50 Jahre Evangelische Stadtkantorei Bremerhaven

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Berichte

die Freitagsproben zu meinem Wochenrhythmus; sie geben meiner Woche Takt und Struktur, die ich nicht mehr missen möchte, so wenig wie den Sonntag – »Thank God, it’s Friday«, sagen die Amerikaner! Als ich Ende Februar 1985 nach Bremerhaven kam und an der Petrus-Kirche in Grünhöfe als junger Pastor meine erste Stelle antrat, war die Entscheidung für die Stadtkantorei bald gefallen. Am 19. April 1985 um 20.00 Uhr war ich wohl zum ersten Mal bei einer Probe, sagt mein alter Kalender. Eng verpackt zwischen hundert anderen Terminen, deren Fülle und Dichte mich heute weniger erstaunt denn erschreckt, steht da schlicht am Feitag Abend um 20 Uhr: Chor. Ich weiß noch, wie oft ich da mit hängender Zunge ankam und dann, nach dem Einsingen bei Herrn Wandersleb (»p – t – k / pööööt – tööööt – kööööt …«) zwischen Herrn Fischer und Herrn Müller-Hansen zu sitzen kam, völlig übermüdet, aber selig: denn in den nächsten 105 Minuten sollte ich alles vergessen, was mich sonst umtrieb und mir nachts oft genug den Schlaf raubte. Das war – und ist bis heute – wirklich ein Abtauchen in eine andere Welt, weitab vom Alltag und seinen Belastungen. Eine heilsame Pause, ein Aussteigen aus dem Hamsterrad. Und zugleich ein Auftanken, das mich durch die ganze kommende Woche trägt. Ich habe das erst nach und nach begriffen, wie heilsam das eigentlich ist: dass ich da einfach hinten im Tenor mitsingen kann, meinen Beitrag leiste, ohne mich groß anstrengen zu müssen, ohne dass es auf mich allein ankommt, ohne große Erwartungen an mich, einfach so – sola gratia, wie die Reformatoren sagten: Allein aus Gnade. Das spüre ich so bis heute, und es gehört zu den größten und wertvollen Lebensgeschenken, die ich meinem Gott verdanke. Dazu kommt, und auch das habe ich erst nach und nach begriffen, dass wir ja fast immer biblische Texte singen, die sich auf diese Weise nicht nur dem Kopf ganz tief einprägen, sondern sich in meiner Seele fest verankert haben. »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« – ich kann bis heute dieses phantastische Wort aus dem Hebräerbrief, das in diesem Jubiläumsjahr die Jahreslosung bildet, nicht lesen, ohne dass mir dazu die Melodie aus dem Brahms-Requiem in den Kopf kommt. Ich vermute, dass sich ein großer Teil meiner

Kenntnis von biblischen Worten aus musikalischen Quellen speist. Und nicht selten hat mich das gerade als junger Pastor sehr berührt, wenn wir so etwas sangen. Es war wirklich eine sehr anstrengende und aufreibende Anfangszeit für mich, und manche Amtshandlung hat mich bis weit über meine Grenzen geführt. Und so fand ich mich oft wieder in den Worten, die wir da sangen, auch den nicht-biblischen, besonders aus der barocken Sprachwelt. Ich erinnere mich noch an den schönen Satz »Der saure Weg ist mir zu schwer« aus einer Bach-Motette, oder die trotzigen Verse aus Jesu, meine Freude: Trotz dem alten Drachen, trotz dem Todesrachen, trotz der Furcht dazu. Tobe, Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sich’rer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen. Das tat einfach gut, wenn ich morgens einen viel zu jungen Menschen zu Grabe getragen oder einen deprimierenden Besuch hinter mich gebracht hatte … Aber auch in den Auseinandersetzungen, die ich als junger Hitzkopf mit meiner Obrigkeit auszutragen hatte, halfen mir Sätze wie die aus dem Weihnachtsoratorium: Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben, so gib, dass wir im festen Glauben nach deiner Macht und Hülfe sehn. Wir wollen dir allein vertrauen, so können wir den scharfen Klauen des Feindes unversehrt entgehn. Das war Balsam für meine Seele und ein Kraftquell für mein kämpferisches Herz. Gleich in meinem ersten Jahr 1985 sangen wir Bachs h-Moll-Messe – ein gewaltiges Erlebnis für mich. Obwohl ich sie 28 Jahre dann nicht mehr gesungen habe, staune ich, wie viel davon in diesem Jahr noch präsent ist, wo ich sie aus Anlass des Chorjubiläums wieder mitsingen kann. Wie tief sich das einprägt! In meiner Chorpartitur von damals finden sich noch Hinweise auf Sonderproben im Rundfunk-Studio F bei Radio Bremen und auf eine Chorfreizeit in Drangstedt am 21. und 22. September. Ich weiß nicht, ob es sich bei die-

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