Kontrast Magazine #6

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Titelthema: Gewalt

scheinlich welche. Ich persönlich hätte meiner Schule echt zugetraut, dass knallhart regulärer Unterricht gemacht wird, und es vielleicht kurz mal nebenbei erwähnt wird, aber im Klassenzimmer wurde über nichts anderes geredet. Man wurde in den Arm genommen und man hat geredet. Absurderweise wurden erstmal die Hausaufgaben abgeschrieben. Ich habe versucht zu lernen.

gar an der Tafel. Wer sich allerdings nicht meldete, wurde in Ruhe gelassen. In Latein haben wir Spiele gespielt. Aber nein, wir spielen keinen „Hangman“, das ist mir zu brutal. Wir spielen „Heiner malen“. Also malen wir einen Heiner, anstatt einem Männchen, das am Galgen hängt. Mit lateinischen Begriffen. In der Pause sind wieder welche aus der Klasse zum Lehrerzimmer. Haben unsere Französisch-Lehrerin gefragt, ob

Dann kam mein Mathelehrer herein. Er kam rein, und es war still. Er hat kurz etwas gesagt. Aber man musste wohl nichts sagen, es hatte wohl jeder mitbekommen. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, wie man mit diesem schrecklichen Ereignis und der Trauer umgeht, aber man braucht sich auf keinen Fall zu schämen. Wer im Unterricht eine Pause braucht, soll einfach rausgehen, kurz spazieren gehen, an die Luft, er versteht das. Eine Psychologin steht auch zur Verfügung. Wir sollen uns einfach trauen, wenn wir denken, wir packen es nicht. Zum Respekt vor den Opfern und zur Anteilnahme gab es eine Schweigeminute. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Chaoten-Klasse eine Minute lang still sein kann, doch es war totenstill. Keiner hat laut geatmet. Kein Kratzen auf Papier. Kein Rascheln. Keine Bewegung mit dem Fuß. Lediglich die Kirchturmuhr und ein schreiender Vogel und Gedanken. Das war keine Schweigeminute. Das waren etwa sechs Minuten Totenstille! Ich musste mit den Tränen kämpfen – war damit nicht alleine. Danach meinte mein Mathelehrer, er fände es abwegig und könne sich auch nicht vorstellen, jetzt Mathe zu machen, aber ein wenig Normalität würde vielleicht helfen. Und so krass es klingen mag – es half. Ich war so-

druckend. Es war traurig. Man sieht Hunderte von Menschen in einer solchen Stille, die man von so vielen Menschen nie erwarten würde. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele traurige Gesichter auf einmal gesehen. Man sieht Menschen weinen, die man normalerweise nie weinen sehen würde, weil sie es nie zeigen würden. Kleine Kinder, die verwirrt aussehen, die die ganze Sache einfach nicht verstehen können. Leute in meinem Alter, total aufgelöst. Menschen, emotionslos. Man sieht nur den Schrecken im Gesicht. Gänsehaut. Hunderte von Kerzen, Windlichtern, Schildern, Blumen, Teddys und andere persönliche Gegenstände. Man kann die Atmosphäre, die einem da entgegen kommt, nicht beschreiben. Sie erschlägt einen. Es ist krass. Tränen.

Albertville-Realschule

wir die Arbeit verschieben können. Im „Unterricht“ haben wir die erste Hälfte nur über die Ereignisse geredet. Und in der zweiten Hälfte haben wir französische Comics gelesen. Den Rest des Tages war nicht sehr viel los. Wir waren alle irgendwie noch zu geschockt. Ich war am 14.03.09 in Winnenden. Je näher die Haltestelle Winnenden kam, desto bedrückender wurde es irgendwie. Keiner wusste genau, was uns erwartet. In Winnenden haben wir eine Frau gefragt, wie man zur AlbertvilleRealschule kommt. Sie hat traurig geguckt, irgendwie mit Mitleid im Blick. Mich würde interessieren, wie vielen sie den Weg schon beschrieben hat. 20 Minuten durch Winnenden laufen. Immer wieder begegnet man kleineren Gruppen, traurigen Gesichtern, schweigend. Je näher man zur Schule kam, desto mehr Menschen wurden es. Man sah es von weitem. Eine reine „Pilgerstätte“. Ich hätte nie mit so vielen Menschen gerechnet. Es war beein-

Stundenlang die Kerzen angeguckt, Fotos von Opfern, Gedichte von der besten Freundin, Briefe von den Eltern, Beileidsschilder von Schulen, Verwandten, Fremden. Es ist gruselig, dort zu stehen. Man steht dort und sieht die Schule genau in dem Winkel, wie es im Fernsehen immer gezeigt wird. Man sieht die Fenster und denkt – dort sind sie hinunter gesprungen. Man guckt auf den Boden und überlegt, was an dieser Stelle vielleicht passiert ist. Auf dem Pausenhof noch mehr Kerzen, Fotos, Briefe. Fotografen und Reporter. Doch sie halten sich wenigstens hier ein wenig zurück. Schilder, die darum bitten, die Trauernden in Ruhe zu lassen. Hier muss ich meine wachsende Abneigung der Presse gegenüber kundtun: Wie kann es sein, dass ein angeblich seriöser Fernsehsender Leute interviewt, und die Gespräche anschließend so zusammenschneidet, dass nur rauskommt: „Killerspiele, einsam, Mobbing und Psycho“, obwohl die eigentliche Aussage des Befragten ganz anders ablief? Es ist seltsam, man will weg, weg von dem Ort, der einen so traurig macht. Andererseits will man dort bleiben. Juni 2009

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