kinki magazine - #14

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ewaffnet mit Taschenlampen und Schildern mit der Aufschrift ‹Führung. Bitte folgen Sie uns›, dringen vier Herren – nach einer Reise durch die Weiten des neuerbauten Südpols in Luzern – in den dunkeln Saal. Den Südpol lebend zu erreichen, ist nicht ihr Ziel, denn sie sind ja schon tot. Die Messieurs haben eine ganz andere Reise mit den Anwesenden im Sinne. Um diese zu beschreiten, legen sie die Führungsschilder nieder und tauschen sie gegen Saiteninstrumente und Mikrophon. Dann ­beginnen sie, mit ihrer schaurig schönen Kammermusik unsere Seelen zu umwerben. Die Dead Brothers treten mal zu dritt, mal zu zehnt auf. Sie spielen von Gospel bis Bluegrass alles, was die Geburt des Rock’n’Roll in Amerika beeinflusst hat. Sie sind eine Totenkapelle, die noch nie für Beerdigungen gebucht wurde. Eine Musikgruppe, deren Ende von den einen Mitgliedern verkündet und von den anderen überlebt wird. Und wenn man dann im Internet von Dead Alain & Co liest, weiss man nicht so recht, ob es die Dead Brothers wirklich gibt oder ob uns die Toten einen Streich spielen.

Variable Tote Am besagten Abend, in der Luzerner Allmend, tre-

ten die toten Brüder zu viert als ‹The Dead Brothers’ Sweet String Orchestra› auf und nehmen uns mit auf eine Kreuzfahrt, deren Ziel sie uns nicht mitteilen: ‹Wir dürfen euch nicht verraten, wohin es geht, so steht es im Vertrag›, zwinkern sie uns zu. Die verschiedensten Bandzusammenstellungen gehören zum Konzept der Dead Brothers: mal treten sie mit drei Tubas und neun Hörnern als Monstercombo, mal als klassisches GitarrenSymphonieorchester, mal nur zu dritt und jetzt ­sogar als Streichquartett ohne Schlagzeug auf. So kann die Band über die letzten zehn Jahre viele ‹tote Mitglieder› auflisten, die durch die variablen musikalischen Hintergründe immer wieder Neues einbringen konnten. Unvariabel scheint nur der singende Haupttote ‹Dead Alain› zu sein, der den Ideenreichtum der Band aus dem Reich der Toten mitgebracht hat. Ihre Songs schöpfen ihre Inspiration aus der wienerischen Todesvertrautheit. Eine Mischung aus sizilianischer Mafia-Musik, Blackgrass, Gospel, armenischer und serbischer Volksmusik, Tom Waits und gar schweizerischer Folklore umspielen humorvoll wie düster die Todesthematik. Zu ihren Aktivitäten gehört aber weit mehr als nur das Schrummeln von Totenmusik; die Dead Brothers spielten auch im Theater, tourten drei Jahre mit ­einem elektrischen Zirkus durch Europa und schreiben immer wieder Theater- und Filmmusik.

Musikalische ­Erzählungen

Alain sieht Musik aus historischer Perspektive. Musik ist nicht beliebig, sondern hat immer einen Kontext, so versucht er selber Musik zu verstehen und so möchte er sie auch erzählen. Deshalb spielten die Dead Brothers am Anfang ihrer Karriere auch die Wurzeln des Blues nach: ‹Wie damals die Ärzte, die zu Fuss Amerika durchquerten und immer einen Sänger bei sich hatten, um Käufer für ihre Medizin anzulocken, zogen wir durch Cafés und Bars, und versuchten durch unser

Spektakel unsere Medizin – oder waren’s Bloody Marys? – an den Mann zu bringen.› Als die Dead Brothers Anfang der 90er-Jahre ins Leben gerufen wurden, mochte Alain Musikund Theaterstücke, die sich mit dem Tod befassten. Der Tod faszinierte ihn, weil er zu den wichtigsten und emotionalsten Momenten des Lebens gehört. Mitten in der Rockära der 80er-Jahre traten sie – theatralisch verkleidet wie ein kleines Cabaret – als tote Brüder oder als Totengräber auf, um die Thematik des Todes wieder in die Gesellschaft zu integrieren: ‹Im 16. Jahrhundert oder im Mittelalter war es kein Problem zu sterben, der Tod war natürlich und omnipräsent. Diese Präsenz haben wir einfach eliminiert. Ich denke, wir sollten den Tod wieder mitten ins Leben stellen, das würde uns sehr viele Ängste ersparen›, meint Alain.

Faszinosum Tod Auf dem Schiffsdeck unserer Kreuzfahrt steht eine

kleine Combo, ähnlich einer Wandermusikgruppe: der charismatische Sänger – auch gerne mal mit Banjo – zähmt uns, begleitet von Kontrabass, Violine oder Mandoline sowie von einem Klavier in einem Koffer und einem aus Plastikeimer, Besenstil und Schnursaiten gebastelten Kontrabass. Alain singt auf Englisch, Französisch und Deutsch, als gäbe es bei den Toten keine Muttersprache. Und wir schaukeln zu Liedern über Langenthal und Geisterhäuser mit, als gäbe es kein Morgen mehr. Plötzlich wird der Sänger von den Instrumentenbögen von Violinist und Kontrabassist erstochen, worauf er taumelnd durch die Zuschauer­ reihen stürzt. Als er sich wieder fängt, verführt er das Publikum mit leisem Gesang und tanzt wiegend mit einer Zuschauerin.

From the other side ‹Die Grundidee ist schon, dass wir mehr wissen

als ihr! Natürlich werde ich euch nicht sagen was, das bleibt unser Geheimnis. Aber wir waren auf der anderen Seite und wir sind zurückgekommen und sagen euch: Es ist nicht schlimm, freut euch. You gonna die anyway, have fun!› verrät mir Alain. Jedoch sehen sie als nicht kommerzielle Musiker auch noch einen anderen Grund, warum der Tod eliminiert wurde. Nämlich weil er unproduktiv war: ‹Würde man den Tod wieder zentraler ins Leben einbinden – wie er es eigentlich verdient – würde es weniger Gründe geben, so viel zu arbeiten, überzuproduzieren und zu konsumieren; der Kapitalismus ist eine Art materieller Widerstand gegen den Tod.› Ausserdem ist Musik nach Alains Ansicht nicht einfach ein Konsumgut, sondern eine Ausdrucksform der Menschen. Die Dead Brothers versuchen die Hörgewohnheiten der Leute abzubauen; dazu gehört auch, die ‹vierte Wand› zwischen Publikum und Musikern zu durchbrechen, wie Alain sagt: ‹Unsere Konzerte können nicht einfach passiv konsumiert werden: wir steigen von der Bühne und zeigen, dass wir hier sind! Der Tod ist da!› So stirbt Alain mal auf einem Besucher, und auch die Zuschauer sorgen für den Abbau der vierten Wand: ‹In England und in Amsterdam kommen die Leute teilweise verkleidet zu den Konzerten. In ­Utrecht sind letztens plötzlich 10 Männer mit einem Sarg auf den Schultern reingekommen, den sie vor uns auf die Bühne gelegt haben. Und in London legte sich vor zwei Jahren Frankensteins Braut – ganz in Weiss und voller Blut – vor

die Dead Brothers auf die Bühne, wo sie das ­ganze Konzert über geblieben ist›, schildert Alain be­geistert.

Humorvoll sterben Begleitet werden die musikalischen Erzählungen

durchwegs von einem humorvollen Ton; denn ­Humor gehört ebenso zum Tod wie Musik. Alain erklärt mir, was es mit der Totenkapelle auf sich hat: ‹Obwohl wir vom Tod singen, wurden wir bis jetzt noch nie auf eine Beerdigung eingeladen. Wir haben einmal bei einem Friedhof in Lausanne angefragt, der Mann war entzückt, aber wir haben ein Marketing-Problem. Viele Leute sagen uns: an meinem Begräbnis müsst ihr unbedingt spielen. Das Problem ist, wenn sie tot sind, kümmert sich niemand mehr darum.› Als während dem Konzert aus dem Publikum mundartikulierte Schüsse fallen, schreien die Dead Brothers mitten im Lied: ‹Yeah, kill us! We are dead.› Für diese paar Minuten auf der Bühne leben die Musiker: ‹Es ist dieser kleine, magische Moment, diese Extase›, verrät mir Alain. ‹Während der ganzen Tour, dem Reisen, dem Soundcheck etc., da wäre ich ehrlich gesagt lieber zu Hause oder bei Freunden. Wir machen das alles für den verhältnismässig kurzen Moment des Konzerts. Auf der Bühne finden wir unser Glück und die Antwort auf das Warum und Wieso unserer Arbeit.›

Freedom of Death Als die vier plötzlich ihre Instrumente packen und

sich langsam aus dem Saal fortbewegen, folgt ihnen das Publikum wie ein Trauerzug. Und siehe da, in der Lobby nimmt das Konzert seinen ‹heiteren› Fortgang, auf der Bar mitten unter verdutzten Barbesuchern und hautnah neben begeisterten Zuschauern. Diese Ausflüge gehören für die Dead Brothers dazu. Es ist eine der Freiheiten, die sie geniessen. ‹Eine Rockband könnte das nicht machen – rein von den Instrumenten und der Verkabelung her, die könnten nicht einfach losspazieren und irgendwo weiterspielen›, erzählt mir Alain lächelnd und schliesst mit den Worten: ‹Wir behalten uns alle Freiheiten vor, das sind die Dead Brothers, das bedeutet es, tot zu sein: wir haben alle Freiheiten! Wir sind nicht einmal gezwungen, produktiv zu sein, wir sind Anti-Kapitalisten.› Das ungekürzte Interview mit Alain findet ihr auf www.kinkimag.com. Mehr Info zu den Dead Brothers gibt es auf www.deadbrothers.com Foto: Promo

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