Studia kulturoznawcze 1(9)/2016

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Konrad Ott

schrieben, d.h. konkretisiert werden müssen. Insofern besteht eine höherstufige Verantwortung für die Zuschreibung konkreter Verantwortlichkeiten auch im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Allen dürfte klar sein, dass eine Geschichte des Anthropozän nicht nur eine Helden- und Erfolgsgeschichte sein kann, wie eine technologisch ingeniöse, hoch anpassungsfähige, in Staatsverbänden organisierte Menschheit unter der fortschrittlichen Führung der westlichen Industrienationen sich eine vernunftlose Natur untertan macht, sondern dass die (noch zu schreibende) Geschichte des Anthropozäns nur als eine Geschichte der Dialektik der naturbeherrschenden Aufklärung (im Sinne von Horkheimer und Adorno Dialektik der Aufklärung) geschrieben werden könnte. Als eine Geschichte also, in der aus Segen auch Fluch werden kann, aus Gewinn Verlust, aus Erfolg Bedrohung, aus Triumph Scheitern, aus Hochmut Schande, aus der Überwindung vieler Grenzen die Einsicht in die Begrenztheit und Endlichkeit alles Irdischen. Ich greife sechs Aspekte heraus, die wesentliche Momente einer möglichen dialektischen Geschichte des Anthropozäns wären: 1. Bevölkerungswachstum 2. Urbanisierung 3. Klimawandel 4. Landwirtschaft 5. Biotische Vielfalt 6. Trinkwasser. Ad. 1. Das Thema des Bevölkerungswachstums wurde in den 1960er Jahren intensiv diskutiert3 und verschwand dann von derintellektuellen Agenda. In meinem Geburtsjahr betrug die Weltbevölkerung knapp drei Milliarden Menschen. Sollte ich 90 Jahre alt werden, so würden in meinem Todesjahr etwas mehr als neun Milliarden existieren, von denen die meisten den westlichen „way of life“ als erstrebenswert ansehen und immer mehr in die nördlichen Länder immigrieren wollen. Diese Anzahl von etwa 9.5 Milliarden Menschen ist unbestreitbar auf Ressourcen angewiesen. Jede Einzelne ist bedürftig. So gesehen, liegt sogar ein gewisser Erfolg darin, dass die absolute Zahl der hungernden und unterernährten Menschen seit Jahren konstant geblieben ist, deren relative Anzahl im Verhältnis zur Weltbevölkerung also sogar abgenommen hat. Das Thema Bevölkerungswachstum wurde bekanntlich schon 1798 von Robert Malthus angesprochen4, aber der düstere Reaktionär Malthus galt schon am Ende des 19. Jahrhunderts und erst recht in der Nachkriegszeit als widerlegt. „Malthusianismus“ war in den 1970er Jahren in progressiven Kreisen ein  Siehe: P. Ehrlich, Population Bomb, Ballantine Books, New York 1968.  Siehe: R. P. Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, Kap. 3. 3 4


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