of Age-Varianten Jennifer’s Bo dy (2008 ) von Karyn Kusama und Dead Girl (2008 ) von Marcel Sarmiento und Gadi Harel die eher randständige Idee der sexuell attraktiven untoten Frauen durch, die jedoch erheblich eigenwilliger erscheinen als erwartet. Der von Romero bereits angedeutete eigene Charakter der Wiedergänger(innen) kommt hier voll zur Entfaltung. Die Untoten sind von der ursprüngli-

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chen Bedrohung über die billige Arbeitskraft zum Objekt sexueller Begierden geworden, das sich aggressiv von dieser Objekthaf tigkeit emanzipiert.

Viele dieser Ansätze hatte George A. Romero in seinen Visionen eines untoten Amerikas angelegt. Sein Day of the Dead (dt.: Zombie 2 – Das letzte Kapitel, 1984) erzählt vom letzten Wie derstand einer kleinen Gruppe von Militärs und Wissenschaft lern in einem unterirdischen Atombunker, die der Übermacht der Untoten trotzt und mit diesen experimentiert. Der Mensch ist des Menschen ärgster Feind, während sich die Untoten in stil ler Solidarität verbündet haben. Auch diese Idee ist vom zweiten Kalten Krieg in den 1980 er Jahren inspiriert. Die Zombies er scheinen hier eher als Metapher für die Wiederkehr der unter drückten ›Dritten Welt‹, die den Untergang der Privilegierten beschleunigen. Wieder sind eine Frau und ein Afroamerikaner in den Hauptrollen zu sehen, auch der vage Bezug zum haitia nischen Kontext taucht auf, doch letztlich ist der Film eine anti militaristische Parabel. Bemerkenswert erscheint der eigenwil lige Zombie Bub, der große Teile seiner menschlichen Vorexis tenz erinnert und sowohl mit der Waffe umgehen kann wie er auch vor den Militärs salutiert. Er wird seine Artgenossen in den Bunker führen und so zum Untergang der Menschen beitragen. Das ist der Beginn der Revolte der Untoten, die den apathischen Zustand überwinden, um so zum Zeichen des Aufbruchs zu werden. Der Zombie selbst ist der Held dieser Revolte. Die be schworene Apokalypse ist nur der Umschlagspunkt einer Welt, in der die Toten die Lebenden bereits abgelöst haben.

Nach dem Millennium radikalisiert sich die Darstellung der Un toten deutlich: Danny Boyle entdeckte das Motiv für seine bri tische Apokalypse 28 Days Later (2002 ) neu und griff das Motiv der tollwütig infizierten Untoten erneut auf, die mit ra sender Geschwindigkeit und unbändiger Aggression über die Menschen herfallen. Die Untoten hier erscheinen umso gefähr licher und bar jeder sozialen Romantik. Diese Gesellschaft der Tollwütigen ist nur noch auf Zerstörung programmiert, funktioniert jedoch besser als die zerstrittene menschliche Gemein schaft. Der Amerikaner Zack Snyders versuchte, all diese neuen Tendenzen in seiner Neuinterpretation von Dawn of the Dead (2004) auf den Punkt zu bringen, die weitgehend auf den grimmigen Humor des Originals verzichtet, dessen satirische Qualität preisgibt, und es somit erneut Romero selbst überlässt, den nächsten Schritt zu gehen. Snyders Phantasie ist eher von der Atmosphäre der amerikanischen Terrorangst geprägt, die wiederum an die Paranoia der Kalten Kriege (1950er/1980er) erin nert. Der weltweite kommerzielle Erfolg ebnete den Weg für Romeros zweite Zombie-Trilogie, die er umgehend mit dem postapokalyptischen Land of the Dead (2005) begann. Auch dieser in einer urbanen Menschenenklave angesiedelte Film weist deutliche politische Bezüge zu den paranoiden Tendenzen der Bush-Jr.-Regierung in den USA auf Dennis Hopper ist in seiner letzten großen Rolle als Präsident zu sehen er verlagert die Sympathien jedoch deutlich auf die Untoten. Diese proben

hier endgültig die Revolte und dringen, geführt von einem intel ligenten schwarzen Zombie, in den geschützten Bereich der letz ten Menschen ein. Der Erfolg des Films ermöglichte Romero, mit Diary of the Dead (2007) den Abschied von der Menschheit aus subjektiver Sicht einer studentischen Filmcrew zu feiern. In Survival of the Dead (2010 ) schließlich treten die Untoten selbst wieder ins Zentrum, während sich die Menschen auf einer isolierten Insel gegenseitig nach dem Leben trachten. Romero variiert sein Regularium hier erstmals, indem die Zombies statt menschlicher auch tierische Nahrung (ein Pferd) verzehren und sich wiederum den Menschen annähern, während die Menschen die lex talionis praktizieren und selbst zur tödlichen Bedrohung werden. Der Mensch erscheint als der eigentliche Störfaktor in einer Welt, die langsam ihre Balance wiederfindet. Das Stadium der Postapokalypse hat den Menschen eliminiert und die ›Zombies‹ von der horriblen Bedrohung zum legitimen Zeitgenossen befördert.

In jüngsten Beispielen in Film, Comic und Computerspiel ist al so eine neue Generation der Untoten zu beobachten: Die einst apathischen Schattenwesen sind heute klüger und schneller. Ihre ursprüngliche Regression erinnert nun eher an ein archaisches Raubtier mit überlegenen Instinkten und rebellischem Potenzial. Die infektiöse Verbreitung der Zombifikation wird immer wich tiger, während schauerromantische Motive der Auferstehung und des Fluchs und damit jene schwarze Romantik des 19 Jahrhunderts in den Hintergrund treten, wobei die Transfor mation in einen Zombie nun nicht mehr bedeutet, zum Spielball fremder Mächte zu werden. Die Gemeinschaft der Untoten er scheint vielmehr als funktionierende Gegengesellschaft, gewis sermaßen als Spiegel zu den Fragmenten der menschlichen Ge meinschaft, die sich in der Krise des Kapitalismus aufgerieben hat. Nach dem Cyborg und dem Prothesenmenschen kann der Untote als die erste wahrhaft aus dem Menschen heraus gene rierte posthumane Entität begriffen werden. Und stets reflektie ren Zombiefilme bewusst oder latent die Zeit ihrer Entste hung und nutzen die Metapher vom lebenden Toten mal als po litische, soziale oder satirische Basis. Während der Mensch der (post-)modernen Gesellschaft ganz auf autoritäre Strukturen zu vertrauen scheint und in seiner sozialen Passivität verharrt, er scheinen die Untoten als wahrhafte Gegengesellschaft mit aktio nistischem Instinkt und Überlebenswillen. Die Untoten, könnte man sagen, werden menschlicher als der Mensch, den sie nach und nach verdrängen und ersetzen. Was zunächst als Regression erscheint, entpuppt sich letztlich als unerwartete Evolution. Marcus Stiglegger , Dr. phil. habil., *1971, ist akademischer Ober rat für Film- und Bildanalyse an der Universität Siegen. Er studierte Filmwissen schaft, Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie, drehte Kurzfilme und Musikvideoclips. Zuletzt erschien von ihm Terrorkino. Angst/ Lust und Körperhorror im Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2010

von marcus stiglegger 19

weniger leben als gewinn

Karin Harrasser: Odradek, die Sorge des Hausvaters, ist in vielerlei Hinsicht ein Zwischenwesen. Was ist das Verunsichernde an Odradek?

die sorge des hausvaters von franz kafka

Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ih nen einen Sinn des Wortes finden kann. Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinan dergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschie denster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlun gen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Bei nen aufrecht stehen. Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derar tiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzuspre chen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern be handelt ihn schon seine Winzigkeit verführt dazu wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek«, sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz«, sagt er und lacht; es ist aber nur ein La chen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint. Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Soll te er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindes kinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.

Joseph Vogl: Zuallererst muss man fragen: Wer sorgt sich da, was ist das für ein Subjekt? Der Hausvater ist bereits zur Zeit Kafkas eine altertümliche Standesbezeichnung und meint, herkom mend aus dem Griechischen, den Hausvorstand, den Vorstand eines oikos. Wofür ist ein solcher zuständig? Der Hausvater ist zuständig dafür, dass die Dinge in einem Haus, in einem abge schlossenen Lebensraum alle ihren rechten Ort haben. Er ist da für zuständig, dass alle Dinge und Wesen ihren Zweck finden, dafür, dass sich dieses Haus, diese kleinste politische Einheit, or dentlich reproduziert. Als zweites stellt sich die Frage: Worauf bezieht sich seine Sorge? Seine Sorge bezieht sich darauf, das gu te Bestellen des Hauses zu gewährleisten. Es geht also um ein Subjekt, das die Verwaltung der Dinge und Wesen in einem ab geschlossenen Lebensraum richtig stellt. Und Odradek führt in dieses geordnete Gemeinwesen eine Irritation ein, die damit zu tun hat, dass alles im oikos einen Zweck haben soll, dass alle We sen nach ihren inneren Zwecken leben und vergehen und sich reproduzieren. Odradek hingegen fällt aus dieser Ordnung her aus, kennt keine Zweckmäßigkeit und macht damit eine Lücke im Weltzusammenhang des Hausvaters auf.

Harrasser: Es gibt im Text eine Spekulation darüber, ob dieses We sen Odradek sterben kann, also implizit darüber, ob es denn lebendig ist und sie wird beantwortet mit: Wahrschein lich nicht, denn es hat sich nicht verbraucht. Hat diese Antwort mit einem ganz bestimmten Lebensbegriff zu tun?

Vogl: Man müsste die Frage wahrscheinlich umdrehen, da Odra dek überhaupt keine Antworten gibt, sondern eine radikale Ge stalt der Frage vorführt. Es lässt sich eben nicht sagen, ob Odra dek lebendig oder nicht lebendig ist. Es lässt sich nicht sagen, ob es ein Ding oder ein Nicht-Ding ist. Es lässt sich nicht sagen, ob es eine Person oder eine Nicht-Person ist. Das lässt eine völlige Offenheit jeder kategorialen Zuschreibung aufblitzen. Keines der Wesensmerkmale bleibt an Odradek haften, alle Merkmale gleiten an ihm ab. Aber man kann umgekehrt auch nicht sagen, dass die Merkmale negiert werden. Es ist ein Sowohl-als-auchWesen. Sowohl lebend als auch tot, sowohl Person als auch Un person, sowohl Kind als auch Erwachsener, sowohl anorganisch als auch organisch. Dadurch ist es/er ein Gefäß, das Merkmale sammelt, die in ihrer Gesamtheit inkohärent oder unverträglich sind.

Harrasser: Die Figur des Untoten ist üblicherweise dadurch defi niert, dass sie weder lebendig noch tot ist. Er ist eine Figur des Mangels. Was Sie eben beschrieben haben, ist eher eine Figur der Überfülle. Das wäre dann eigentlich eine Gegenfigur zum Unto ten im alltäglichen Verständnis: Den Untoten den Vampiren und Zombies fehlt immer etwas, Kafkas Figuren fehlt nichts. Vogl: Es ist definitiv die Gegenfigur zum üblichen Untoten. In seiner Welt- und Ortlosigkeit ist das oder der Odradek nicht eine Gestalt des Mangels, sondern eine Gestalt der Überfülle, ein Sammelbecken von ungelösten, offenen Fragen.

Harrasser: Trifft diese Idee der Überfülle auch auf andere Zwi schenwesen Kafkas zu? Zum Beispiel auf den Affen Rotpeter oder auf Gregor Samsa in der Verwandlung ?

Vogl: All diese Wesen sind überdeterminiert und Schwellenwe sen, weil sie keinem bestimmten Bezirk zugeordnet sind. Sie le ben in Schwellenräumen, die sich durch unklare Aufenthaltsbe dingungen auszeichnen. Sie sind weder diesseitig noch jenseitig, weder unterirdisch noch überirdisch, weder spirituell noch ma teriell. Und vor allem Gestalten einer verminderten Humanität. Ihr Aufenthaltsort ist dort, wo man schon früher einem Lage rungsproblem begegnet ist: im Limbus. Thomas von Aquin hat den Limbus, die Vorhölle, als einen Ort definiert, in den Wesen geraten, die im christlichen Heilsprogramm keinen Platz finden, die ungetauften Kinder. Diese konnten trotz ihrer Unschuld nicht in den Himmel kommen, weil sie das Sakrament der Taufe nicht empfangen hatten, aber sie konnten aufgrund ihrer Un schuld auch nicht in die Hölle kommen, noch unbeschrieben von Verschuldungsprozessen. Die Wesen, die sich dort aufhal

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gespräch mit joseph vogl über die sorge des hausvaters und die untoten

ten, sind aus der Art geschlagene Wesen, die kein Bewusstsein vom göttlichen Heil haben und denen darum auch nichts fehlt, denen der Mangel an Heil zur Bestimmung geworden ist. Als nicht-klassifizierte Wesen sind sie Wesen der Fülle, aber als We sen der Fülle fehlt ihnen nur eines, nämlich ein Bewusstsein ei ner Heilsgeschichte, eines Heilsversprechens.

Ich denke, Kafka findet diese Wesen an einem ganz bestimmten Punkt besonders interessant: Sie sind eine Art Wünschelrute, um Existenzformen ausfindig zu machen, denen man mit einer radikalen Unschuldsvermutung begegnen kann. Es ist eine Suche nach einer Möglichkeit des Heraustretens aus einem Verschul dungszusammenhang im moralischen, im theologischen, im ökonomischen Sinn. Es sind anökonomische Wesen, die deswe gen so widerständig sind, weil sie den Bezirk des Menschlichen, des Anthropomorphen, der sehr eng mit Fragen der Schuld ver bunden ist, nicht bewohnen. Es sind Figuren, denen man nur begegnen kann, wenn man fragt, was in dieser Welt keinem Ver schuldungsprozess unterliegt.

Harrasser: Am Ende des Textes steht das Erschrecken des Hausva ters ob der möglichen Unsterblichkeit Odradeks. Wie kommt es zu dieser dramatischen Wendung?

Vogl: Der Text bedient sich insgesamt einer unpersönlichen Er zählweise und wechselt plötzlich am Ende ins »Ich« über. Der ganze Text ist eine Kaskade von Fragen, deren Beantwortung in Sackgassen endet: Der Name ›Odradek‹ ist sprachlich, etymolo gisch nicht identifizierbar, er/es ist begriffslos, unbegreifbar und unbegriffen. Odradek ist keine Metapher, sondern führt die Bo denlosigkeit des Operierens mit Metaphern vor. Der Bogen die ser Befragung führt überraschenderweise zu einem persönlichen, unmittelbaren, individuellen Getroffensein, als sich die Fragen in eine Selbstbefragung des Erzählers verwandeln. Am Schluss steht ein getroffenes oder verwundetes Subjekt. Hier erscheint tatsächlich etwas Untotes, etwas zwischen Leben und Tod, und das ist der schreckliche Rückschlag, der allen Fra gen des Hausvaters widerfährt. Wir begegnen hier nicht einfach nur einem Unheimlichen im Sinne Sigmunds Freuds, also dem Eigensten in fremder Gestalt, sondern dieses überlebende Wesen ist ein Speicher verfehlter, uneingelöster, versäumter Glücksmo mente.

Harrasser: Odradek ist also gattungsmäßig schwer zuzuordnen. Gleichzeitig führt er/es an eine ganz bestimmte Gattungsgrenze, nämlich die biologische heran. Die Frage nach der Gattung hängt spätestens seit Charles Darwin mit der Idee des Endes der Menschengattung zusammen. Geht von diesem Wesen eine In fragestellung der Menschengattung als solcher aus? Korrespon diert seine Unheimlichkeit mit einer Ahnung von der Möglich keit des Endes der Menschheit?

Vogl: Das ist mit Sicherheit eine Kraftlinie, die bei Kafka sehr wichtig ist, eine Neigungslinie, an der entlang eine schleichende Dehumanisierung vorgeführt wird, und dies vor dem Hinter grund der Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts. Man muss nur an eine sehr frühe Figur von Kafka denken, Leni im Prozess roman, die ihre Hand spreizt, und es wird zwischen Mittel- und Ringfinger eine Schwimmhaut sichtbar, ein Atavismus im ganz biologischen Sinn. Ganz Ähnliches finden wir in der Mensch werdungsgeschichte des Affen Rotpeter: Hier wird ein evoluti onsbiologisches Märchen auf den Kopf gestellt, es ist eine Paro die evolutionsbiologischer Gattungszuschreibungen. Es gibt bei Kafka eine intensive Befragung des Gesetzes der Gattung, inso fern damit das Gesetz schlechthin gemeint ist. Man könnte die kafkaschen Texte insgesamt, vor allem die größeren Roman formen, in denen es um ein Aufschreiben des Lebens geht, als ein schreibendes Arbeiten an der Gattungsgrenze des Menschen begreifen. Seine Texte führen an jenen Moment heran, an dem die Kongruenz von Bio-Grafie, dem Schreiben im Allgemeinen, Gattungsbestimmung, Klassifikation und Lebensform kollabiert oder verwirrt wird. Diese Verirrungen ergeben dann die seltsamen Schwellenwesen.

Harrasser: Eine weitere Spur des Untoten bei Kafka sind die Insti tutionen, in denen sie zirkulieren, denn Untote führen »unhero ische Überlebensformen« vor. Es gibt von Erving Goffman ei

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nen Begriff, den er auf Basis der ethnografischen Erforschung des Anstaltslebens entwickelt hat. Er nennt, was er dort protokolliert, »unterleben«, »sousvivre«. Würden Sie etwas Ähnliches auch für Kafkas unheroische Figuren konstatieren? Vogl: Das Auflösen der Identitätsform ist sicher ein wesentliches Moment. Wenn Leben in einem biopolitischen Sinn, wie er sich im 19. Jahrhundert formiert hat bedeutet, sich eine Le bens-Form zu geben, dann geht es bei Kafka darum, die damit verbundenen Zuschreibungen und Identitätsfiguren auf die Pro be zu stellen. Das Interessante an seinen Gestalten ist, dass in manchen Konstellationen etwas weniger Leben offenbar ein Ge winn ist. Es gibt eine Tendenz dazu, das Leben nicht durch Vita lität zu vollenden, sondern durch Subtraktionsformen des bios Ich denke, dies ist als eine Reaktion auf biopolitische Techniken zu lesen, die Kafka als Versicherungsbeamter gut kannte. Das betrifft die Frage nach der lebensgenerierenden Kraft des Rechts systems, die Frage nach der Verwaltung des Lebens durch Versi cherungen, die Frage eines Exzesses an Vitalität innerhalb mo derner Gesellschaften, nach einem Vitalitätszwang.

Harrasser: Mit Vitalitätszwang ist gemeint, dass Politik, Verwal tung und Ökonomie seit dem 19. Jahrhundert darauf gerichtet sind, die Bevölkerung dazu anzuregen, zu produzieren und sich zu reproduzieren?

Vogl: Ja, genau. Und Kafkas Schlussfolgerung daraus scheint zu sein, dass eine Minimierung von Zugriffsmöglichkeiten von Mächten (bürokratischen, administrativen, ökonomischen) zu nächst einmal eine Schwächung dessen voraussetzt, was man als Leben an sich bezeichnen kann. Ausgerechnet der Überschuss an Kräften, der Überschuss an Energien, der Überschuss an Vita lität ist die Vorbedingung einer sackgassenartigen Verwicklung in die Zugriffsmöglichkeiten von Macht.

Harrasser: Man könnte sagen, dass die derzeit in der Populärkul tur sehr häufig auftauchenden Untotengestalten ebenfalls eine Form des Unterlebens vorführen. Sie sind durch etwas wie man gelnde Vitalfunktionen bestimmt. Bezogen auf Ihre Ausfüh rungen wäre danach zu fragen, ob der Zombie genau deshalb vielleicht sogar eine Art Hoffnungsfigur geworden sein könnte, weil er Widerstände gegen den biopolitischen Zugriff durch eine Minimierung von Lebensfunktionen denkbar macht. Ursprüng lich war er ja eine sozialkritische Figur, die für die Zumutungen eines entfremdeten Lebens stand, für ein nicht hinreichend selb ständiges, für ein fremdgesteuertes Leben, für eine damit ver bundene Gewalterfahrung etwa kolonialer Subjekte. Wir haben nun den Eindruck, dass sich in dieser Hinsicht etwas verändert hat, dass die aktuellen Untoten an einer Schwelle zu einer anderen Selbstbeschreibung moderner Lebensverhältnisse auftau chen.

Vogl: Zombies sind Wiedergängerfiguren. Das heißt, sie sind nicht ohne das zu denken, was sie heimsuchen. Anders als diese Zwischenwesen Kafkas suchen sie eine Adresse. Sie suchen die Lebenden. Da, wo der Zombie auftaucht, weiß derjenige, der ihm begegnet, dass er von ihm gemeint ist und dass einem etwas begegnet, das sich im Augenblick dieser Begegnung nicht ein fach erledigen oder abfertigen lässt. Aber was ist das? Eine Ursze ne des Zombies findet sich in einem spätromantischen Text des 19. Jahrhunderts: Am Ende von Goethes Faust II gerät dieser in eine verwirrende Situation. Er, der Großunternehmer, ist gera de dabei, Deiche zu bauen, Kanäle anlegen zu lassen, Land zu gewinnen. Plötzlich hört er die Werktätigen. Er ist von der Sorge blind geworden und verkennt nun, dass das, was hier gegraben und gebaut wird, nicht das neue kapitalistische Projekt der Zu kunft ist, sondern sein eigenes Grab. Die Arbeiter, die hier am Werk sind, heißen Lemuren. Und Lemuren sind, herkommend aus der antiken Mythologie, untote, ausgezehrte Gestalten. Nimmt man das als eine Urszene des Zombies, dann kann man sagen, sie tauchen als Erschöpfungsfiguren auf. Sie sind eigent lich als Überreste in einem beginnenden energetischen Zeitalter gedacht und führen den Lebenden jene Kräfte vor, die an diesem Leben parasitär zehren. Sie sind weder Gespenster, d.h. Zeugen vergangener Versäumnisse, noch sind sie Monster, d.h. ein ›wi dernatürliches‹ Leben, das alle Klassifikationen sprengt, sondern sie sind im Grunde das Leichenhafte des eigenen Lebens, das

sich an einen klammert. Und damit Verbrennungs- oder Abfall produkte, eine Erinnerung daran, dass die Lebenden im energe tischen Zeitalter ihren eigenen Tod produzieren, während sie glauben zu leben. Diese Produktion des eigenen Tods im Leben wird in der Friedhofsversammlung am Ende von Faust II sicht bar gemacht.

Harrasser: Würde dies an die These von Alain Ehrenberg anschlie ßen, dass die derzeitige Kollektivsymptomatik die Depression ist? Er verfolgt die These, dass das Auftauchen der Depression, der Erschöpfung als Volkskrankheit kein Leiden an disziplinie renden, einschränkenden Mechanismen der Vergesellschaftung ist, wie etwa die Neurose; sondern die Depression ist die Krank heit eines Lebens, dem zu viele Möglichkeiten vorgeführt wer den, Möglichkeiten, die nie alle realisiert werden können. Die Depression ist demnach die Krankheitserscheinung desjenigen Menschen, der zu viel kann, darf, soll, muss. Würden Sie sagen, dass eine solche Diagnose in Richtung der aktuellen Popularität von Untoten weist?

Vogl: Ich denke, sie korrespondiert damit. Man müsste wahr scheinlich die wandernden Figurationen des Untoten in den hochindustrialisierten und hochkapitalisierten Ländern seit dem 19 Jahrhundert als ein Wandern von Erschöpfungszonen begreifen. Die Frage ist nicht nur, welche und wie viele Abfallprodukte durch die Industrialisierung erzeugt werden, sondern in welchen Gestalten der Schatten des eigenen Tods in diesen Gesellschaften auftaucht. Seit dem 19. Jahrhundert sind Verschleiß und Ermü dung ein zentrales Moment des Wiedergängertums. Das setzte sich in damals neuen Formen pathologischer ›Willensschwäche‹ fort. Im Überschuss des Wollens oder des Wollenmüssens oder auch des Wollenkönnens tauchen Tümpel an Willenlosigkeit auf. Solche Verkörperungen erlahmenden Willens haben häufig eine zombiehafte Form. Und sie tauchen in einer spezifischen Gestalt auf: gesichtslos, im Rudel, in einer apersonalen Form. Sie haben eine Chorus Line- Erscheinung, wie in einem Musi cal. Nur, dass sie einen Totentanz und keinen Vitalitätstanz vor führen, der doch eigentlich die Melodie dieses Zeitalters sein sollte. Es wird vorgeführt, wie viel abgestorbene, wie viel abge sonderte, wie viel mit höchster Anstrengung produzierte Lei chenhaftigkeit uns umgibt. Und was die heutige Depressionsnei gung betrifft: Sie ist wohl die dunkle Rückseite einer allgemeinen Kultur der Motivation und des permanenten Aufrufs zur Selbst motivierung.

Harrasser: Es ist also der Vitalitätsanspruch, der Untote produziert? Vogl: In einem inzwischen sehr dicht organisierten Feld von Selbstzwängen, die garantieren, dass ich mich positiv definieren kann, die garantieren, dass ich in dieser Welt, in diesem Leben, in diesem Beruf, in dieser Gesellschaft, in dieser Familie zuver lässig agiere, taucht der Zombie auf. Und der Schrecken dieser Gestalten lässt sich auf einen Exzess an Positivitäten zurückfüh ren. Der Zombie wirft in Anbetracht dieser Positivitäten die Fra ge nach der eigenen Endlichkeit als dem schlechthin Unpersön lichsten auf: die Endlichkeit als etwas, das ich wider Willen und dauerhaft und hier und jetzt immer wieder neu produziere. Die se Endlichkeit lässt sich nicht veräußern, sie lässt sich nicht delegieren, ich kann auch nicht sagen, dafür seien irgendwie andere, das System etc. verantwortlich. Wollte man all das in eine Ge schichte der Subjektivität einfügen, dann müsste man wohl sa gen: Mit dem Zombie wird eine Sackgasse sehr heiterer, sehr effi zienter und sehr produktiver Selbstverhältnisse vorgeführt.

Joseph Vogl , *1957, ist Literaturwissenschaftler und Philosoph. Er ist In haber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur: Literatur- und Kulturwis senschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor of German an der Princeton University. Zuletzt erschien von ihm und Alexander Kluge: Soll und Haben. Fernsehgespräche . Dia phanes, Zürich, Berlin 2009

Das Gespräch führte Karin Harrasser , Medien- und Kulturwissen schaftlerin an der Kunsthochschule für Medien Köln.

ein
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lawrence von arabien genese eines mythos

von detlef hoffmann

Die Rede vom Mythos ist heute sehr verbreitet. Das lässt auf eine hohe Erwartung in all das schließen, was dem jeweiligen My thos zugeordnet wird. Dies allerdings bleibt häufig in der um gangssprachlichen Rede im Unklaren. Die einen, die Aufklärer, bezeichnen mit Mythos eine weit verbreitete, irrige Annahme. Ihr Text über den Mythos versucht, die Irrtümer aus der Welt zu schaffen und der wissenschaftlichen, historischen Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Mythisierung wird in solchen Texten oft mit Mystifizierung, Geheimniskrämerei gleichgesetzt. Andere verstehen unter Mythos, was schon die Alten vor allem die Griechen im westlichen Kulturkreis darunter verstanden: die Erzählung über die Götter und deren ordnendes Eingreifen in die Welt. Wenn die Oldenburger und Kölner Ausstellung die Entstehung eines modernen Mythos, den des Lawrence von Arabien, in das Zentrum ihres Interesses stellt, dann versucht sie anschau lich zu machen, wie eine historisch beschreibbare Person eine Wirkung entfalten konnte, die weit über die Fakten der Biografie hinausging.

Den Bericht über Tod von T E . Lawrence machte die Boulevard zeitung Daily Sketch vom 20. Mai 1935 mit der Schlagzeile auf: »Too big for Wealth and Glory«, im Untertitel lesen wir: »Lawrence the Soldier Dies to Live for Ever.« Zwei Fotos begleiten dieses Statement: Lawrence in der Kleidung eines Sherifen von Mekka und Lawrence in der Uniform der Royal Air Force auf einem Motorrad. »Sterben, um ewig zu leben« ist nicht dem gewöhnlichen Menschen gegeben, Heilige haben diese Kraft und vielleicht Götter, erst mit der Säkularisierung wurde die Fähig keit auch nationalen Heroen und einfachen Soldaten verliehen. Sie mussten allerdings anders als Lawrence im Felde gefallen sein. Die Schlagzeile »Zu groß für Wohlstand und Ruhm« signalisiert, dass hier ein Mensch starb, der weit jenseits der Ideale des gemei nen Bürgers, der nach Wohlstand und Ruhm strebt, gelebt hat.

Moderne komplexe Gesellschaften sind in ihren Interessen so aufgesplittert, dass sie keine kollektiven Identitäten ausbilden kön nen; das ändert jedoch nichts daran, dass es das Bedürfnis gibt, über Erzählungen und Bilder eine ordnende Gemeinsamkeit entstehen zu lassen. Eine solche einer Gesellschaft Bedeutungen verleihende Erzählung war auch der Mythos der Alten. Die den Mythos generierenden Bild- und Text-Medien sind heute jedoch mächtiger als in den alten Kulturen, sie sind vor allem allgegen wärtig. Eine Erzählung kann an unterschiedlichen Orten auf un terschiedliche Vorgeschichten treffen. Dadurch entstehen gele gentlich wie im Fall von T E . Lawrence gegensätzliche Be deutungen des gleichen Mythos.

Vergegenwärtigen wir uns kurz, in Stichworten, die Biografie dieses Mannes, um die Ansatzpunkte für die Mythenbildung ken nen zu lernen:

Thomas Edward Lawrence wird am 16. August 1888 in Tremadoc, Caernarvonshire, in Wales geboren. Seine Eltern sind Thomas Robert Tighe Chapman und Sarah Maden. Die Chapmans lebten seit dem 17. Jahrhundert in Irland. 1884 hatte Thomas Robert seine erste Frau verlassen, um mit Sarah Maden zunächst in Wales zusammenzuleben. Hier gab er sich und seiner neuen Fa milie den Namen ›Lawrence‹. T E . Lawrence hatte vier Brüder.

Um ihren Söhnen eine gute Schulbildung zu ermöglichen, zog die Familie 1896 nach Oxford, wo Thomas Edward sein Interesse für die Archäologie entdeckte. Er findet in Baugruben spätmit telalterliche Tongefäße und bringt sie dem Ashmolean Museum, dessen Direktor, David George Hogarth, den Jungen fördert. In den Jahren 1906, 1907 und 1908 unternimmt T E . Lawrence mehrere Fahrradtouren durch Frankreich, die ihn bis zum Mit telmeer führen. Er besichtigt vor allem Burgen und macht zahl reiche fotografische Aufnahmen. 1907 immatrikuliert er sich am Jesus College in Oxford. Um eine Reise in den Orient vorzube reiten, auf der er Material für seine Bachelorarbeit zusammentra gen will, nimmt er Arabischunterricht, den er auch in den nächs ten Jahren fortsetzt. Von Juni bis September 1909 legt er 1 760 km durch Syrien und Palästina zurück. Er fotografiert die Burgen der Kreuzritter und nimmt sie zeichnerisch auf. Die Resultate fasst er in seiner Arbeit Über den Einfluss der Kreuz züge auf die militärische Architektur des Mit telalters zusammen.

Nach dem Abschluss seines Studiums wird er Assistent der Aus grabungen des Britischen Museums in Karkemisch, einem Ort am oberen Euphrat (heute im syrisch-türkischen Grenzgebiet). Am 15. Dezember 1910 schifft sich der 22-Jährige nach Istanbul ein. Von dort fährt er über Land und erreicht im Februar Karke misch. Die dortige Kampagne wird mit Unterbrechungen durch Reisen bis 1914 dauern. Im Januar 1914 erhalten T E . Lawrence und Leonard Woolley, Hogarths Grabungsassistent in Karke misch, den Auftrag, Hauptmann Newcombe bei der topografischen Aufnahme der Sinai-Halbinsel zu unterstützen. Im Febru ar reist T E . Lawrence nach Akaba und dann weiter nach Damas kus. Im Mai kehrt er nach England zurück und schreibt gemein sam mit Woolley den Grabungsbericht The Wilderness of Zin

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs am 2. August 1914 wird T E Lawrence der kartografischen Abteilung des Generalstabs in Ägypten unterstellt. Ägypten war zu diesem Zeitpunkt englisches Pro tektorat. Am 16. Mai 1916 schließen Sir Mark Sykes und Georges Picot ein Geheimabkommen, in dem die Linie zwischen englischen und französischen Interessen festgelegt wird. Die neu ent stehenden Staaten Syrien und Libanon werden der französischen Einflusszone zugeordnet. Das ist deswegen bedeutungsvoll, weil die englische Regierung dem Hussein, Sherif von Mekka, dem Oberhaupt der Haschemiten, bereits die Unterstützung Großbritanniens für einen arabischen Staat zugesagt hatte, wenn er auf Seiten Englands in den Krieg gegen die Türken einträte. Sherif Hussein ruft am 5. Juni 1916 die arabischen Stämme zum Feldzug gegen die Türken auf. Im Oktober 1916 reist T E . Law rence als Mitglied einer englischen Delegation zu Besprechungen in Dschidda in den Hedjaz. Er trifft etwas später Emir Feisal, den dritten Sohn Husseins, der die arabischen Kämpfer anführen soll. Da es nicht gelingt, die Türken aus Medina zu vertreiben, schlägt T E . Lawrence Feisal im März 1917 vor, Akaba von der Landseite her zu erobern, damit die Beduinen-Armee Feisals von hier aus mit Nachschub versorgt werden kann. Eine wichtige Rolle bei dieser Unternehmung kam Auda Abu Tayi zu, dem Führer der Howeitat. Akaba wird am 6. Juli 1917 erobert. In Kairo trifft Lawrence zum ersten Mal General Edmund Allenby, den

Oberkommandierenden der englischen Truppen. Der startet sei ne Offensive gegen die Türken und zieht am 11. Dezember 1917 in Jerusalem ein.

Mit den Beduinen, die seiner Überzeugung nach hervorragende Guerillakrieger sind, führt T E . Lawrence Sabotageakte an der Hedjaz-Bahn durch, die Damaskus mit Mekka verbindet, um so den türkischen Nachschub zu stören. Im Rahmen von Allenbys Offensive wird die türkische Armee im Raum Amman besiegt. Feisal und T E . Lawrence ziehen am 1. Oktober 1918 in Damaskus ein, wo Sherif Hussein zum König der Araber ausgerufen wird. Am 4. Oktober 1918 erklärt T. E . Lawrence gegenüber General Allenby seinen Rücktritt und reist über Kairo zurück nach England.

Nachdem das Osmanische Reich am 30. Oktober 1918 in der Bucht von Mudros und das Deutsche Reich mit der Entente am 11. November 1918 in Compiègne einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen haben, wird die Pariser Friedenskonferenz vorbereitet. Aus diesem Grund begibt sich Emir Feisal im De zember 1918 nach England. Bevor er nach Paris weiterreist, trifft er Dr. Chaim Weizmann, den führenden englischen Zionisten. Schon am 4. Juni 1918 hatten sich die beiden Politiker in Feisals Feldlager getroffen. Beim zweiten Treffen am 11. Dezember 1918 fungiert T E . Lawrence als Dolmetscher. England hatte nicht nur den Arabern die Selbstbestimmung versprochen. Am 2. Novem ber 1917 hatte der britische Außenminister Lord Balfour erklärt, dass die britische Regierung auch eine »nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« garantiere. In diesem Zusammen hang sind die Treffen von Dr. Chaim Weizmann und Emir Fei sal zu sehen. Am 3. Januar 1919 unterzeichneten beide Politiker eine Übereinkunft, die die Beziehungen des Arabischen Staates und Palästinas regelt.

Auf der Pariser Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 eröffnet wird, besteht Emir Feisal darauf, dass die Alliierten ihr Verspre chen einhalten und die Araber einen eigenen, selbstbestimmten Staat erhalten. Er stößt auf Widerstand. Als T E . Lawrence im März 1919 aus den Händen König Georges V. den Order of Bath erhalten soll, verweigert er die Annahme mit der Begründung, dass es ihm unmöglich sei, die Auszeichnung anzunehmen, solange England seine Versprechungen den Arabern gegenüber nicht halte.

Als Berater Winston Churchills, der das Colonial Office leitet, nimmt T E . Lawrence im März 1921 an der Konferenz von Kairo teil. Durch die Beschlüsse dieser Konferenz wird Emir Feisal König des Irak, Emir Abdullah Herrscher von Transjordanien T E . Lawrence reist in diesem Jahr zweimal nach Dschidda, um König Hussein zur Anerkennung der in Kairo gefassten Be schlüsse zu bewegen. Er scheitert. Langfristig führt dies zu einer Unterstützung von Husseins Gegner Ibn Saud, der im Oktober 1925 zum König von Arabien, dem heutigen Saudi-Arabien, aus gerufen wird.

Parallel zu seinem Wirken in der großen Politik, arbeitet T E Lawrence schon während der Pariser Friedenskonferenz von 1919 an der literarischen Darstellung seiner Kriegserlebnisse. Er gibt dem geplanten Buch den Titel: Seven Pillars of Wis dom (dt.: Die sieben Säulen der Weisheit ). T E . Lawrence wird bei dieser Unternehmung von führenden englischen Intellektuellen

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unterstützt. Er plant nicht nur einen Text, den ein Verlag dru cken soll, sondern intendiert vielmehr eine bibliophile Kostbar keit in der Tradition von William Morris und Walter Crane. So gewinnt er den Maler Eric Kennington, die Helden des arabischen Aufstandes zu portraitieren. Er entscheidet sich für die Initialen von Edward Wadsworth und sichert sich künstlerische Beiträge von William Roberts, Gertrude Hermes, Paul Nash und Blair Hughes-Stanton. Seine Fahnen und Andrucke schickt er Freun dinnen und Freunden wie George Bernhard Shaw, H G . Wells und Winston Churchill zur Begutachtung. Nachdem mehrere Manuskripte zuvor verloren gegangen waren, schreibt er 1922 in einer Dachstube des Hauses Barton Street 14 , ganz in der Nähe der Houses of Parliament, die endgültige Fassung. 1926 veröffent licht er die auf 120 Exemplare beschränkte Subskriptionsausgabe. Finanziell hat er sich damit völlig verausgabt. Um die Kosten zu decken, verfasst er eine gekürzte Ausgabe, Revolt in the Desert (dt.: Aufstand in der Wüste ), die im März 1927 in Großbritannien und den USA erscheint.

Während T. E . Lawrence mit seinem Buch Seven Pillars of Wisdom seine Erinnerung an den Krieg vorlegt, wird sein Ruhm schon seit 1919 durch den amerikanischen Journalis ten Lowell Thomas in Form eines romantischen Märchens ver breitet. Lowell Thomas war mit seinem Kameramann Harry Chase im Januar 1918 in Ägypten eingetroffen und hatte eine weit reichende Erlaubnis zum Fotografieren und Filmen erhalten. Im Februar 1918 traf er T E . Lawrence in Jerusalem und Harry Chase konnte in der Folge zahlreiche Film- und Fotoaufnahmen ma chen. In Fortführung der Magic Lantern Shows, die Mr. Albert Smith bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in England perfektio niert hatte, kombinierte Lowell Thomas anschließend aufwän dige Bühnenbilder, Dia- und Filmprojektionen sowie Musik und Tanz mit seinem persönlichen Vortrag zu einem zunehmend er folgreichen Spektakel. Er zeigt seine Lawrence of Arabia Show zunächst in den USA . Im August 1919 startet sie in England, im Covent Garden, und wird hier zu einem riesigen Erfolg. T E Lawrence äußert sich diesem Unternehmen gegenüber ableh nend, war aber dennoch zu einer Kooperation bereit. Jedenfalls stand er für die fotografischen Aufnahmen zur Verfügung. Tho mas ging mit seiner Show auf eine vierjährige Tour um die Welt, gab 4 000 Vorstellungen und erreichte so vier Millionen Zuschauer. Sein Vortragstext erschien 1924 als Buch, das unter dem Titel With Lawrence in Arabia sehr erfolgreich wurde. Lo well Thomas machte Lawrence zu einem Star, den man in den Straßen von London sofort erkannte. Er war eine siegende Licht gestalt, die den Krieg weit jenseits der Millionen Toten des Ersten Weltkriegs symbolisierte. Doch statt sich in diesem Ruhm zu sonnen, daraus auch wirtschaftlichen Erfolg zu gewinnen, zog sich Lawrence immer mehr zurück. So wagemutig er als Kämpfer war, so scheu war er im zivilen Leben.

Während die öffentliche Rezeption phantasievoll am romantischen Bild vom Aufstand in der Wüste festhielt, erschienen seit den 1920er Jahren erste Untersuchungen literarischer und wis senschaftlicher Art. Die Autoren Robert Graves, Liddell Hart und Edward Robinson stellen T E . Lawrence zwar weniger ro

mantisch, aber dennoch unkritisch als großen Helden dar. Sie kannten T E . Lawrence persönlich, hatten ihre Texte mit ihm ab gesprochen und standen somit unter dem Eindruck seiner sehr suggestiv wirkenden Persönlichkeit. Die populäre, die intellektu elle und die wissenschaftliche Rezeption stellt T E . Lawrence meist noch zu seinen Lebzeiten geschrieben bis zum Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen als einen romantischen Helden dar. Dieses Bild greift der Film von David Lean 1962 wieder auf. Wie jeder Star hat auch der mythische Held unserer Gegenwart zwei Körper: einen medialen und einen realen; letzteren versuchte T. E . Lawrence zum Verschwinden zu bringen. Im August 1922 verpflichtet er sich bei der Royal Air Force unter dem Namen John Hume Ross als einfacher Soldat. Doch schon im Dezember des gleichen Jahres enttarnt ihn der Daily Express . Journa listen belagern das Kasernentor. Im März 1923 tritt er unter dem Namen T E . Shaw als Soldat in das Panzercorps von Bovington, Dorset, ein. Wenige Kilometer von der Kaserne entfernt, erwirbt er das kleine Haus ›Clouds Hill‹, das heute eine vom National Trust verwaltete Gedenkstätte ist. Im Juli 1925 wird seinem Wunsch, wieder zur Luftwaffe zurückzukehren, stattgegeben. Er wird auf dem Militärflugplatz Cranwell, Lincolnshire eingesetzt. Im Rah men der Luftwaffe tat er seit 1927 Dienst in Indien, auf einem kleinen Flughafen in der Nähe der afghanischen Grenze namens Miranshah Fort. Hier bleibt er bis Anfang 1929. Die britische Presse folgte ihren romantischen Phantasien und sah ihn in mysteri ösen Einsätzen im Orient. Damit der reale Körper die Legenden des medialen Körpers widerlege, wird T E 1929 nach England zurück beordert. Die Air Force setzt ihn in Cattewater bei Ply mouth ein, einem Stützpunkt für Wasserflugzeuge. Dort arbei tet er in den nächsten Jahren an der Entwicklung von Schnell booten.

Am 26. Februar 1935 beendet T E . Lawrence seine Dienstzeit bei der Royal Air Force. Er zieht sich in sein Haus ›Clouds Hill‹ zu rück, um dort seinen schriftstellerischen Arbeiten nachzugehen. Während seiner Dienstzeit hatte er Tagebuch geschrieben. Seine Erfahrungen fasst er in dem Buch The Mint (dt.: Unter dem Prägestock, 1955) zusammen, das er 1928 abschließt. Es konnte we gen seiner realistischen Darstellung des Militärs erst nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen. Gleichzeitig arbeitet er an einer Übersetzung der Odyssee, die 1932 als eine der schönsten biblio philen Ausgaben des 20. Jahrhunderts erscheint. Am 13. Mai 1935 verunglückt T E . Lawrence mit seinem Motorrad, er stirbt am 19 Mai 1935 im Krankenhaus im Alter von 42 Jahren und wird am 21 Mai 1935 auf dem Friedhof von Moreton in der Nähe von ›Clouds Hill‹ beerdigt.

Der mediale Körper stirbt nicht mit dem realen. Im Gegenteil. Er ist unsterblich. Der Amerikaner Lowell Thomas ist der Erfinder des Lawrence-Mythos. Neben der mit modernsten Mitteln arbeitenden Präsentation ist Thomas ein ganz großer Vereinfacher. Er stellt Lawrence in eine Reihe mit Achilles, Siegfried und dem Cid. Das ist grundlegend für die Entstehung des Mythos, der keine Komplexitäten und Kontingenzen verträgt. Anders als das KleinKlein des täglichen Lebens zeigt der Mythos die große Geschich te auf. Mit der Frage des lesenden Arbeiters, ob Cäsar bei seinem

Sieg über ganz Gallien nicht wenigstens einen Koch bei sich ge habt habe, stört Bert Brecht die mythische Erzählung. Vor dem medialen Körper fragt er nach dem realen Körper. Während Lawrence für viele Fotos, die Lowell Thomas verwendete, noch selber Model stand, verleiht ihm Peter O’Toole 1962 in dem Film von David Lean einen neuen Körper, man könnte auch sagen ein weiteres Avatar (von denen der Gott Vishnu zehn aufweisen konnte). Der historische Lawrence tritt einen weiteren Schritt hinter dem mythischen Helden zurück.

An der Genese von Mythen sind neben den Produzenten die Re zipienten, das Volk beteiligt. Großbritannien und das gesamte Empire brauchte nach dem Ersten Weltkrieg und den elenden Schlachten der Westfront eine Lichtgestalt, in der sich britische Tugenden noch einmal kristallisierten. Lawrences ambivalente, an sich selbst zweifelnde Persönlichkeit stand für eine solche Pro jektion zur Verfügung. Den Kreuzritter der britischen Phantasie formulierten Autoren der arabischen Welt zu einem imperialistischen Verräter um. Peter O’Toole suggerierte die Vorstellung, Lawrence sei ein Schwuler gewesen, der sich noch nicht outen konnte. Es war der Beginn der Schwulenbewegung. Die histo rischen Quellen stützen keine dieser Interpretationen. Doch um Mythen zu schaffen, braucht es keine kleinteilige historische Re cherche — Mythen entwickeln Künstler und Medienfabriken auf der einen, das Volk, das die Angebote als sein Eigenes an nimmt, auf der anderen Seite. Seine Faszination reflektiert die Sehnsucht nach Orientierung in einer sich zunehmend diversifi zierenden Welt. Da der Lawrence-Mythos Platz für den weltläu figen Intellektuellen lässt, ist er ein unterstützenswertes Orien tierungsangebot.

Detlef Hoffmann , *1940, ist Kunsthistoriker, bis 2006 Professor an der Universität Oldenburg. Zuletzt erschien sein gemeinsam mit Kurt Dröge herausgegebenes Buch: Museum revisited. Transdisziplinäre Per spektiven auf eine Institution im Wandel , transcript-Verlag, Bielefeld 2010. Detlef Hoffmann ist Kurator der Ausstellung Lawrence von Arabien. Die Genese eines Mythos

lawrence von arabien. die genese eines mythos. ausstellung im Landesmuseum Natur und Mensch, Oldenburg: 21. November 2010 – 27. März 2011 / Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln: 29. April – 11. September 2011 www.naturundmensch.de

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grenzerfahrungen

Das gemeinsame Theaterprojekt von Schauspiel Leipzig / Spinnwerk und dem Freedom Theatre Jenin (Palästinensische Gebiete) MeinLandBiladi ist eine von 28 internationalen Theaterpartnerschaften, welche die Kulturstiftung des Bundes im Fonds Wan derlust fördert. Die Theaterkritikerin Renate Klett hat das Projekt in Leipzig und Jenin begleitet und berichtet über ihre Eindrücke von einer nicht ganz einfachen Kooperation.

von renate klett

Das Projekt MeinLandBiladi ist auf zwei Jahre angelegt. In vier Arbeitsperioden, Camps genannt, die abwechselnd in Leipzig und Jenin stattfinden, sollen je zehn palästinensische und deutsche Jugendliche einander kennenlernen, voneinander und miteinander lernen und ihre Eindrücke zu kleinen Theaterszenen verarbei ten. Die Teilnehmer/innen, zwischen 17 und 23 Jahre alt, haben allesamt Erfahrungen im Ama teurtheater; die beteiligten Institutionen sind Spinnwerk, das Jugendprojekt des Centralthea ters Leipzig, und The Freedom Theatre in Jenin/ Occupied Westbank. Was auf dem Papier so fol gerichtig wie einleuchtend klingt, erweist sich in der Praxis als dorniger Weg. Es ist ein emp findlich komplexer, oft widersprüchlicher Pro zess, bei dem es eben nicht für jedes Problem immer gleich eine Lösung gibt. Camp 1 findet im Februar 2010 drei Wochen lang in Leipzig statt. Schon die allererste Begeg nung der beiden Gruppen lässt sich im Nach hinein als Grundmuster interpretieren, das sich in unterschiedlichen Farben und Formen un endlich wiederholt. Die deutschen Jugendlichen empfangen die palästinensischen so, wie 18jährige hierzulande gute Freunde am Flughafen abholen: mit großem Transparent und überschwäng lichem Willkommensgeschrei, die Palästinenser reagieren irritiert, sind befremdet. Dabei war doch alles so gut gemeint!

Die Neugier und die Offenheit, aufeinander zu zugehen, sind groß, aber die unbewussten Kli schees und Vorurteile eben auch. Da das Free dom Theatre seinen Sitz in einem Flüchtlingsla ger hat, erwarten die Deutschen arme, abgeris sene Hilfsbedürftige und treffen stattdessen auf selbstbewusste, gut gekleidete junge Leute, de ren »iPods geiler sind als unsere« (O-Ton Leip zig). Die Kinder gut situierter Eltern sind ver letzt: »Habt ihr zerlumpte Flüchtlinge auf Eseln erwartet oder was?« (O-Ton Jenin). Und so gibt es anfangs hauptsächlich Missverständnisse, wie immer, wenn internationale Austauschprogramme allzu naiv und unvorbereitet stattfinden. Das lässt sich überwinden, und später lachen sie gemeinsam über diese erste Phase. Was jedoch als Quadratur des Kreises bestehen bleibt, ist der Grundwiderspruch: dass die einen sich als Sprachrohr Palästinas verstehen und die ande ren vor allem darauf bedacht sind, sich nicht in strumentalisieren zu lassen. Es spricht für die Beteiligten, dass sie es schaffen, trotzdem eine

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persönliche Beziehung aufzubauen und diese durch alle Kräche hindurch niemals aufgeben. Endlose Gespräche, die sich im Kreis drehen, wechselseitige Vorwürfe des Nicht-Begreifens, Nicht-Begreifen-Wollens, Frustration. Trauer, Aggressivität, Tränen der Clash of Cultures scheint manchmal alle guten Vorsätze und Freundschaftswünsche unter sich zu begraben. Wenn die deutsche Seite der palästinensischen mangelnde Pünkt lichkeit vorwirft und die daraus auf mangelnde Solidarität mit ihrem besetzten Land schließt, können die Diskussionen groteske Züge anneh men. Und dass, entgegen der Abmachung, nicht alle Englisch sprechen und folglich vielfaches Hin- und Herübersetzen nötig ist, macht die Si tuation auch nicht besser. Oder der Vorwurf des Rassismus, der leichter von palästinensischen Lip pen kommt als er von deutschen Ohren zu ver dauen ist.

Zudem sind die beiden Gruppen natürlich nicht so homogen, wie sie von der jeweils anderen wahrgenommen werden. Die deutsche Seite be tont gern, dass jeder nur für sich spreche, und braucht bei einigen Fragen viel Zeit, sich unter einander zu einigen; die palästinensische tritt, zumindest nach außen, geschlossener auf. So manche Diskussionsrunde, bei der jeder Einzel ne eine Meinung äußern muss, auch wenn er/sie eigentlich keine hat, scheint die thematisierten Probleme eher zu verschlimmbessern als zu er leichtern die spontane Verarbeitung per sze nischer Improvisation erweist sich da als viel ef fektiver. Aber auch die kann ihre Tücken haben. Eine frühe Übung zur theatralen Umsetzung der Vorurteile, die man voneinander pflegt, en det nicht in befreiendem Gelächter, sondern in Bitterkeit und Kränkung, weil die Deutschen ihr Palästinenserklischee als Klamotte mit krei schend verzappeltem fünfmaligem Beten pro Tag darstellen. Die Palästinenser zeigen die Deutschen bei dieser Übung sehr viel respektvoller als einsame, einander anschweigende Menschen, deren Vereinzelung traurig ist und bedauernswert.

Inzwischen können beide Seiten über diese An fangsschwierigkeiten spotten. Sie haben sich zusammengerauft und sich angewöhnt, mehr auf die Gemeinsamkeiten zu achten als auf das, was sie trennt. Auch scheint es, als kämen sie ›unbe aufsichtigt‹, sprich: ohne ihre jeweiligen Direk toren, leichter und selbstverständlicher mitein ander klar. Eine der Palästinenserinnen, nach ih-

rem schönsten Moment in Leipzig befragt, sagt: »Das war, als Blume (einer der deutschen Jungen) mich plötzlich an beiden Händen fasste und im Kreis herumwirbelte. Und das mitten auf der Straße! Da kam ich mir so frei vor, so stark! Bei uns wäre so etwas unmöglich.« Und für eine an dere war die schönste Erinnerung »die Auffüh rung. Als wir alle zusammen auf der Bühne standen vor all den Menschen, die uns zusahen. Da war ich richtig glücklich.« Die Schlusspräsentation trägt den Titel Grenzerfahrungen und wird am 18. und 19. Feb ruar 2010 im Spinnwerk Leipzig aufgeführt. Sie thematisiert viele der Probleme und Problem chen, die man miteinander durchgestanden hat eine Nummernrevue aus einem guten Dut zend kleiner Sketche, die auf privaten Geschichten, den Schluchten und Brücken des Kennen lernens und persönlichen Grenzerfahrungen beruhen. Den roten Faden bildet die Szene The Wall , in der ein Komikerduo in Charlie Chaplin-Manier nach immer neuen Wegen sucht, die Mauer zu überwinden, um eine Freundin zu be suchen. Die Aufführung in der Regie von Kat rin Richter und Nabeel Al Raee kommt gut an, obwohl einige Szenen fast unverständlich sind für Zuschauer, die deren Hintergründe nicht kennen. Aber die Themen und die Authentizi tät der Darsteller berühren, und das schlichte, doch eindrückliche Bühnenbild tut ein Übriges: Es zeigt eine (innere? äußere?) Mauer, die anfangs kompakt erscheint und dann immer durchlässiger wird, bis man begreift, dass sie aus lauter Gummifäden gesponnen ist. Über den Erfolg sind alle glücklich und erleichtert, doch auch er hat, rückblickend, die Probleme nicht wirklich lösen können. Alle trennen sich als Freunde, und das sind sie ja auch gewor den, trotz oder vielleicht gerade wegen der vie len Alarmsituationen. Aber im Camp 2 , das im Juni/Juli 2010 drei Wochen lang in Jenin stattfindet, brechen die alten Konflikte wieder aus, und das noch härter und unversöhnlicher als zuvor. Denn an den unvereinbaren Interes sen beider Seiten hat sich, Freundschaft hin, Verpflichtungen her, kein Deut geändert: Die Deutschen wollen Theater machen, die Palästi nenser Politik, die einen streben nach Selbstver wirklichung, die anderen nach Solidarität. Die Deutschen sagen: Wir diskutieren zu viel und immer dasselbe, die Palästinenser finden die Diskussionen zu kurz: »Ihr hört nicht zu, ihr be

greift die Situation nicht. Wir brauchen mehr Zeit zum Diskutieren.«

Um die Okkupation spürbarer zu machen, gibt es vier Ausflüge: nach Nablus, Hebron, Jerusa lem, Ramallah und zur wöchentlichen Freitags demo in Bil’in. Die Deutschen sollen die Mauer, die Checkpoints, die Settlements, die israelischen Soldaten mit eigenen Augen sehen und ihre Neutralität aufgeben. Das verweigern sie. Sie sind nicht unbedingt pro Israel, aber sie wollen beide Seiten betrachten, sie gegeneinander abwägen und sich nicht, wie sie es empfinden, eine Mei nung aufzwingen lassen. Am palästinensischen Alltag interessiert sie weniger, wie sich die Besat zung als wie sich die Unterdrückung der Frauen bemerkbar macht. Das wiederum können die Palästinenser nicht verstehen.

Schon in Leipzig löste ein Ausflug die heftigste Kontroverse des ganzen Camps aus die Fahrt nach Berlin wird zum Prüfstein. Die Palästinen ser sind begeistert, eine Mauer zu sehen, die zum Museum geworden ist (»So wollen wir unsere Mauer auch erleben!«), aber als sie zum Treffen mit einer Beamtin des Auswärtigen Amts kräf tig zu spät kommen, gibt es Krach mit der deut schen Leitung. Wieder der Rassismusvorwurf (»Das ist unsere Kultur, wir haben einen ande ren Zeitbegriff«), wieder die Spirale, die sich hochschraubt, und wieder das Gefühl der Beobachterin, dass sich mit weniger Sturheit und mehr Sensibilität, Kenntnis, Toleranz und, ja, auch Humor auf beiden Seiten viele dieser Dre hungen vermeiden ließen. Aber diesmal hat die Eskalation ein Gutes, denn nachdem alle Argu mente verbraucht und viele Tränen geflossen sind, finden sie gemeinsam die Kraft zu einem veritablen Neuanfang. Sie vertrauen einander ganz private, oft hoch emotionale Geschichten an und kommen sich dadurch näher denn je. Das ist bewundernswert.

Ein solcher Salto emotionale gelingt in Jenin lei der nicht. Camp 2 steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Nabeel Al Raee, feder führender Regisseur, hatte sich aus beruflichen und privaten Gründen beurlauben lassen, der vom Freedom Theatre engagierte Ersatzregis seur erweist sich schnell als überfordert. Mehre re Tage vergehen, die, um die Zeit nicht zu ver trödeln, zur Recherche vor Ort genutzt werden, dann steigt Nabeel doch wieder ein, und die Ar beit kann beginnen. Aber sie ist anders als in

Leipzig, wo es ein tägliches Training und inten sive Proben mit allen gab. Hier ist man selten vollzählig, immer muss jemand zur Uni, zu einem wichtigen Familientreffen. Die ortsansässige junge Frau, fast 23 , muss spätestens um sieben zu Hause sein, die beiden Mädchen aus Ramal lah wohnen in einem anderen Guest House als die Deutschen. In Leipzig trafen sich abends oft alle in der Stadt, saßen zusammen, redeten, tanzten, alberten herum und glätteten dadurch manchen Tagesstreit hier sind die beiden Gruppen, außer bei der Arbeit, streng getrennt. Durch das fehlende Ventil des Unter-Sich-Seins schaukeln sich die Auseinandersetzungen unnötig hoch, und die Fronten verhärten sich zuse hends, besonders bei der Auswertung der Aus flüge. Die Palästinenser verstehen nicht, dass ihr ständiger Druck kontraproduktiv, die Deut schen nicht, dass dies keine Propaganda, son dern Herzblut ist. Aber die Deutschen sind auch untereinander nicht einig: Manche wollen mehr vom Land, vor allem von Israel, sehen, manche überhaupt keine Exkursionen, sondern Proben. Die kommen in der Tat zu kurz. Mit den Vorbe reitungen zur Schlusspräsentation wird erst drei Tage vorher begonnen. Es soll wieder eine Folge von selbst entwickelten Sketchen werden, basie rend auf den Erfahrungen und Beobachtungen der drei Wochen. Bei der Umsetzung hilft Na beel, aber er »inszeniert« nicht, wie manche be mängeln, sondern beschränkt sich auf Hilfestel lungen zu Rhythmus, Timing, Körperspannung und Bühnenpräsenz. »You have to develop the scenes by yourself, and then I will fix them«, sagt er ein ums andere Mal. Er will Kreativität und Erfindungsfreude der Teilnehmer stimulieren, lässt ihnen freie Hand und versteht sich eher als Motivator denn als Regisseur. Das führt al lerdings dazu, dass einige Szenen, wie schon in Leipzig, für ein in die Entstehungsgeschichte nicht eingeweihtes Publikum kaum verständ lich sind, weil die Situationen nur bebildert, nicht auch erzählt und vermittelt werden. Einer der Deutschen verbeißt sich in zwei satirisch ge meinte, aber hochgradig humorfreie Israel-Palästina-Sketche. Auch der Regisseur greift nicht ein. Die Jugendlichen selbst entscheiden in letz ter Minute, sie wegzulassen, und retten damit den Abend.

Die Präsentation findet auf der Baustelle des neuen Hauses statt, das sich das Freedom Theatre im Stadtzentrum errichtet. Es gibt eine große

freie Betonfläche, Scheinwerfer und Wasserpfützen, sonst nichts. Das Publikum sitzt auf Stein quadern und ist zahlreich: die Leute vom Free dom Theatre und CinemaJenin, Familienange hörige, Freunde und viel Laufkundschaft. Na beel hält eine kurze Ansprache auf Arabisch und Englisch, dann beginnt die Vorstellung, die keinen Namen hat. Jede Szene wird mit Riesen beifall bedacht, vor allem der Running Gag mit der Tourist Police kommt gut an. Die Nummer ist das Rückgrat der Aufführung (wie in Leipzig The Wall ): wieder das palästinensische Komikerpaar, das in witzigen Improvisationen und vielen Varianten diesmal Touristen überwinden will, denen es »no speak English« eher Ärgernis als Hilfe ist. Andere Szenen handeln von Frauenunterdrückung, von Müllbergen oder vom internen Dissens da schreien sich die Darsteller mit ihrem ewigen »You must do!«/ »You must see!« gegenseitig nieder. Es endet mit einem selbstgeschriebenen Friedenslied, von al len gemeinsam gesungen, das Lagerfeuerstim mung verbreitet und erfrischend unprätentiös ist. Die Jugendlichen sind immer dann am bes ten, wenn sie unverfälscht sie selbst sind. Nach der Aufführung ist die Stimmung gut, man hat es geschafft, gemeinsam, und alle wol len den Erfolg feiern. Aber die Theaterleitung besteht darauf, dass die Baustelle sofort verlas sen wird, damit die Technik das Licht abbauen kann. Die Feier findet später doch noch statt, im Guest House der Deutschen, und auch ein paar Palästinenser (sogar zwei Frauen!) schleichen sich heimlich dorthin. Doch am nächsten Tag folgt der Kater, und die Abschlussdiskussion ist bitter wie eh und je. Das Resümee, das die Teil nehmer ziehen, ist katastrophal, sie sehen kei nen Sinn mehr im Weitermachen, einige drohen, auszusteigen. Es fallen Sätze wie: »Hätte ich ge wusst, was mich hier erwartet, wäre ich nicht ge kommen«, und auf den Hinweis, dies sei doch ein Kulturaustausch, kein politischer, kommt die Antwort »The occupation is my culture.« Auch die Leitung zieht eine sehr kritische Bilanz und fragt sich, ob sie weitermachen soll. Alle sind sich einig, dass sich vieles ändern muss, aber was genau und in welche Richtung, ist nicht so leicht unter einen Hut zu bringen. Die deut sche Gruppe will die Zeit bis zum nächsten Camp im Frühjahr zu monatlichen Treffen und Schauspiel-Workshops nutzen, die gemeinsame Website soll als Meinungsforum zu einem je

weils gesetzten Topic of the Month wiederbelebt werden. Geplant sind fürs nächste Jahr zwei »performative Präsentationen im öffentlichen Raum«: ein palästinensischer Regisseur, der noch nicht feststeht, soll in Leipzig inszenieren, Jörg Lukas Matthaei, der jetzt die Gruppe zu Recher chen begleitete, in Jenin.

Die Jugendlichen werden einzeln gefragt, ob sie weiter mitmachen wollen und erklären sich schließlich allesamt bereit dazu. Wahrschein lich wird der Zusammenhalt der Gruppe letzt lich stärker sein als die Verletzung, und ebenso wahrscheinlich wird der alte Konflikt trotzdem wieder ausbrechen zu hoffen ist, dass man dann bereit ist, sensibler, flexibler damit umzu gehen, stärker versucht, sich in die andere Seite hineinzuversetzen und die Frage »Why are you here?« besser beantworten kann.

»Ich habe die Berge bestiegen und die Kriege ausgefochten/ Ich habe das Unmögliche erobert und die Fesseln zerbrochen«, heißt es in der pa lästinensischen Nationalhymne, die den Titel Biladi trägt.

Renate Klett arbeitete als Dramaturgin am Schau spiel Frankfurt, Schauspiel Köln, Staatstheater Stuttgart und Thalia Theater Hamburg. Sie war Künstlerische Leite rin / Programmdirektorin des Festivals Theater der Welt in Köln 1981, Stuttgart 1987, Hamburg 1989 und München 1993 . Sie lebte als Kulturkorrespondentin in Pa ris, London, Rom, Wien und New York. Heute arbeitet sie in Berlin als Theater- und Tanzkritikerin u. a. für FAZ , Süd deutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Rundschau und Theater der Zeit. Im Alexander-Verlag Berlin sind zwei Interviewbücher von ihr erschienen: Nahauf nahme Alain Platel (2007) und Nahaufnahme Robert Lepage (2009 ).

fonds wanderlust Der Fonds Wanderlust unterstützt die Zusammenarbeit deutscher Stadt-, Staats- und Landestheater mit Bühnen im europäischen und außer europäischen Ausland für die Dauer von zwei bis drei Spielzeiten. Die Bandbreite der Kooperationen reicht von Sprechtheater über Puppen- und Tanztheater bis hin zu Jugend- und Kindertheater. Bestandteil der Lang zeitprojekte sind unter anderem zweisprachige Kopro duktionen, Stückaufträge und Rechercheprojekte sowie theatralische Interventionen im Stadtraum. Der Aus tausch von Mitarbeitern und die gegenseitige Einladung zu Gastspielen ergänzen die umfa ngreichen Planungen der Theater. / / / Die nächsten Premieren: IstanbulTR: 11. November 2010 Cabinett (Theater Freiburg & garajistanbulTR) / Heidelberg: 14. November 2010 Medicament (Theater Heidelberg & Teatron Beit Lessin Tel Aviv IL) / Gent B: 5. Dezember 2010 Das erste Stück (Oldenbur gisches Staatstheater & Kopergietery Gent B) / Osnabrück: 28. Januar 2011 Canetti-Projekt (Theater Osnabrück & Drama Theater RusseBG) / KrakówPL: März 2011 Sein oder Nichtsein (Maxim Gorki Theater Berlin & Naro dowy Stary Teatr KrakówPL) / Berlin: 6. April 2011 Border lines (Theater an der Parkaue Berlin & West Yorkshire Playhouse LeedsGB) / Oberhausen: 8. April 2011 Fremd bin ich eingezogen (Theater Oberhausen & Nationalthe ater Radu Stanca SibiuRO) / Mannheim: 10. April 2011 Der Junge mit dem Koffer (Nationaltheater Mannheim / Schnawwl & Ranga Shankara Theater BangaloreIND) / / / Weitere Informationen zum Fonds Wanderlust , den Theaterpartnerschaften und die nächsten Termine finden Sie unter: www.kulturstiftung-bund.de/wanderlust / / / Aktuelle Berichte, Fotos und Videos von der grenzüber schreitenden Zusammenarbeit der Theater finden Sie im Wanderlust Blog: www.wanderlust-blog.de

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glückwunsch

von hans zender

Vor dreißig Jahren, am 30. Oktober 1980, wurde das Ensemble Modern als basisdemokratische Initiative von Studentinnen und Studenten der Jungen Deutschen Philharmonie gegründet. Das Ensemble Modern mit seinen derzeit neunzehn Solisten aus acht Nationen ist eines der weltweit führenden Ensemb les für Neue Musik. In enger Zusammenarbeit mit großen Komponisten wie John Adams, George Benjamin, Peter Eötvös, Heiner Goebbels, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, Helmut Lachenmann, György Kurtág, György Ligeti, Benedict Mason, Karlheinz Stockhausen, Steve Reich, Frank Zappa und Hans Zender werden jedes Jahr ca. 70 neue Werke erarbeitet, darunter ca. 20 Urauffüh rungen. Das Ensemble Modern ist nach wie vor einer basisdemokratischen Ar beitsweise verpflichtet: Es hat keinen künstlerischen Leiter, über Projekte, Gast musiker, Koproduktionen und finanzielle Belange wird gemeinsam entschieden, jeder Musiker kann seine persönlichen Erfahrungen und Wünsche einbringen. Die programmatische Bandbreite umfasst Musiktheater, Tanz- und Videoprojekte, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterkonzerte. Die Kulturstiftung des Bundes fördert das Ensemble Modern seit 2004 als einen »kulturellen Leuchtturm«. Zu den Persönlichkeiten und Förderern, die das starke Potenzial der Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie am Ende der 1970er Jahre erkannten, gehört der Dirigent und Komponist Hans Zender. Er gab einen entscheidenden Anstoß zur Gründung des Ensemble Modern und initiierte auch 1993 die bis heute existierende Reihe von Werkstattkonzerten Happy New Ears . Er gratuliert dem Ensemble Modern, das heute so aktuell sei wie…

damals, als es sich selbst gründete, ohne Geld, ohne irgendeine Sicherheit, ohne Garantie, dass die Sache langfristig gut geht, mit nichts als Begeisterung, großem fachlichen Können, Fleiß bis zur Besessenheit und Neugier auf Neue Musik. Die Franzosen hatten gerade mit staatlicher Subvention ihr Ensemble In tercontemporain gegründet; in Deutschland, wo das In teresse an einem ganzjährlich arbeitenden Ensemble für Neue Musik mindestens ebenso dringend war, gab es keine Hilfe, we der der Städte noch der Medien. Also handelte man auf eigenes Risiko, und das ist immer das Beste! Es gibt wenige Musiker, die ich so bewundere wie die Musiker des Ensemble Modern, die mitten in unserer Überflussgesellschaft, in der auch die Künstler verwöhnt werden (vorausgesetzt, sie passen sich dieser Gesell schaft an), ein karges einfaches Leben führen, bei einem äußerst strapaziösen Arbeitsplan, der sie ständig zu langen Reisen zwingt, und bei einer kaum glaublichen Lernleistung. Denn fast in jedem Konzert gibt es eine Uraufführung, mit vielleicht neuen Techniken, neuen Schriftzeichen, unvertrautem Stil; die Anforderungen an jeden Musiker sind um ein Vielfaches höher als bei einem hochbezahlten Mitglied unserer Kulturorchester, der Dienstplan um ein Doppeltes oder Dreifaches umfangreicher. Hier kann man sehen, was kreative Kraft, wenn sie in eigener Verantwor tung schafft, und das Gefühl, etwas wirklich Notwendiges zu tun, bewirken können. Denn die Vitalität der Mitglieder ist un gebrochen nach den langen Jahren, die sie zu immer erstaunli cheren Leistungen und zu Weltruhm brachten; die basisdemo kratische Verfassung lässt sie selbst über die Musik entscheiden, die sie spielen, und da ist Platz für alle möglichen Richtungen, da gibt es keine Dogmen, die dem Geist unserer Zeit nicht entspre chen es herrscht auf ganz natürliche Weise ein zeitgemäßer Pluralismus.

Die Komponisten, alte wie junge, wissen am allerbesten, welche Lücke das Ensemble in dem reichen, aber ganz konservativ ein gestellten und immer mehr kommerziell orientierten Musikle ben der Bundesrepublik schließt. Es ist geradezu lachhaft, wel cher Aufwand da veranstaltet wird um die ständige Repetition der immer gleichen Stücke eines ziemlich schmalen und genü gend bekannten Repertoires während die Musik der Moderne, welche Ausdruck unserer gegenwärtigen psychischen und gesell schaftlichen Situation ist, immer mehr, man möchte sagen: sys tematisch, an den Rand gedrängt wird. Gleichzeitig wirft man ihr vor, zu schwierig und unverständlich zu sein kein Wunder, wenn man den Hörern kaum Gelegenheit gibt, sie zu hören und sich in die Wunder ihrer neuartigen Farben, Klänge und Rhyth men zu vertiefen. Und der Glaube kommt nun einmal vom Hö ren und zwar vom Live-Hören, dafür gibt es keinen Ersatz.

Wir sind in unserer Gesellschaft noch nicht viel weiter gekom men seit der Gründungszeit unseres Ensembles: Man hat das Ge fühl, dass Unkenntnis, Dummheit und vor allem Angst vor Risi ko gerade bei den großen Konzertveranstaltern eher größer ge worden sind in Bezug auf die Neue Musik. Und die Verantwor tung nicht nur für die Neue Musik, sondern für unsere musika lische Kultur im Ganzen scheint gänzlich geschrumpft zu sein: Die europäische Musikkultur ist seit ihrem Beginn eine sich im mer erneuernde, nicht nur sich in klassischen Formen bewahren de Kultur. Diese Eigenschaft ist Europa, aus diesem Geist ist auch unsere Wissenschaft und Philosophie entstanden. Gebe ich dem Neuen kulturpolitisch keine Chance, so töte ich den Le bensnerv der ganzen Tradition ab: Ich verwandle sie langfristig in eine sterile Museumskultur. Sicher sind die großen Meister unserer Zeit nicht so einfach zu ›verdauen‹ wie so manches Sur-

rogat, das sich als »nur ein bisschen modern« oder als »unterhaltend modern« anbietet. Umso wichtiger ist, sich gerade den ›Schwierigen‹ immer wieder zu stellen, denn sie sagen die Wahr heit: Unsere heutigen Probleme sind schwierig.

Und deswegen brauchen wir das Ensemble Modern heute so wie früher! Es ist, jedenfalls für mich und meinesgleichen, der beste ›Botschafter der Musik‹, den unsere Republik in die Welt senden könnte. Sicher haben sich viele Sponsoren im Lauf der Erfolgsgeschichte des Ensembles gefunden, aber dass keine staatliche Institution die volle Verantwortung übernimmt, das zeigt die Schwierigkeit der deutschen Kulturpolitik unter den verfas sungsmäßigen Gegebenheiten. Umso erfreulicher ist, dass die Kulturstiftung des Bundes nunmehr das Ensemble Modern jähr lich mit fast einer halben Million Euro unterstützt. Das ist hoch zu loben und stellt den berühmten ›Schritt in die richtige Rich tung‹ dar. Das Leben wird nicht einfacher, treue Freunde sind selten. Wünschen wir dieser ebenso mutigen wie höchstqualifi zierten Mannschaft für die kommenden Jahre viel Glück, und danken wir ihr für ihre einzigartige Arbeit!

Hans Zender , Prof. Dr. h.c., *1936, Komponist, Dirigent, Musikschrift steller, Mitglied der Münchner, Berliner und Hamburger Akademie der Künste, Goethepreisträger der Stadt Frankfurt u.a. Seit den achtziger Jahren immer wie der Gast des Ensemble Modern. Nächste Uraufführungen: 4. Juli 2011 Mün chen musica viva , 4. September 2011 Berliner Festspiele

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meldungen

fonds neue länder auf dem prüfstand

Als eines der ersten Förderprogramme der Kulturstiftung des Bundes startete 2002 der Fonds zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern (kurz: Fonds Neue Länder ). Bis heute wurden 140 Kunst- und Kulturprojekte gefördert. De ren Spektrum reicht von der kulturellen Nutzung brandenbur gischer Dorfkirchen bis zu internationalen Musik- und Theater festivals. Im Rahmen einer Reihe von drei Werkstattgesprächen, zu denen die Kulturstiftung im September und Oktober 2010 einlud, diskutierten Projektbeteiligte und Experten über Anspruch und Wirklichkeit der Förderungen sowie über Tendenzen der freien Kulturszene und des kulturellen Engagements. Ein Dos sier, welches Programm, Verlauf und Ergebnisse dieser Gespräche dokumentiert, kann ab November 2010 unter www.kulturstiftungbund.de/fnl abgerufen werden.

junge literatur in die provinz!

Mit Literaturwettbewerben, Workshops und Poetry Slams versu chen Initiativen in Suhl, Altenburg und Döbeln die literarische Szene in ihrer Umgebung zu beleben. Junge Rückkehrer, Leute, die nach dem Studium in der Großstadt nun in der Provinz Kul tur machen wollen, organisieren im Herbst und Winter 2010 /11 in Thüringen und Sachsen Veranstaltungen, die der Literatur szene in ihrer Gegend neue Impulse geben wollen. In Thüringen gibt es beispielsweise Hörspielnächte in verschiedenen Sternwar ten. Oder das Theater Döbeln: Es veranstaltet eine Leseperfor mance, die das Ergebnis eines Literaturwettbewerbes ist. Der dortige Treibhaus e.V. rief dazu auf, die Möglichkeiten des jun gen soziokulturellen Zentrums für eigenes Engagement zu nut zen. Die Veranstaltungsreihe Lesezeichen des Zeitgeist e.V in Altenburg widmet je einen Abend einem etablierten sowie zwei Nachwuchsautor/innen aus der Region. Der Fonds Neue Länder unterstützt gezielt solch bürgerschaftliches Engagement für die Kultur in den neuen Bundesländern. Wei tere Informationen unter www.provinzschrei.de, www.treibhausdoebeln.de, www.zeitgeist-altenburg.de

des nietzschedokumentationszentrums in naumburg — stifter gesucht!

Friedrich Nietzsche war Mitteldeutschland Zeit seines Lebens verbunden. In Sachsen-Anhalt stehen sein Geburtshaus, seine Schule und das Haus seiner Mutter, ein wichtiger Bezugspunkt für den Philosophen, hier entstanden viele seiner Werke. Von 1890 bis 1897 wurde er dort von seiner Mutter gepflegt. Die Fried rich-Nietzsche-Stiftung kümmert sich seit 2006 um Erhalt und Nutzung dieser Orte. Ab Oktober 2010 ist das neue NietzscheDokumentationszentrum in Naumburg geöffnet. Der moderne Bau steht in direkter Nachbarschaft zum historischen Wohn haus, in dem Leben und Werk Friedrich Nietzsches ausgestellt werden. Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt den Start des Dokumentationszentrums im Rahmen des Fonds Neue Länder . Besucher/innen können hier die Sammlung zur Nietzsche-Rezeption einsehen, das Haus für Studienaufenthalte und Veranstaltungen nutzen oder künstlerische Ausstellungen besuchen. Das Projekt wurde durch ehrenamtliches Engagement angeschoben, der Betrieb des Nietzsche-Dokumentationszent rums soll zukünftig von der Nietzsche-Stiftung (mit)gesichert werden: Vom nötigen Kapitalstock in Höhe von drei Millionen Euro sind bislang 87 000 Euro zusammengekommen. Es werden noch Zustifter oder Spender gesucht. Weitere Informationen un ter www.friedrich-nietzsche-stiftung.de

kulturstiftung des bundes magazin 16

paul-celan-preis 2010 für rosemarie tietze

Der von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Deutsche Literaturfonds vergibt jährlich den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen ins Deutsche. Dieses Jahr wird Rosemarie Tietze für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet, das zahlreiche Übersetzungen aus dem Russischen von Schriftstellern wie Bitow, Nabokov und Pasternak umfasst. Insbesondere die 2009 im Carl Hanser Verlag erschienene Übersetzung des Tolstoi-Ro mans Anna Karenina fand international große Beachtung und war auch schon für den Preis der Leipziger Buchmesse 2010 nominiert worden. »Ihre Neuübersetzung glänzt«, so die Jury, »durch Detailtreue und Sinnlichkeit, Frische und Eleganz.« Es sei eine große Leistung, einem alten Text treu zu bleiben und ihn dennoch zeitgemäß wirken zu lassen. Rosemarie Tietze wurde 1944 in Oberkirch geboren, studierte Theaterwissenschaft, Sla wistik und Germanistik und arbeitet als Übersetzerin, Dolmet scherin und Dozentin. Sie ist Mitbegründerin des Deutschen Übersetzerfonds und war bis 2009 dessen Vorsitzende. Der mit 15 000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben, die Laudatio hält Esther Kinsky. Weitere Informationen unter www.deutscher-literaturfonds.de

august-wilhelm-von-schlegelgastprofessur für poetik der übersetzung 2010/2011

Susanne Lange wird nach Stefan Weidner im Wintersemester 2010 /2011 die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gast professur für Poetik der Übersetzung bekleiden. Die Professur wurde vom Deutschen Übersetzerfonds und der Freien Universität Berlin 2007 ins Leben gerufen. Es ist die erste Professur im deutschsprachigen Raum für Poetik der Übersetzung . Angesiedelt ist sie am Peter-Szondi-Insti tut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Su sanne Lange debütierte als Übersetzerin aus dem Spanischen 1992 spektakulär mit der Übertragung von Fernando del Pasos Monumentalroman Palinurus von Mexiko (Frankfurter Verlagsanstalt) und legte damit den Grundstein für ihren Erfolg und ihr Ansehen als Vermittlerin lateinamerikanischer und spa nischer Literatur. Insbesondere mexikanische und kubanische Autoren erschienen seither in ihrer Übertragung. 2008 erschien ihre preisgekrönte Neuübersetzung von Cervantes’ Don Qui jote (Hanser Verlag). Sinn der Professur sind nicht übersetzung spraktische Fingerübungen für Literaturwissenschaftler, sondern kritische Reflexionen über eigene und fremde Übersetzungsme thoden sowie die vergleichende Textanalyse. Der Deutsche Übersetzerfonds und das Peter-Szondi-Institut verstehen die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur als einen markanten Schritt zur Aufwertung der litera rischen Übersetzung als einer eigenständigen künstlerischen Leistung. Die Gastprofessur wird seit 2009 aus Mitteln der Kul turstiftung des Bun-des gefördert. Weitere Informationen unter www.uebersetzerfonds.de

ökologische zertifizierung der kulturstiftung des bundes

Die Kulturstiftung ist bestrebt, ihre eigene Arbeitsweise am Leit bild von Nachhaltigkeit und ökologischer Gerechtigkeit auszu richten. Seit Anfang des Jahres hat sie daher gemeinsam mit dem Haus der Kulturen der Welt das Projekt Über Lebenskunst ins Leben gerufen. Parallel hat sie intern den Prozess einer ökolo gischen Zertifizierung begonnen ( EMAS -Zertifikat). Von der Ar beit in Büros bis hin zur Durchführung von Veranstaltungen gibt es in Kulturbetrieben vielfältige Handlungsfelder, in denen kleine organisatorische Veränderungen große ökologische Wir kung erzielen können. Die Kulturstiftung des Bundes will im Zuge des Zertifizierungsprozesses in einem ersten Schritt Verhal tensweisen einüben, mit denen sie ihr eigenes Umwelthandeln verbessern kann, und möchte in einem zweiten Schritt auch an dere Kulturinstitutionen ermutigen, ihren Ressourcenverbrauch ökologisch gerechter zu gestalten.

world cinema fund in cannes erfolgreich

Der von der Kulturstiftung des Bundes und den Internationalen Filmfestspielen gegründete World Cinema Fund (WCF ) erntet erstklassige Festivalauszeichnungen. Nach dem Goldenen Lö wen für Eine Perle Ewigkeit von Claudia Llosa im ver gangenen Jahr gewann in Cannes im Frühjahr 2010 die WCF -Pro duktion Uncle Boonme Who Can Recall His Past Lives des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasetha kul die Goldene Palme. Seit seiner Gründung 2004 hat der WCF Produktions- bzw. Verleihförderungen an insgesamt 70 Projekte unter 1 165 Einreichungen aus Afrika, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten, Zentral- und Südostasien sowie dem Kaukasus vergeben. Alle bisher produzierten WCF -Filme liefen in den Kinos und/oder in den Programmen renommierter inter nationaler Filmfestivals und belegen den internationalen Erfolg der Initiative. Im Juli hat die Jury des WCF die Förderung von drei weiteren Projekten beschlossen. Produktionsförderung erhalten die Filme Death for Sale , Regie: Faouzi Ben Saidi (Marokko), The Prize , Regie: Paula Markovitch (Argentinien), I’m Going To Change My Name , Regie: Maria Saakyan (Armenien). Nähere Informationen unter www.berlinale.de

kunst:philosophie 2009 –2011.

zwei neue publikationen.

Hat Schönheit einen Zweck? Was ist ›echte‹ Kunst? Können Bil der lügen? Antworten auf diese zentralen Fragen der Kunsttheo rie aus der Perspektive der analytischen Philosophie zu finden, ist das Ziel der zweijährigen Veranstaltungsreihe der Ludwig-Ma ximilians-Universität München und der Kulturstiftung des Bundes an fünf deutschen Museen. Die Ergebnisse der ersten beiden Stationen sind jetzt als Auftakt einer fünfteiligen Publikations reihe im Hatje Cantz Verlag erschienen. Unter dem Titel Äs thetische Werte und Design widmet sich erste Band der Frage, ob auf Designobjekte dieselben ästhetischen Katego rien angewendet werden können wie auf Kunstwerke. Der zweite Band Kontextarchitektur untersucht die Anforderungen an eine Architektur für den musealen Raum. Die Veranstal tungsreihe Kunst:Philosophie wird 2011 fortgesetzt mit der Tagung Was bitte schön soll vermittelt wer den? Überlegungen zur Aufgabe und Rolle der Kunstvermittlung in den Medien am 29. Januar 2011 im Museum Villa Stuck in München sowie mit der abschließen den Tagung Fotografie zwischen Dokumentation und Inszenierung am 7. Juli 2011 im Kunstmuseum Bonn. Weitere Informationen unter www.philosophie-kunst.de

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kleist-jahr 2011: online-portal freigeschaltet

Am 21. November 2011 jährt sich der Todestag des Dichters Hein rich von Kleist zum 200. Mal. Die Kulturstiftung des Bundes re alisiert aus diesem Anlass in Zusammenarbeit mit der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft Berlin, dem Kleist-Museum Frankfurt (Oder), dem Maxim Gorki Theater Berlin und der Theatergrup pe Rimini Protokoll Projekte, die gezielt die aktuellen Bezüge in Leben und Werk des Dichters ausloten. Einen Ausblick auf die zahlreichen Veranstaltungen im kommenden Jahr sowie umfas sende Hintergrundinformationen zu Kleist bietet schon jetzt ein neues Online-Portal unter www.heinrich-von-kleist.org

heimspiel 2011. theater – workshops –symposium – festival

»Ein Initial für die systematische Suche nach einer Neubestim mung des Stadttheaters« so umschrieb Barbara Mundel, In tendantin des Theaters Freiburg, unlängst den Fonds Heim spiel . Seit 2006 förderte die Kulturstiftung des Bundes in die sem Fonds bislang über fünfzig Theaterprojekte, die sich mit der sozialen und urbanen Gegenwart vor Ort auseinandersetzen. Unter dem Motto Heimspiel 2011 Wem gehört die Bühne? will die Kulturstiftung in Kooperation mit dem Schauspiel Köln vom 28. März bis 3. April 2011 Zwischenbilanz ziehen. Das Programm in Köln umfasst ein internationales Sym posium, ein begehbares Archiv für Heimspiel-Produktionen, ein einmaliges Festival sowie Workshops für Dramaturgen und Künstler. Weitere Informationen unter www.heimspiel 2011.de Anträge im Fonds Heimspiel können noch zum 31. Okto ber 2010, zum 30. April 2011 und letztmalig zum 31. Oktober 2011 bei der Kulturstiftung des Bundes eingereicht werden. Weitere Informationen unter www.kulturstiftung-bund.de/heimspiel

bkm-preis 2010 für kulturelle bildung

Zum zweiten Mal verlieh Kulturstaatsminister Bernd Neumann am 30. August 2010 in der Stiftung Genshagen den bkm-preis 2010 für kulturelle bildung ; und zum zweiten Mal (nach 2009 ) konnte sich die Kulturstiftung des Bundes freuen, dass das von ihr nominierte Kunstprojekt Hauptschule der Freiheit zum Kreis der drei gleichberechtigten Gewin ner zählte. Was im Januar 2009 mit einer Anfrage der Theaterleute an eine »durchaus zögerliche« Schulleiterin begonnen hatte so Hauptschuldirektorin Ursula Schneider , fand zum En de des Schuljahres 2009 in einem mehrtätigen Gesamtkunstwerk aus Schule, Leben und Theater einen strahlenden Höhepunkt. Doch nicht nur die Hauptschule an der Schwindstraße zehrt bis heute von der außergewöhnlichen Partnerschaft; auch in den Münchner Kammerspielen hat »Begegnung auf Augenhöhe viel gestaltige ästhetische und künstlerische Nachwirkungen gezei tigt«, wie der Geschäftsführende Direktor der Kammerspiele, Siegfried Lederer, bei der Entgegennahme des mit 20.000 Euro dotierten Preises bestätigte. Zu den Preisträgern gehört auch der Verein FestLand e.V. aus der Prignitz in Brandenburg mit dem Musiktheaterprojekt dorf macht oper . Die Einwohner eines kleinen Dorfes haben einen ehemaligen Schweinestall in ein kleines ›Festspielhaus‹ umgewandelt, in dem von 60 Laien und Profis der Sommernachtstraum aufgeführt wurde. dorf macht oper wurde von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen ihres fonds neue länder gefördert.

eröffnung der ausstellung ›sounds‹ in karlsruhe

Das Ausstellungsprojekt Sounds. Radio – Kunst – Neue Musik begeisterte in der ersten Hälfte des Jahres Kritik und Publikum des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.). Es ist hervor gegangen aus einer Zusammenarbeit von n.b.k. und Zipp –deutsch-tschechische Kulturprojekte , einem Ini tiativprogramm der Kulturstiftung des Bundes. Nun wird die Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medien ( ZKM ) in Karls ruhe gezeigt. Eröffnung ist am 10. November 2010, zeitgleich mit dem Beginn der am selben Ort stattfindenden ARD Hör spieltage . Die Ausstellung macht Radio als künstlerisches Medium räumlich erlebbar. Fünf Radioarbeiten, die im Rahmen des deutsch-tschechischen Radiokunstprojekts rádio d-cz entstanden, bilden den Mittelpunkt eines Netzes aus historischen und systematischen Referenzen an die fast hundertjährige Geschichte der Radiokunst, ein begehbares, interaktives Archiv. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, bestehend aus einem Textteil und allen fünf Hörstücken auf CD s im Schuber.

ZKM , Museum für Neue Kunst, 11. November 2010 – 27. März 2011, Eröffnung: 10. November 2010, 18 Uhr. Weitere Informationen unter www.zkm.de

ausgezeichnet!

Nachdem 2009 in der Theater heute -Jahresbestenliste die Dritte Generation von Yael Ronen 3× genannt wurde, wurde das Stück auch 2010 wieder mehrfach ausgezeichnet: Es wurde 5× zum »besten ausländischen Stück« gewählt. Die Voten kamen von den Juroren Eva Behrendt, Jürgen Berger, Barbara Burckhardt, Christine Dössel sowie Rüdiger Schaper.

Im Jahrbuch Tanz wurde das Initiativprojekt Tanzkon gress der Kulturstiftung des Bundes zum »herausragenden Er eignis 2010« gewählt.

Das ebenfalls von uns geförderte Ensemble Gintersdorfer/ Klaßen wurde im Jahrbuch Tanz zur »Kompanie des Jah res 2010 « erkoren.

Im September begann im kanadischen Hamilton für die Erst klässler der King George Elementary School der AIFEC -Unter richt. Hinter der Abkürzung (An Instrument For Every Child ) ver birgt sich ein Projekt der Kulturellen Bildung, das sich inhaltlich stark an JEKI ( Jedem Kind ein Instrument ) orientiert jenem Pro gramm, das die Kulturstiftung des Bundes gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen, den Kommunen und der Zukunfts stiftung Bildung in der GLS Treuhand im Jahr 2007 als ihren Bei trag zur Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 ins Leben ge rufen hat. In Hamilton ist es nunmehr ein Verbund aus Schulbe hörde, dem Hamilton Philharmonic Orchestra und dem Hamil ton Music Collective ( HMC ), der sich zusammengetan hat, um »innerstädtischen Kindern« (im überseeischen Sprachgebrauch bedeutet dies sozial und in Sachen Bildung benachteiligte Her anwachsende) die Möglichkeit zu eröffnen, im Grundschulalter ein Instrument zu erlernen. Das HMC ist ein Netzwerk, das sich für Nachwuchsförderung und Audience Development im Bereich Jazzmusik starkmacht. Ein Geschäftsmann der Stadt legte mit einer Spende von 125 000 CAN$ den Grundstock für das ambitionierte Vorhaben. Weitere Informationen unter www.aninstrumentforeverychild.org

werden sie fan der kulturstiftung

Besuchen Sie die Kulturstiftung des Bundes auf Facebook und zeigen Sie uns, was Ihnen gefällt. Die Kulturstiftung ist seit eini gen Monaten in einem der weltweit größten sozialen Netzwerke aktiv. Als Ergänzung zu unserer Website informieren wir Sie auf unserer Facebook-Seite über unsere Ausschreibungen, Förder möglichkeiten und Programme. Wer tiefer einsteigen möchte und sich zu einem Thema austauschen will, kann die Seiten ein zelner Programme besuchen. Viele unserer geförderten Projekte haben mittlerweile ihren eigenen Facebookauftritt, wie z.B. der Fonds Wanderlust Internationale Theater partnerschaften, das Netzwerk Neue Musik , das Programm Über Lebenskunst Initiative für Kul tur und Nachhaltigkeit oder auch das KUR -Pro gramm zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut www.facebook.com/kulturstiftung www.facebook.com/wanderlust.fund www.facebook.com/NetzwerkNeueMusik www.facebook.com/kur.programm

können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter www.kul turstiftung-bund.de aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter +49 –( 0 ) 345 2997 124 Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf!

die website

Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, die Förderanträge und geförderten Pro jekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns un ter www.kulturstiftung-bund.de

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neue projekte

In der Frühjahrssitzung 2010 erhielten auf Emp fehlung der Jury 25 Projekte aller Sparten eine Förderzusage im Rahmen der antragsgebundenen Projektförderung.

bild und raum

glück happens eröffnungsaus stellung im renovierten palais stutterheim Unter dem neuen Namen Kunstpalais öffnete im Juni 2010 nach zweijähriger Renovie rungsphase die Städtische Galerie Erlangen wie der die Tore des Palais Stutterheim mit der Auf taktausstellung Glück happens . Die Schau zeigte Positionen von 15 Künstlern aus acht Nationen, die in ihren Arbeiten gänzlich unterschiedliche Aspekte und Vorstellungen von Glück artikulieren: Glück als Versprechung, Glück als Höhepunkt oder Sinn des Lebens, aber auch sein ambivalentes, oft trügerisches Wesen als zerbrechliches Gut sowie Glückserfah rungen in Form von Sex, Rausch und Ekstase. Ein interdisziplinäres Begleitprogramm mit ei gener Publikation thematisierte das Glückserle ben in der heutigen Gesellschaft aus kunstge schichtlicher und philosophischer Perspektive. Kuratorin: Claudia Emmert / Künstler/innen: Lars Arrhenius (S) und Daniel Westlund (S) , Birgit Brenner, Mona Hatoum (RL/GB) , Runa Islam (BD/GB) , Christian Jankowski, Šejla Kameric (BIH) , Katharina Karrenberg, Aleksandra Mir (S/I) , Karina Nimmerfall (A) , Peter Piller, Tobias Rehberger, Lu zia Simons (BR/F) , Alejandro Vidal (E) , Erwin Wurm (A) , Paola Yacoub (RL) u.a. /Städtische Galerie Erlangen, 2 6.– 25 7 2010 / www.kunstpalais.de

thermostat zusammenarbeit zwi schen 24 centres d’art und kunstver einen Für das Projekt Thermostat koope rieren zwölf deutsche Kunstvereine mit zwölf französischen Centres d’art und entwickeln rund 30 gemeinsame Ausstellungen und Veranstaltungen, die von Juni 2010 bis April 2011 in beiden Ländern stattfinden. Die Entstehungsgeschich te der Institution Kunstverein ist in den beiden Ländern eine völlig andere: Die deutschen Kunstvereine sind zumeist bereits im 19. Jahr hundert aus bürgerlichem Engagement entstan den, die französischen Centres d’art entwickel ten sich erst in den 1970er Jahren aus privaten Initiativen. Ein traditionell wichtiger Schwer punkt der französischen Centres d’art ist die Vermittlung künstlerischer Inhalte an Kinder und Jugendliche. Kunstvereine wie Centres d’art ge hören zu den wichtigsten Vermittlern von Ge genwartskunst, sie bieten jungen Künstlern eine erste Plattform und prägen das Kulturleben ab seits der großen Metropolen. Ein zentrales An liegen des Projektes Thermostat besteht ge nau darin, die dezentralen Strukturen des Kunstbetriebs in den Blick zu nehmen und zu stärken. Die gemeinsame Arbeit soll zu einem intensiven Austausch anregen, der künstlerische, kura torische, aber auch organisatorische Fragestel lungen umfasst.

Künstlerische Leitung: Cédric Aurelle / Kurator/innen: Silke Albrecht, Pierre Bal-Blanc, Sylvie Boulanger, Anja Casser, Yann Chevallier, Marie Cozette, Keren Detton, Lilian En gelmann, Ralf F. Hartmann, Sophie Kaplan, Anne Kers ten, Ulrike Kremeier, Marianne Lanavère, Sophie Legrand jacques, Claire Le Restif, Hannes Loichinger, Astrid Ma nia, Madeleine Mathé, Martine Michard, Sandra Patron, Britta Peters, Kathleen Rahn, Thomas Thiel, Janneke de Vries Hilke Wagner Axel John Wieder / / /CAC Brétigny, Brétigny-sur-Orge, Oktober/November 2010 / Künstler haus Stuttgart, 5 11.– 31 12 2010 / La Galerie, Centre d’art contemporain de Noisy-le-Sec, 11 12 2010 12 2 2011 / Kunstverein Braunschweig, 5 6.– 15 8 2010 / CRAC Alsace, Centre rhénan d’art contemporain d’Altkirch, 17 6.– 12 9 2010 /Centre d’art contemporain d’Irvy le Crédac, Ivry-sur-Seine, 22 9.– 19 12 2010 / Kunstverein Nürnberg, 9 10.– 5 12 2010 / Centre d’art contemporain la synagogue de Delme, 2 10 2010 9 1 2011 / Brandenburgischer Kunstverein, Pots dam, 11 12 2010 30 1 2011 / Centre d’art passerelle, Brest, 28 1.– 2 4 2011 / Le Quartier, centre d’art contemporain de Quimper, 5 2 .– 27 3 2011 / Badischer Kunstverein, Karlsru he, 24 9.– 21 11 2010 / cneai=, Chatou, 19 10.– 19 12 2010 / Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg, 29 10.– 19 12 2010 / Halle für Kunst, Lüneburg, 20 11 2010 16 1 2011 / GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen, Shanon Bool, 27 11 2010 30 1 2011 / Julien Bismuth, 19 2 .– 30 4 2011 / Le Confort Moderne, Poitiers, März bis Mai 2011 / Bielefelder Kunstverein, 13 11 2010 30 1 2011 / Le Grand Café, Centre d’art contemporain, Saint-Nazaire, 19 3 .– 8 5 2011 / Kunstverein Wolfsburg, 26 11 2010 6 2 2011 / Maison des arts Georges Pompidou, Cajarc, 16 4.– 5 6 2011 / Kunstver ein Tiergarten | Galerie Nord, Berlin, 26 2 .– 2 4 2011 / Parc Saint Léger, Centre d’art contemporain, Pougues-les-Eaux, 10 10.– 19 12 2010 / / / Frankfurter Kunstverein, 11 3.–15 5 2011 / www.institut-francais.fr

zwischen film und kunst ausstellung mit storyboards von hitchcock bis spielberg Die Kunsthalle Emden und das Museum für Film und Fernsehen Berlin wid men sich mit dieser Ausstellung einer wenig be kannten Kunstform. Die beiden Häuser zeigen herausragende filmische Storyboards , d.h. gezeichnete Drehbücher, die sich durch eine in dividuell-künstlerische Handschrift auszeich nen. Sie präsentieren die Storyboards ausgewählter Filme von etwa 15 international stilbildenden Regisseuren wie Alfred Hitchcock, Friedrich Wilhelm Murnau oder François Truffeaut. Die meisten Storyboard-Künstler haben eine Ausbildung als Grafiker, Illustrator oder bilden der Künstler, daher unterscheiden sich ihre je weiligen Entwürfe in Stil und Technik. Den Storyboardzeichnungen werden in der Ausstellung einerseits die Originalfilmsequenzen gegenübergestellt, andererseits Werke bildender Künstler, die in ihrer Ästhetik oder Konzeption mit dem Storyboard in Verbindung stehen. Auf diese Weise bereiten die beiden Einrichtungen das The ma Storyboard für ein breites Publikum auf und stellen die Gebrauchszeichnung Storyboard in einen Kontext zur bildenden Kunst sowie zu anderen kulturellen und technischen Einflüs sen.

Kurator/innen: Katharina Henkel Kristina Jaspers Peter Mänz / Künstler/innen: Jean-Jacques Annaud (F) , Francis Ford Coppola (USA) , Victor Fleming (USA) , Alfred Hitchcock (GB/USA) , Fritz Lang (A/USA) , George Lucas (USA) , Friedrich Wilhelm Murnau, Michael Powell (GB) , Martin Scorsese (USA) , Ridley Scott (USA) , Steven Spielberg (USA) , François Truffaut (F) , Tom Tykwer, King Vidor (USA) , Wim Wenders, Konrad Wolf u.a. / Kunsthalle Emden, 16 4.– 17 7 2011 / Deutsche Kinemathek Museum für Film und Fernse hen Berlin, 18 8.– 4 12 2011 / www.kunsthalle-emden.de

images of the mind bildwelten des geistes in kunst und wissenschaft Die Erforschung von Gehirn und Geist ist seit Jahrhunderten Gegenstand sowohl naturwissenschaftlicher als auch philosophischer und künstlerischer Darstellungen. Insbesondere Künstler der Moderne schufen viele ihrer Werke als Metaphern für den menschlichen Geist. Doch auch Naturwissenschaftler versuchen seit jeher, die komplexen mentalen Phänomene visuell einzufangen, und nutzen dafür oft ähnliche Ins trumentarien wie bildende Künstler Skizzen, Zeichnungen, Fotografie, Film und neue bild gebende Verfahren. Diesen ›Bildern des Geistes‹ widmet sich die Ausstellung, die das Deut sche Hygiene-Museum Dresden gemeinsam mit der Moravská Galerie Brno (Mährische Galerie Brünn), dem zweitgrößten Kunstmuseum der Tschechischen Republik, entwickelt. Die Band breite der Exponate umfasst naturwissenschaftliche wie künstlerische Gemälde, Grafiken, Zeichnungen und Fotografien aus acht Jahrhunderten und schlägt einen Bogen zu aktuellen Arbeiten und Abbildungen aus den Neuro- und Kogniti onswissenschaften. Mit dem Disziplinen über greifenden Ansatz soll nicht nur gezeigt werden, wie sich die Darstellung und somit die Auffas sung vom menschlichen Geist in den vergan genen Jahrhunderten gewandelt hat, sondern auch zum kritischen Nachdenken über die Ver heißungen des so genannten Neuroimaging an geregt werden. Das Begleitprogramm umfasst unter anderem spezielle Veranstaltungen für Ju gendliche, die an Lehrfächer wie Biologie, Ethik und Religion anknüpfen, und eine internatio nale interdisziplinäre Tagung. Kurator/innen: Colleen Schmitz Ladislav Kesner (CZ) /Künstler/innen: Guiseppe Arcimboldo (I) , Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien, Charles Le Brun (F) , Rembrandt van Rijn (NL) , Leonardo da Vinci (I) , Santiago Ramón y Cajala (E) , Hugh Welch Diamond (GB) , Sigmund Freud (A) , Vincent van Gogh (NL) , Max Klinger, Edvard Munch (N) , Odilon Redon (F) , Sal vador Dalí (E) , Arnold Schönberg (A) , Vojtech Preissig (CZ) , Susan Aldworth (GB) , Andrew Carnie (GB) , Jiri Cernický (CZ) , Antony Gormley (GB) , Martin Kippenberger, Via Lewan dowsky Warren Neidich (USA) Adriena Simotová (CZ) Rose marie Trockel, Bill Viola, Adolf Wöfli, u.a. / Deutsches Hygiene-Museum Dresden, 22 7.– 1 10 2011 / Moravská Galerie Brno (CZ) , 26 11 2011 24 2 2012 / www.dhmd.de

je mehr ich zeichne zeichnen als weltentwurf Trotz neuer medialer Möglich keiten lässt sich in der Gegenwartskunst eine Hinwendung zur Zeichnung als primärer künst lerischer Ausdrucksform feststellen. Je mehr ich zeichne gibt einen Überblick über die aktuelle Praxis des Zeichnens und ihre Entwick lung seit den 1960er Jahren. Zu sehen sind Ar beiten von vierzig internationalen Künstler/in nen, darunter ganz junge Positionen, zum Bei spiel von Ryoko Aoki, Jorinde Voigt und Mari usz Tarkawian, sowie klassische und konzeptio nelle Arbeiten, unter anderem von Joseph Beuys, Cy Twombly und Heinz Emigholz. Der Aus stellungstitel betont die persönliche Perspektive, die dem Zeichnen innewohnt, und das Potenzi al, sich mit Hilfe von Zeichnungen die Welt an zueignen, Realität ›aufzuzeichnen‹ und zu in terpretieren oder auch phantastische Bildwelten zu erfinden. Diese Vielschichtigkeit zeichnerischer Praxis und das Vermögen, abstraktes Den ken zu visualisieren, Erkenntnisse zu produzie ren und zu vermitteln, möchte die Ausstellung aufzeigen. Ein besonderer Schwerpunkt des Pro-

jektes liegt auf der Museumspädagogik: Geplant ist eine Fachtagung für Lehrer, ein Zeichenma schinen-Wettbewerb für Schulen und Zeichen kurse für verschiedene Adressatengruppen. Der zweisprachige Katalog ist als Nachschlagewerk zur gegenwärtigen zeichnerischen Praxis ange legt.

Kuratorin: Eva Schmidt / Künstler/innen: Ryoko Aoki (JP) , Silvia Bächli (CH) Joseph Beuys Stanley Brouwn (NL) Heinz Emigholz,, Claude Heath (GB) , Katharina Meldner, Pavel Pepperstein (RU) , Tomas Schmit u.a. / Museum für Gegen wartskunst Siegen, 5 9 2010 13 2 2011 /www.kunstmuseumsiegen.de

not in fashion. mode und fotografie der frühen 1990er jahre Die Ausstellung im Museum für Moderne Kunst Frankfurt zeigt erstmals in einem Museum für Gegenwartskunst und in großem Umfang, wie sich Mode, Foto grafie und Kunst der frühen 1990er Jahre gegen seitig beeinflusst haben. Die geplante Ausstel lung soll ermessen, wie radikal und stilbildend diese Generation war und wie sie die bildende Kunst bis in die Gegenwart hinein prägt. Das Projekt besteht aus zwei künstlerischen Teilen: zum einen der Ausstellung zur Fotografie und Kunst der frühen 1990er Jahre, die durch eine historische Dokumentation (Originalmagazin, Kampagnen, Archivmaterial) ergänzt wird. Zum anderen einem Performance-Programm, das im Museum für Moderne Kunst, im Zollamt und in anderen Frankfurter Einrichtungen stattfin det.

Kuratorin: Sophie von Olfers /Künstler/innen: Vanessa Beecroft (IT) , Walter van Beirendonck (B) , Bernadette Corporation (USA) , BLESS (D/F) , Mark Borthwick (GB) , Susan Cianciolo (USA) Comme des Garçons (JP) Maria Cornejo (CL) Corin ne Day (GB) , Anders Edström (SE) , Jason Evans (GB) , Inez van Lamsweerde (NL) , Helmut Lang (AT) , Martin Margiela (B) , M/ M (F) , Cris Moor (USA) , Kostas Murkudis, Collier Schorr (USA) , Nigel Shafran (GB) , Jürgen Teller, Wolfgang Tillmans, Yohji Yamamoto (JP) /Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, 25 9 2010 9 1 2011 / www.mmk-frankfurt.de

die ernst jandl-show ausstellung multimediale biografie veranstal tungen Anlässlich des zehnten Todestages Ernst Jandls widmet das Literaturhaus Berlin seine Ausstellung dem Gesamtwerk eines der wichtigsten und einflussreichsten Lyriker der deutschsprachigen Literatur nach 1945 , der an den Schnittstellen von Literatur, Musik und bil dender Kunst arbeitete. Die Schau richtet das Hauptaugenmerk auf die Vielsprachigkeit, In ternationalität und Intermedialität in Jandls Werk, das Gedichte und Prosa ebenso umfasst wie Hörspiele und Theaterstücke, Zeichnungen und Gemeinschaftsarbeiten mit Musikern so wie Filme und ein Ballett. Umfangreiches Material darunter viel Unveröffentlichtes aus Jandls Nachlass wird die künstlerische Viel seitigkeit des Schriftstellers dokumentieren, ein breit angelegtes Begleitprogramm die vielen spartenübergreifenden Bezüge seines Werkes veranschaulichen. Ergänzend realisiert das Ös terreichische Literaturarchiv eine multimediale DVD, die die komplexen Wechselwirkungen zwischen Jandls Lebens- und Werkgeschichte vor Augen führt.

Kuratoren: Bernhard Fetz (AT) , Hannes Schweiger (AT) / Per formance: Blixa Bargeld /Musik: Dieter Glawischnig /Slam Poetry: Mieze Medusa (A) /Autor/innen: Bodo Hell (A) , Franz Josef Czernin (A) , Ulf Stolterfoht, Jürg Laederach (CH) , Mar cel Beyer Urs Allemann (CH) Michael Lentz Nora-Euge

kulturstiftung des bundes magazin 162

letzte bilder. ad reinhardt ausstellung Das Josef Albers Museum in Bottrop un tersucht seit 2004 im Langzeitprojekt Albers im Kontext Verknüpfungen der amerikanischen Kunst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Schaffen und der künstlerischen Lehre Josef Albers’. Nach Agnes Martin (2004), Sol LeWitt (2006 ) und Donald Judd (2008 ) steht mit Ad Reinhardt (2010 ) einer der Protagonisten des Abstrakten Expressionismus im Mittelpunkt, je ner ersten eigenständigen amerikanischen Kunstrichtung, die sich bewusst von europäischen Vorbildern absetzte. Reinhardt und Albers tra fen an der Yale University aufeinander. Dort unterrichtete der deutsche Maler, nachdem die Nationalsozialisten das Bauhaus geschlossen hatten und eine weitere Arbeit für Albers in Deutschland unmöglich geworden war. Wenig später wurde Ad Reinhardt für seine Black Paintings berühmt, jene scheinbar mono chromen schwarzen Gemälde, die er seit 1953 ausschließlich malte und auch als Last Pain tings , als letzte Bilder, die gemalt werden kön nen, bezeichnete. Die Schau stellt 40 Werken Reinhardts 30 Werke von Albers an die Seite und zeigt Leihgaben aus wichtigen europäischen Sammlungen sowie dem Museum of Modern Art, dem Whitney Museum, der Yale University Gallery und der National Gallery of Art in Washington. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der amerikanisch-deutschen Kunstgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Kurator: Heinz Liesbrock /Künstler: Ad Reinhardt (USA) Josef Albers / Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, 26 9 2010 9 1 2011 /www.bottrop.de

ludwig wittgenstein verortung eines genies Mit einer breit angelegten Medienins tallation dokumentiert die Ausstellung Ludwig Wittgensteins Leben und Werk anlässlich des sen 60. Todestages. Neben seiner inhaltlichen Einordnung in die europäische Kultur- und Geistesgeschichte führt die Schau an seine Le bens- und Wirkungsstätten nach Österreich, England und Norwegen. Um Wittgensteins Ar beitsweise, Methodik sowie seine philosophischen Theorien anschaulich vor den Augen der Besucher zu entfalten, wird die Ausstellung an hand umfangreichen Originalmaterials aus sei nen Schriften, Tagebüchern und Korrespondenzen zitieren. In dialogischer Form soll so Philo sophie als der lebendige Prozess erfahrbar ge macht werden, als der er sich bei Wittgenstein im intensiven Austausch mit Kollegen, Freun den und Geschwistern äußerte. Mit einer Reihe an Begleitveranstaltungen, die auch den aktu ellen Wissenschaftsdiskurs reflektieren, möchte die Ausstellung Wittgensteins Werk vielfältig visualisieren und zugleich einen Einblick in die Relevanz seines Denkens auch für aktuelle Wis senschaftsdisziplinen ermöglichen.

Kurator/innen: Kristina Jaspers, Jan Drehmel / Schwules Museum Berlin, 18 3.– 13 6 2011 /www.schwulesmuseum.de

escalier du chant audio-visuelle, performative installation Die menschliche Stimme steht im Zentrum der Performance, für die Olaf Nicolai Komponisten einlädt, kurze A-cappella-Gesangsstücke zu komponieren, die ein für sie bedeutsames politisches Ereignis the matisieren. Die Uraufführung des so entstehen den, zwölfteiligen Liederzyklus erstreckt sich über ebenso viele Sonntage und findet jeweils unangekündigt auf der großen Treppenanlage der Pinakothek der Moderne statt. Im Gegen satz zum herkömmlichen Konzert entsteht auf diese Weise eine unvermittelte, flüchtige Situa tion, die Sängern wie Zuhörern eine besondere klangräumliche Erfahrung ermöglicht. Damit

verhilft Olaf Nicolai seinem erweiterten Werk begriff zum Ausdruck, der die gleichrangige Be deutung von Künstler, Komponist, Interpret und Rezipient betont. Für Escalier du Chant , mit der die Pinakothek der Moderne ihr interdisziplinär ausgerichtetes Pro gramm fortsetzt, sind neben der Münchner Ur aufführung weitere Inszenierungen sowie eine Vertonung als Hörstück für Radio und Internet geplant.

Kurator: Bernhart Schwenk /Künstler: Olaf Nicolai /Kom ponisten: Tony Conrad (USA) , Georg Friedrich Haas (A) , Georg Katzer (PL) , Olga Neuwirth (A) , Samir Odeh-Tamimi (JL) , En no Poppe, Rolf Riehm, Elliott Sharp (USA) , Iris ter Shiphorst, Mika Vainio (FI) , Jennifer Walshe (JE) u.a. / Pinakothek der Moderne, München, 1 1.– 31 12 2011 / www.pinakothek.de

christoph schlingensief eine umfas sende werkschau Die Ausstellung unter nimmt den Versuch einer ersten umfassenden Gesamtschau des Werkes von Christoph Schlin gensief. Mit seiner Radikalität, seiner obsessiven Verausgabung und ständigen Heraus- bzw. Überforderung aller Beteiligten nimmt Schlingensief eine Sonderstellung im aktuellen Kunstgesche hen ein. Sein künstlerischer Weg führte vom Film über Theater, Performances, Aktionen, In stallationen und Oper bis aktuell zum Bau eines Festspielhauses in Afrika. Mit den im Theater entwickelten aktionistischen Formen unter Ein beziehung des Publikums ging Schlingensief ab 1997 direkt auf die Straße; er gründete eine Par tei ( Chance 2000 , 1998 ) und eine Kirche ( Church of Fear, 2003 ) und setzte sich damit über jegliche künstlerische Formen, Grenzen und Institutionen hinweg. Die Ausstellung basiert im Wesentlichen auf Archivmaterial und folgt den künstlerischen Stationen Schlingen siefs. Die präsentierten Filme, Inszenierungen, Aktionen und Performances sind immer auch Zeugnis ihrer Entstehungszeit und gesellschaft lichen Zusammenhänge; sie kreisen um The men wie die deutsche Geschichte, Faschismus, Kirche und Familie. Dem sozialhistorischen und politischen Kontext der Arbeiten und ihrer gesellschaftlichen Brisanz soll daher in der Werkschau besondere Aufmerksamkeit zukom men.

Kuratorin: Susanne Pfeffer / KW Institute for Contempora ry Art, Berlin, 6 2 .– 20 3 2011 /www.kw-berlin.de

zur nachahmung empfohlen expeditionen in ästhetik und nachhaltigkeit Welche Antworten hat die Kunst auf globale Herausforderungen wie den Klimawandel, die End lichkeit der Energiereserven und das Schwinden der Biodiversität? Im Mittelpunkt der Ausstel lung Zur Nachahmung empfohlen steht die kulturelle und ästhetische Dimension der Nachhaltigkeit. Als Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit verstehen die Kuratoren ih re Suche nach kreativen Objekten und Ansät zen, die unsere Gesellschaft zukunftsfähig aus gestalten. Sie zeigen künstlerische Praktiken, die Erfahrungen und Arbeitsweisen von Umwelt initiativen mit künstlerischen Herangehenswei sen verbinden, sowie künstlerische Positionen, die sich mit ökologischen Themen erneuerbare Energien, Klimawandel, Re-/Upcycling, nachhaltiges Wirtschaften auseinandersetzen. Die beteiligten Künstler entwickeln für die Ausstel lung Modelle, Handlungsansätze, Erfindungen, Prototypen und Werkstoffe, in denen sich künstlerische mit technischer Innovation verbindet. Nach ihrer Station in Berlin wird die Ausstel lung im Wendland, in Dessau, Ingolstadt, Neu burg und im Neuen Kunstverein Pfaffenhofen gezeigt. In Kooperation mit den Goethe-Insti tuten vor Ort geht die Ausstellung nach St. Pe tersburg, Melbourne und Athen.

Künstlerische Leitung: Adrienne Goehler /Projektleitung: Jaa na Prüss / Künstler/innen und Erfinder/innen: Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla (US/CU) , Néle Azevedo (BR) , Josef Beuys Richard Box (GB) Ines Doujak (A) Lukas Feireiss

und Tomorrow’s Thoughts Today (GB) mit Luis Berríos-Negrón (PRI) , Adib Fricke, Galerie für Landschaftskunst: Till Krause u.a., Dionisio Gónzalez (E) , Tue Greenfort (DK) , Her mann Josef Hack , Ilkka Halso (FIN) , Cornelia Hesse-Honegger (CH) , Henrik Håkansson (S) , Christoph Keller, Folke Köbberling & Martin Kaltwasser, Christian Kuhtz, Christin Lahr, Antal Lakner (HU) , Jae Rhim Lee (KR/US) , Till Leeser, Marlen Liebau & Marc Lingk , Susanne Lorenz, Gordon Matta Clark (USA) , Gerd Niemöller, Dan Peterman (US) , Na na Petzet Marjetica Potrc (SI) Clement Price-Thomas (US) Dodi Reifenberg (IL/D) , Gustavo Romano (AR) , Miguel Rothschild (AR) , Otmar Sattel, Michael Saup, Ursula Schulz-Dornburg, Dina Shenhav (IL) , Robert Smithson (USA) , Superflex (DK) , Jakub Szczesny (PL) , The Yes Men (US) , Gudrun Widlok , Zwischenbericht /Uferhallen Berlin, Ausstellung: 3 9.– 10 10 2010 / Arsenal Berlin und Uferhallen, Filmprogramm: 3 9.– 1 10 2010 / Uferhallen und Schulen, Workshops mit Kindern und Jugendlichen: 30 8.– 20 9 2010 / Uferhallen, Panel Diskussionsveranstaltungen: 9 9.– 9 10 2010 / www. z-n-e.info

bühne und bewegung

1. literaturfest münchen Im Mittelpunkt der ersten Ausgabe des Münchner Literaturfes tes steht ein internationales Treffen von Autorinnen und Autoren aus Afrika, Asien und Latein amerika; insbesondere von solchen Schriftstel lern, die im Spannungsfeld zwischen sozio kultureller Verwurzelung und globaler Orien tierung Vertreter eines universalen Schreibens sind. Kurator Ilija Trojanow, dessen Biografie und Werk auch ihn als transnatio nalen und grenzüberschreitenden Denker aus weisen, richtet mit dem diesjährigen Themen schwerpunkt den Fokus auf das Kosmo-Poli tische, das in Zeiten beschleunigter Globalisie rung eine kreative Balance zwischen lokal und global, zwischen dem Eigenen und dem Frem den bietet. Das Literaturfest soll das reichhaltige literarische Angebot der Verlagsmetropole ver klammern, mit einer Vielzahl von Veranstal tungen will es zentrale Themen der Gegenwart aus literarischer und wissenschaftlicher Perspektive ausloten und die große Bandbreite von lokalen und globalen Entwicklungen und Verwerfungen, von Lösungen und Aufbrüchen vor Augen führen.

Kurator: Ilija Trojanow /Künstler/innen: Rafael Chirbes (ES) , Umberto Eco (I) , Peter Esterhazy (HU) , Nuruddin Farah (GB) , Ranjit Hoskot (IN) , Gail Jones (AUS) , Yang Lian (CN) u.a. /Lite raturhaus München, Muffathalle, Münchner Volkstheater, Haus der Kunst, Völkerkundemuseum, Kulturzentrum Gasteig, 17 11.– 5 12 2010 /www.literaturhaus-muenchen.de

musik und klang

jazzwerkstatt around the world kon zerte in berlin — potsdam — rom — new york In Berlin hat sich in den letzten Jahren eine Jazzszene mit einem erkennbar eigenen Klang entwickelt. Die Musik von Künstlern wie Aki Takase, Rudi Mahall, Gerhard Gschlößl u. v.a. gilt auch im Ausland als ein deutscher Jazz, der seit den Zeiten des Free Jazz in den 1970er Jahren nicht mehr so eigenständig klang. Viele Künstler haben ihre Musik auf dem Label der jazzwerkstatt Berlin veröffentlicht und sind da für vielfach ausgezeichnet worden. Eines der weltweit wichtigsten Fachmagazine, das New Yorker Magazin All about Jazz , zeichnete 2008 und 2009 mehrere CD s des Labels aus. Neben dem Berliner Publikum erhalten nun die Besu cher in New York und Rom die Gelegenheit, ei nige der Künstler und Bands zu erleben. Auf einem Festival in New York treten u.a. die Bands ›Aki and the good boys‹ sowie ›Der Moment‹

und ›Dok Wallach‹ auf. Die ›Ulrich Gumpert Workshop Band‹ sowie das ›Henrik Walsdorff Trio‹ sind neben weiteren Bands auf einer Kon zertreihe in Rom zu erleben.

Künstlerische Leitung: Ulli Blobel /Künstler/innen: Dok Wal lach, Gerhard Gschlößl G 9 , Hyperactive Kid, GumpertSommer-Duo, Perry Robinson Trio, Ulrich Gumpert Workshop Band mit Paul Brody (USA) , Wolfgang Schmidtke »Hei matlieder«, Henrik Walsdorff Trio /Goethe-Institut Rom (IT) 16 7 17 9 30 10 11 12 2010 /Öffentliche Proben in Ber lin und Potsdam: Nikolaisaal, 18 11 2010 ; Kino Babylon, 19 11 2010 ; Jazzwerkstatt Café, 20 11 2010 / New York, Irondale Center in Brooklyn (USA) , 26.– 28 11 2010 / www.jazz werkstatt-online.de

tonlagen dresdner festival der zeitgenössischen musik 2010 Die Neue Musik ist eine der produktivsten Gegenwartskünste. Ihre Vielfalt und innovative Kraft auch in der öffentlichen Wahrnehmung stärker als bislang zu verankern, hat sich das jährlich stattfindende Dresdner Festival der zeitgenössischen Musik im Festspielhaus Hellerau seit dem Jahr 2009 zur Aufgabe gemacht und er probt seither neue Wege ihrer Vermittlung. Das Festival 2010 steht daher programmatisch unter dem Motto Populär in der zeitgenössischen Musik geradezu ein Unwort. Gemeinsam mit den Dresdner Partnern vom KlangNetz Dresden und dem Netzwerk Neue Mu sik wird ein Programm entwickelt, das sowohl eine Verknüpfung der Neuen Musik mit ande ren Kunstformen wie dem Tanz, den Neuen Medien und der bildenden Kunst versucht, als auch eine Öffnung hin zu populärer und Club Musik. Die eingeladenen Produktionen reichen von den Pionieren der Neuen Musik aus den 1950er und 60er Jahren über jüngste Experimente elektronischer Musik bis hin zu Performances, experimentellem Jazz und Installationen.

Künstlerische Leitung: Dieter Jaenicke /Künstler/innen: Dresdner Philharmonie, Ensemble Courage, Morton Subotnik (USA) , Michael Wertmüller, Steamboat Switzerland (CH) , Gi nette Laurin (CA) , O Vertigo (CA) , Michael Nyman (USA) , Asol ta, Jennifer Walshe (GB) , Komponistenklasse Dresden, En semble Resonanz, Beat Furrer (AT) , Ulf Langenheinrich, Wendy Carlos (USA) HK Gruber (AT) Andy Warhol (USA) Fusedmarc (LT) u.a. / Festspielhaus Hellerau, Dresden, 1.– 17 10 2010 /www.hellerau.org

kunst und künstlichkeit — über das marionettentheater szenische konzerte mit tanz über »das marionettentheater« von heinrich von kleist In sei nem Text Über das Marionettentheater befasst sich Kleist mit der ästhetischen Grund frage, wo der ›wahre‹ Künstler zwischen den bei den gegensätzlichen Positionen ursprünglicher Natürlichkeit und elaborierter Kunstfertigkeit anzusiedeln sei. Anlässlich Kleists 200. Todes tages im Jahr 2011 komponiert Isabel Mundry das Konzert Kunst und Künstlichkeit für Instrumental- und Vokalensemble, Tänzer und Sopranistin, mit dem sie die Problematik von Kleists Essay aufnimmt und das Verhältnis von Mensch, Maschine, Kunst und Natur um kreist. Text, Musik und Tanz greifen auf viel schichtige Weise ineinander und überlagern sich, im facettenreichen Spiel von Bild und Ab bild erfahren sie verschiedene Formen der Ver künstlichung bis hin zur Digitalisierung. Die Komposition thematisiert und erfährt gleicher maßen einen Prozess der Reflexion und Differenzierung; und vollzieht damit, wovon der Text erzählt: eine komplexe Selbstspiegelung. Der Aufführung in Thun im Rahmen der Kleist-Feier lichkeiten folgen weitere Aufführungen an Le bens- und Wirkungsstätten Kleists.

Künstlerische Co-Leitung: Isabel Mundry (Komposition), Jörg Weinöhl (Tanz und Choreografie) / Musik: Ensemble Re cherche, Vokalensemble Zürich (CH) / Dramaturgie: Anett Lütteken (CH) /Sängerin: Petra Hoffmann / Schlosskonzert Thun (CH) , 3 6 2011 / Züricher Festspiele (CH) , 25 6 2011 / Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf /Duisburg

nie Gomringer / Museum Wien (AU) 4 11 2010 13 2 2011 / Literaturhaus Berlin, 11 3 .– 15 5 2011 / Muzeul National Brukenthal mit Institutul Cultural Român, Sibiu/Hermann stadt (RO) , 30 9.– 6 11 2011 /www.literaturhaus-berlin.de
kulturstiftung des bundes magazin 16

arbeit und freizeit () die glückliche hand doku-film-raum-oper mit musik von arnold schönberg Das Arbeitsleben vieler Menschen ist durch Outsourcing und den Druck zur Flexibilisierung sowie durch die Möglichkeiten des Internets einem grundlegenden Wandel unterworfen. Die Begriffe Arbeit und Freizeit trennen nicht mehr klar zwischen pri vat und öffentlich, zwischen Unterhalt und Un terhaltung. Mit dem Wandel der Arbeit geht ein verändertes Verständnis von künstlerischer Pro duktion einher. Die Künstler des labor für mu sik:theater Daniel Kötter und Rebecca Ringst porträtieren in einem Dokumentarfilm Men schen, die in besonderem Maße diesem Wandel unterworfen sind: ehemalige Industriearbeiter, Kommunalpolitiker, Künstler und Kuratoren. Die zwölf entstandenen Porträts zum Thema Arbeit bilden die Grundlage für eine Dokumen tarfilm-Installation und schließlich für eine multimediale Operninszenierung von Schönbergs Musiktheater Die glückliche Hand Dabei übernehmen die porträtierten Personen die Rollen aus Schönbergs Einakter und werden von Chor und Orchester live begleitet.

Künstlerische Leitung: Daniel Kötter / Musikalische Leitung: Peter Rundel /Bühne/Raum: Rebecca Ringst / ECLAT Fes tival Neue Musik Stuttgart, Theaterhaus 1, Uraufführung, 13 2 2011 / Weitere Aufführungen: Fundação Casa da Música Porto (PO) , 2012 /www.labor-musik-theater.de

100 jahre oskar sala themenwochenende mit theater, performances, führungen und internationalem symposium Der Musiker, Komponist und Naturwis senschaftler Oskar Sala (1910 2002 ) gehört zu den Pionieren und bedeutendsten Protagonis ten der elektroakustischen Musik des 20. Jahr hunderts. Gemeinsam mit Friedrich Trautwein (1888 1956 ) entwickelte er Ende der 1920er Jahre das Trautonium, eines der ersten elektroakus tischen Instrumente, mit dem man Geräusche und Klänge aller Art erzeugen konnte. Mit dem Nachfolgeinstrument, dem Mixturtrautonium, schuf Sala zahlreiche Klänge für Bühnenwerke, Dokumentar-, Industrie- und Spielfilme, darunter so bekannte Filme wie Hitchcocks Die Vögel . Aus Anlass seines 100. Geburtstags veran staltete das Deutsche Museum in München, das Salas Nachlass mit der vollständigen Tonband sammlung verwaltet, ein Themenwochenende. Geplant waren zwei neue Musiktheater-insze nierungen, Performances sowie ein internationales Symposium, Führungen und Vorträge. Da bei wurde erstmals auf Digitalisate der Tonbän der zurückgegriffen, die im Rahmen des KUR –Programms zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut hergestellt wurden. Ziel war, die künstlerische Vor ausschau Oskar Salas und seine herausragende Bedeutung für das aktuelle Musikleben zu zei gen und sein Werk in neue künstlerische Zusammenhänge zu stellen.

schen Idealisierung historisch gewordener künstlerischer Monumente. Cunningham, der im 20 Jahrhundert mit seiner Arbeit das Verständnis von Tanz und Choreografie revolutionierte, verwirklichte im Laufe seines Lebens etwa 200 Pro duktionen, die sich bis heute im Repertoire aller großen Tanztheater der Welt finden; er arbeite te mit Künstlern wie Robert Rauschenberg, John Cage oder Andy Warhol zusammen und prägte Generationen jüngerer Choreografen mit seinem eigenständigen Stil, der die nahezu grenzenlosen Möglichkeiten der menschlichen Bewegung betont. In insgesamt sechs Aufführungen und einem umfassenden Begleitprogramm im Rah men des Festivals Tanz im August wird Cunninghams komplexes Jahrhundertwerk exemplarisch vorgestellt.

Künstler/innen: Merce Cunningham Dance Company /Akademie der Künste, Berlin und Haus der Berliner Festspiele, 26 6.– 3 10 2011 /www.adk.de

ship o’ fools eine performative installation Das kanadische Künstlerpaar Janet Car diff und George Bures Miller ist international bekannt für seine ausgefeilten Raum- und Klanginstallationen an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Für das Hebbel am Ufer ent wickeln Cardiff und Miller eine neue begehbare multimediale Kunstinstallation mit der Außen hülle einer Chinesischen Dschunke aus den 1930er Jahren, die auf dem begrünten Vorplatz des Theaters installiert wird. Inspiriert ist die Arbeit von Sebastian Brants Dass Narrens chyff ad Narragoniam aus dem Jahr 1494 , einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher vor der Reformation, das sich in Form einer Moralsatire mit menschlichen Feh lern und Lastern, den Ursachen närrischer Un vernunft, befasst. Außen geschmückt mit Lich tern und Objekten, erwartet den Besucher, der das Ship o’ Fools betritt, im Inneren eine eigenständige Welt voller Geschichten, die mit akustischen und lichtmechanischen Installatio nen inszeniert werden. Der Auftritt eines Schau spielers im weiteren Verlauf des Besuchs und die aktive Beteiligung der Rezipienten machen Ship o’ Fools zu einem performativen Experiment, das neue Möglichkeiten von Theater ausloten möchte.

Künstler/innen: Janet Cardiff und George Bures Miller (CA) / Hebbel am Ufer ( HAU2 ) Berlin, 13.– 23 6 2011 / www.hebbelam-ufer.de

produktionen, in deren Mittelpunkt alltägliche Geschichten von Menschen stehen, die an der Peripherie der Gesellschaft ihr Leben bewälti gen. Die Ensembles bestehen teils aus professio nellen Schauspielern, teils aus »Protagonisten des Alltags« Laiendarstellern, die im Sinne der Real Fiction ihre Biografie auf die Bühne bringen. Präsentiert wird ein breites Spektrum theatralischer und choreografischer Ansätze, die Themen wie das Leben als behinderter Mensch, Transse xualität und die Furcht vor dem Tod behandeln. Zu den eingeladenen Gruppen gehören unter anderem Pippo Delbono aus Italien, der ein En semble von Außenseitern um sich versammelt hat, und die französische Compagnie L’Oiseau Mouche, die aus geistig behinderten Schauspie lern besteht. Speziell zum Festival soll eine Tanztheaterproduktion mit Menschen entstehen, die bereits längere Zeit arbeitslos sind. Theaterpro duktionen, die mit realen Biografien und Laien darstellern arbeiten, ziehen derzeit große Auf merksamkeit auf sich. Ziel des Festivals ist es, diese Form der künstlerischen Arbeit nicht als mo dischen, sich schnell verflüchtigenden Trend zu begreifen, sondern sie kontinuierlich weiterzu entwickeln und fest in den Theaterspielplänen zu etablieren.

Künstlerische Leitung: Jutta Schubert / Künstler/innen: Pee ping Tom (BE) Pippo Delbono (IT) L’Oiseau Mouche (FR) Alvis Hermanis (LV) , Dance Theatre Chang (KR) , Vanessa van Durme (BE) u.a. /Kampnagel Hamburg, 11.– 21 11 2010 /www. eucrea.de

der sie immer weiter von der Erfüllung ihrer ei gentlichen Sehnsüchte entfernt und in Regionen tiefster Verzweiflung führt. Die Regelwerke des Spiels sind es nun, die ihr Leben bestimmen und alles Denken beherrschen. Das internatio nale Theaterprojekt verschränkt die Schicksale hoffnungslos der Spielsucht verfallener Men schen miteinander und möchte damit das wi dersprüchliche Verhältnis von Vernunft und Risikobereitschaft am Beispiel der Spielsucht auf der Bühne erfahrbar machen.

Regie: Christiane Pohle / Dramaturgie: Malte Ubenauf / Künstlerische Mitarbeit: Angelika Fink / Bühne: Duri Bi schoff (CH) / Kostüm: Sara Kittelmann /Produktion: Katrin Dollinger, Franz Meiller / Schauspieler/innen: Cora Frost, Carina Braunschmidt (CH) , Marie Jung, Magne Håvard Brekke (NO) , Pascal Lalo (FR) , Jörg Schröder, Jörg Witte / Musik: Philipp Haagen, Rainer Süßmilch / Theater Basel (CH) 23 .– 30 9 2010 / Pathos Transport Theater München, 5.– 10 10 2010 /www.pathostransporttheater.de

wort und wissen

bühne und bewegung

the legacy plan merce cunningham dance company in berlin In seinem Tes tament verfügte der im Jahr 2009 verstorbene Choreograf Merce Cunningham unter anderem, seine Company solle nach seinem Tod eine letz te große Welttournee unternehmen, deren En de zugleich auch das Ende der Company bedeu ten würde. Mit diesem sorgfältig ausgearbeiteten Legacy Plan , in dem er den künstlerischen Umgang mit seinem Werk detailliert bestimmte, realisierte Cunningham ein Gegenmodell zur gebräuchlichen Rekonstruktion und nostalgi

you are here eine installative perfor mance Das Erstaunen darüber, nur 80 Zentimeter von einer Nachbarin entfernt zu leben, tagtäglich fast alles von ihr mitzubekommen und sie dennoch nicht zu kennen, gab dem nie derländischen Bühnenbildner und Regisseur Dries Verhoeven den Anstoß für sein Projekt You are here . Seine preisgekrönte Hotelinstallation, die zuletzt bei den Salzburger Fest spielen zu sehen war, wird er in einem Hangar des stillgelegten Flughafens Tempelhof in Ber lin aufbauen. Gemeinsam mit Berliner und nie derländischen Performern wird Verhoeven an diesem Ort eine Inszenierung entwickeln, die sich mit der Gleichzeitigkeit von Isolation und Nähe beschäftigt. Die Zuschauer sind räumlich ganz unmittelbar mit dieser Fragestellung kon frontiert, denn jeder erhält in dem 20 × 20 Meter großen Hotel ein eigenes Zimmer. In Verhoevens Arbeiten greift die Unterteilung in Zuschauer und Schauspieler, in Bühne und Auditorium nicht mehr. Seine Projekte zeichnen sich durch die Suche nach neuen Formen von Theatralität aus, sie bilden Wirklichkeit nicht ab und setzen sich dennoch grundlegend mit ihr auseinander.

Künstler: Dries Verhoeven (NL) / Hebbel am Ufer, 16.– 26 5 2011 / www.hebbel-am-ufer.de

simple life das theaterfestival aus den randzonen Das Theaterfestival Simple Life versammelt internationale Tanz- und Theater

wunschkinder theater- und wissenschaftsprojekt zur technisierung der menschlichen fortpflanzung Keine an dere medizinische Technik hat so unmittelbare gesellschaftliche Konsequenzen und wirkt sich so stark auf Lebens- und Karriereplanung, Fa milienmodelle und Geschlechterrollen aus, wie die Reproduktionsmedizin. In welcher Lebens phase bekomme ich Kinder, wie beeinflusse und kontrolliere ich, wer da geboren wird? Mit welchen Zwängen geht diese Freiheit einher und wer leistet sie sich? Das Theater Freiburg und das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg schließen mit Wunschkinder an den Erfolg ihres gemeinsamen Theaterprojektes Optimierung des menschlichen Gehirns an und arbeiten in diesem Projekt erneut mit ca. 50 Laien zusammen. Arbeitsgruppen, bestehend aus Regisseuren, internationalen Wissenschaft lern, Dramaturgen und Laien, recherchieren zunächst gemeinsam zu Themen wie dissoziierte Elternschaft und unerfüllter Kinderwunsch. Ein Schwerpunkt liegt bei diesem Projekt auf dem Sammeln von individuellen Geschichten, einer sogenannten narrativen Bioethik. Die loka len Geschichten werden zu Extremfällen aus den USA , Kanada oder Holland in Beziehung gesetzt. Die Arbeitsgruppen entwickeln dann zusammen mit Schauspielern je eine Theater performance, die auf dem abschließenden The menkongress uraufgeführt wird. Kuratoren: Oliver Müller Joachim Boldt Uta Bittner HansPeter Zahradnik , Francoise Baylis (CA) , Jean-Pierre Wils (NL) / Regie: Sebastian Nübling /Dramaturgie: Viola Hasselberg / Theater Freiburg, 19.– 22 5 2011 / www.theater.freiburg.de

spieler theaterstück nach zwei romanen von f. m. dostojewski Lässt sich Glück erzwingen? Verbergen sich hinter dem Wort Zufall mathematische Zwangsläufigkeiten, die nur erkannt und befolgt werden müssen? Sieben Figuren verfallen den Verheißungen des Glücksspiels Figuren, die aus Dostojewskis Romanen Der Spieler und Ein grüner Junge entlehnt sind, doch schon bald ihr Ei genleben auf der Bühne entwickeln: Die Kon turen ihrer Identitäten verschwimmen zuneh mend im Glücksspielrausch, in dessen Sog sie den Kontakt zur Außenwelt verlieren. Schließ lich jagt jede einem Lebensentwurf hinterher,

schreibwaren! das buch und seine zukunft internationales symposium Trotz fortschreitender Digitalisierung, in deren Verlauf sich nicht nur Distribution und Vermitt lung, sondern auch Produktion und Rezeption des gedruckten Wortes rasant veränderten, konnte sich das bereits vor Jahrzehnten totgesagte Buch bis heute als kulturelles Leitmedium be haupten. Mit der heutigen und der zukünftigen Bedeutung des Buches beschäftigt sich das Sym posium Schreibwaren! in Freiburg: Wie wirkt sich die beschleunigte Medienentwicklung der vergangenen Jahre auf die Gewohnheiten der Leser und auf die künstlerisch-literarische Produktion aus? Zentrales Anliegen ist es, theo retische Überlegungen und praktische Entwick lungen aus digitaler Bücherwelt und Verlagswe sen zu diesem Thema zusammenzuführen. Ak tuelle literarische und transmediale Positionen werden daraufhin befragt, welche Potenziale neue technische Entwicklungen für den Litera turbetrieb bergen. Damit möchte das internati onale Symposium den Dialog zur Zukunft des Buches um neue Perspektiven bereichern und nachhaltige Denk- und Handlungsanstöße an regen.

Künstlerische Leitung: Katarina Tojic, Kateryna Stetsevych und Stefanie Stegmanng / Künstler/innen: Nora Gomrin ger Masterplanet (CH) Thomas Meinecke Jürgen Neffe Barbara Köhler, Sherman Young (AUS) , Kathrin Passig, Chris Meade (GB/USA) u.a. / Alter Wiehrebahnhof Freiburg im Breisgau, 3 .– 5 12 2010 /www.literaturbuero-freiburg.de

Künstlerische Leitung: Silke Berdux , Wilhelm Füßl, Andreas Ammer und Peter Pichler / Deutsches Museum München, 16.– 19 7 2010 / www.deutsches-museum.de
kulturstiftung des bundes magazin 164

gremien

stiftungsrat Der Stiftungsrat trifft die Leitentschei dungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kultur stiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amts zeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre.

Bernd Neumann

Vorsitzender des Stiftungsrates für das Auswärtige Amt für das Bundesministerium der Finanzen für den Deutschen Bundestag

als Vertreter der Länder als Vertreter der Kommunen als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur

Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien Cornelia Pieper Staatsministerin

kulturstiftung des bundes magazin 16

Steffen Kampeter

Parlamentarischer Staatssekretär Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Valentin Gramlich Staatssekretär, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt Walter Schumacher Staatssekretär, Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Pheinland-Pfalz Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund Prof. Dr. Wolfgang Böhmer Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Senta Berger Schauspielerin

Durs Grünbein Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfeh lungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungs tätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Dr. Christian Bode Generalsekretär des DAAD Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI e.V. Jens Cording Präsident der Gesellschaft für Neue Musik e.V. Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Dr. Volker Rodekamp Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Dr. Georg Ruppelt Vizepräsident des Deutschen Kulturrats e.V.

Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Johano Strasser Präsident des P E N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.

jurys und kuratorien Rund 50 Experten aus Wis senschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstif tung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezi fischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www. kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

vorstand

Hortensia Völckers

Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch [Büro Berlin ] / Christine Werner

team

Referent des Vorstands

Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Dr. Ferdinand von Saint André [ Justitiar] / Doris Heise / Anja Petzold / Katja Storm Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel [Leitung ] / Tinatin Eppmann / Diana Keppler / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier

Förderung und Programme Kirsten Haß [Leitung ] Allgemeine Projektförderung Torsten Maß [Leitung ] / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva Programmbereich Eva Maria Gauß / Dr. Ulrike Gropp / Teresa Jahn / Anita Kerzmann / Dr. Alexander Klose / Anne Maase / Annett Meineke / Uta Schnell / Friederike Zobel / Ines Deák / Marcel Gärtner / Kristin Salomon / Kristin Schulz Projektprüfung

Andreas Heimann [Leitung ] / Berit Koch / Fabian Märtin / Antje Wagner / Barbara Weiß Verwaltung Steffen Schille [Leitung ] / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe

Herausgeber Kulturstiftung des Bundes / Franckeplatz 1 / 06110 Halle an der Saale /Tel 0345 2997 0 /Fax 0345 2997 333 /info@kulturstiftung-bund.de /www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers / Alexander Farenholtz [verantwortlich für den Inhalt] Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Mitarbeit Tinatin Eppmann / Diana Keppler / Gestaltung cyan Berlin Dr. Alexander Klose / Christoph Sauerbrey Herstellung hausstætter Redaktionsschluss 20 8 2010 Auflage dt. 26.000 / engl. 4.000 Bildnachweis © Courtesy of the Artist

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbe dingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.

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