KM37 Reader Zur Ausstellung

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GEL- [EIN GLETSCHERARCHIV] JANIS LIONEL HUBER


INDEX Einleitung

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Kommentare/Essays

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Etymologie *gel-

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Interview zur Ausstellung

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Mauro Fischer: «Die Gletscher halten uns den Spiegel vor»

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Arian Bastani: «Es braucht eine zweite Aufklärung»

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Fabian Weingartner: «Das Monster»

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Percy Bysse Shelley: «Mont Blanc» (1817)

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Naemi Meier: «Kalte Kunst zum Nicht-Anfassen»

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Team

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Impressum

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EINFÜHRUNG ZU AUSSTELLUNG UND READER Was betrauern wir, wenn das ewige Eis der Alpen und Polarregionen weggeschmolzen ist? Die Wasserreserven, vom Eis abhängige und regulierte Organismen und Strömungen, das in ihnen gespeicherte Wissen über die Erdgeschichte oder ihre physische Präsenz? Die Eisregionen der Erde haben sich im Zusammenspiel mit den klimatischen Bedingungen immer schon in einem Transformationsprozess befunden. So bezeichnet Gletscher die sich langsam talab bewegenden Eismassen in Hochgebirgen und Polargebieten. Verbiale Zuschreibungen wie «wachsen», «schmelzen» oder «kalben» spiegeln im Sprachgebrauch, dass die Materialität des Eises keine passive Masse ist, sondern eine eigene tätige agency aufweist. Seit über 150 Jahren spricht man jedoch von einem weltweiten Gletscherschwund, der nicht nur gemessen, sondern auch beobachtet werden kann. Der Klimawandel, der nur mit Hilfe von Messungen und Bildfolgen sichtbar gemacht werden konnte, wird nach und nach für das menschliche Auge sichtbar, da sich der Rückgang so stark beschleunigt hat. Die Transformation, welche einst in zwei Richtungen verlief, läuft heute also fast nur noch Rückwärts ab: Nur vereinzelt gibt es Gletscher, die sich noch im Wachstum befinden, wie beispielsweise der Perito-Moreno-Gletscher in Argentinien oder der Jakobshavn-Gletscher in Grönland. Die Formulierung «ewiges Eis» zeugt damit vielleicht noch von dem Respekt vor den riesig wirkenden Eisflächen der Polarregionen und Gebirgen, muss aber als Wunsch nach Beständigkeit entlarvt werden, die das Wasser in seiner festen Form nicht hat. Janis Lionel Huber spielt in seiner audiovisuellen Mehrkanalinstallation *gel- [ein Gletscherarchiv] mit dem Gedanken Gletscher medial zu archivieren, um sie dadurch als Relikte konservieren und analysieren zu können. In einem Archiv werden Dokumente gesammelt, sortiert und für die Langzeitlagerung aufbereitet. Archive und das Archivieren als Praxis spiegelt den Wunsch nach Erhalt eines kulturellen Erbes und hat sich in dieser Funktion in die moderne Kulturgeschichte eingeschrieben. Während sich das Eis im Prozess des Rückgangs befindet, erscheint es auf fotografischen oder gemalten Abbildungen statisch und unveränderbar. Damit fangen diese Bilder das Anliegen der Umweltaktivisten ein, die für den Erhalt des ewigen Eis kämpfen. Auch in der glaziologischen und klimatischen Forschung wird versucht mittels technologischer Innovationen das Schmelzen der Gletscher und Polarregionen zu verlangsamen oder umzukehren. Dabei wird mit *gel- [ein Gletscherarchiv] die Hoffnung auf technologische Lösungen für den Klimawandel affirmativ überhöht, um die Widersprüchlichkeit dieses Wunsches sichtbar zu machen.

Denn die Produktion von neuen konservatorischen Massnahmen, basieren immer auch auf der Produktion neuer Materialien, die mit erneutem CO2-Ausstoss verbunden sind. Für das digitale Gletscherarchiv, welches Janis Lionel Huber im Kein Museum erbaut, inszeniert er seine filmischen und fotografischen Aufnahmen, die über mehrere Jahre an verschiedenen Orten (z.B. Schweiz / USA) entstanden sind und selbst Archivform angenommen haben. Im Zentrum von *gel- stehen jedoch die Aufnahmen seiner diesjährigen Expeditionen nach Südpatagonien, in die Antarktis und in die Schweizer Alpen – global markante Eisflächen, die stark von der Erderwärmung betroffen sind. Mit dem Wegschmelzen der Polarregionen und der ikonischen Alpengletscher schmilzt nicht nur ihr archiviertes Wissen, sondern auch die Vorstellung des ewigen Eises, die an sie geknüpft ist. Huber wirft in seinem künstlerischen Schaffen die Frage auf, was die Aufnahmen des «ewigen Eises» abbilden und festzuhalten vermögen. Werden die riesigen Eisflächen in Zukunft nur noch in digital reproduzierter Form sichtbar sein? Oder lassen sich diese digitalen GletscherArtefakte zu wachsenden, virtuellen Gletschern im urbanen Raum restaurieren? Auf eine der Gletscher-Expeditionen hat ihn der Musiker und Künstler Gerome Johannes Gadient begleitet, der für die Ausstellung die geräuschvollen Vorgänge im Gletscher aufgenommen hat, sowie für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbare Klänge des Eises hörbar macht. Dabei überführt er die Töne in eine raumfüllende Soundinstallation und spielt mit den Vorstellungen, wie ein Gletscher klanglich archiviert werden kann. Eingebettet ins Kein Museum wird die Installation durch die szenografische Arbeit von Jeanne-Vera Bourguignon und Rebecca Zesiger, welche die Ästhetik des Archivs inszenieren. Der vorliegende Reader zur Ausstellung *gel- [ein Gletscherarchiv] ergänzt die künstlerische Position von Janis Lionel Huber durch weitere Perspektiven. In einem Interview gibt der Künstler Einblicke in seine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gletscherschwund. Flankiert werden seine Reflexionen durch einen Aufsatz des Glaziologen Dr. Mauro Fischer, die Perspektive des Wissenschaftsjournalisten Arian Bastani, einen kunsthistorischen Kommentar von Naemi Meier sowie einen Essay von Fabian Weingarten, der sich mit den literarisch inszenierten Gletschern in Mary Shelleys Frankenstein auseinandergesetzt hat. Der zweite Teil des Readers bietet Material für eine weiterführende Auseinandersetzung mit Fragen zu ökokritischer Kunst und dem Klimawandel. Carla Peca

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*GEL- [ETYMOLOGIE/MATERIALITÄT] *gel- ist der indogermanische Wortstamm des Schweizerdeutschen Worts Gletscher. Er bedeutet soviel wie kalt (adj.) oder frieren (v.).[1] Vier Aspekte möchte ich sprachlich-konzeptuell in diesem Titel anlegen: (1) Erstens wird ein weitreichendes zeitliches Spektrum aufgefächert, indem durch die Sprache als historische Zeugin auf die lange Existenz von Eis und Gletschern verwiesen wird. Damit erscheinen Gletscher analog zum Indogermanischen als etwas (Kultur-)Genealogisches. Durch die nachfolgend aufgezählte Vielzahl vom Wortstamm *gel- abgeleiteten Wörtern, wird auf die Entwicklung der Sprache als kulturelle Praxis verwiesen, die wie Gletscher selbst stets einem (menschlich evozierten) Wandel unterworfen sind. *Gel- ist zudem ein Wort, das man in einer Recherche im Archiv finden würde. (2) Zweitens wird durch die Schriftbildlichkeit und Markierung von *gel- als Präfix zugleich die Frage nach dem abwesenden Suffix aufgeworfen. Das Suffix bezeichnet eine an den Wortstamm angehängte Ableitungssilbe. (a) Versucht man nun anhand der Präfix-Suffix-Konstellation metaphorisch eine Zeitlichkeit zu konzipieren, so liesse sich im Kontext des hier geführten Diskurses analog zur Frage Was folgt auf das Präfix? die Frage Was geschieht mit unseren Gletschern zukünftig? formulieren. (b) Wird das Wort Suffix selbst in dessen Etymologie[2] beleichtet, bedeutet es im Lateinischen (suffigere) und im Indogermanischen soviel wie anheften, fixieren oder festmachen. Durch die Absenz des Suffixes und die dadurch entstehende Unvollständigkeit gilt es die sich gerade nicht fixierbare Flüchtigkeit von Eis durch die anhaftende Hitze zusätzlich dynamisiert wird.

(4) Viertens ist das neuhochdeutsche bzw. neuenglische Wort Gel (Kurzform von Gelatine) in seiner Zeichenkonstruktion besonders eng an den Wortstamm geknüpft; Gel ist quasi der fortlebende Wortstamm, der kein Suffix verlangt. Denkt man dies nun von Timothy Mortons Begriff des Hyperobjekts her, die seiner Beschreibung nach stets viskos sind, wird damit zugleich die materielle Kerneigenschaft von Gel beschrieben: Global warming [...] is viscous. It never stops sticking to you, no matter where you move on Earth. [...] The object is already there. Before we look at it. Global warming is not a function of our measuring devices. Yet because it’s distributed across the biosphere and beyond, it’s very hard to see as a unique entity. (Morton 2013: 45) Klima – und somit auch Gletscher pars pro toto – schreib sich ständig ins uns ein, während wir uns ständig darin selbst einschreiben. Dabei ist Hitze eine körperlich erfahrbare Folge der klimatischen Veränderung. Eine Kernfrage, die sich mir dabei stellt, ist, wie sich Hitze anhand von Eis ex negativo und metaphorisch darstellen lässts. Die globale Gletscherschmelze soll in *gel- in verschiedene Spannungsfelder und Zonen der (Un-)Erfahrbarkeit oszillieren: zwischen Suffix und Präfix; Nähe und Ferne; Hitze und Kälte; Fakt und Fiktion; Materialität und Virtualität; Fassbarkeit und Flüchtigkeit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; zwischen Eis, Wasser und Dampf.

Janis Lionel Huber

(3) Drittens möchte ich durch die Unvollständigkeit des Wortstamms *gel- auf die im Sprach- und Kulturwandel entstandenen Wörter verweisen. Im Neuhochdeutschen etwa: Gletscher, Glaziologie[3], Gel, Gelatine etc.; oder im Neuenglischen: glacial; glaciate; glaciation; glacier; glaciology; glacis; jell; jelly, cold etc. Während die Rückführung des Worts Gletscher auf dessen indogermanischen Wortstamm *gel- eine Reduktion bedeutet, eröffnet sich zugleich – abermals durch Absenz – in dieser Reduktion eine semantische Potenz. In dieser semantischen Potenz soll sich einerseits der multiperspektivische Blick, andererseits aber ganz generell der komplexe, in jeder Dimension ambivalente Global-Warming-Diskurs spiegeln.

[1] Zwischen Wortstamm *gel- und dem Neuhochdeutschen bzw. -englischen Gel führt der Sprachwandel übers Lateinische gelare (v.) oder gelu (n.), was wiederum gefrieren bzw. Frost und Kälte heisst. [2]Lateinisch suffigere (anheften), indogermanisch: *dheigw- (=festmachen / anhaften). [3] Sowie alle damit verbundenen Nomen, Komposita und Adjektive. Seite 4


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INTERVIEW ZUR AUSSTELLUNG Ein Gespräch zwischen Carla Peca (Kein Museum) und Janis Lionel Huber zu den Hintergründen von *gel mit einem Kommentar von Gerome Johannes Gadient zum auditiven Teil der Ausstellung. Carla Peca: Was ist ein Gletscherarchiv bzw. wie lässt sich ein Gletscher archivieren?

Janis Lionel Huber: Das ist in *gel- doppeldeutig zu verstehen: Da sind einerseits Gletscher – quasi als natürliche Archive – die durch ihre Eismassen über Jahrtausende hinweg konservierend wirken. Und da sind andererseits Archive, in denen Artefakte durch die menschliche Hand transgenerational konserviert werden. In *gel- spiele ich besonders mit dem Gedanken und der Frage, wie der Gletscher als natürliches Archiv zukünftig ins menschliche Archiv überführt werden kann, damit es vor seiner Auflösung bewahrt bleibt. Doch wie archiviert man einen Gletscher? Damit beschäftigt sich auch die Forschung und der Umweltschutz, auch wenn dort von schützen, bewahren und konservieren die Rede ist. Archiviert man einen Gletscher an Ort und Stelle, wie es beispielsweise am Rhonegletscher mit schützenden Tüchern versucht wird, oder lassen sich Gletscher nur noch sekundär über die Sprache und vor allem, über Medien archivieren? Ich bespreche mit *gel- insbesondere letztere These, da Gletscher bis dato eben weder produziert noch archiviert werden können und der globale Gletscherrückgang in massivem Tempo voranschreitet. Die Metamorphose des Gletschers – damit ist im glaziologischen Fachjargon die Transformation von Schnee zu Eis gemeint – wird allein vom Klima hervorgebracht. Bisherige Versuche die Gletscherschmelze durch Technik zu entschleunigen sind bisher wenig erfolgreich bzw. noch im Forschungsstadium. Aus einer kapitalistischen Perspektive gesprochen, liesse sich auch sagen, dass wir uns die Gletscherkonservierung einfach nicht leisten wollen: Schneekanonen für die Skipisten lassen sich kommerzialisieren, aber als Schutzmassnahme für einen Gletscher – wie es beispielsweise beim Morteratschgletscher ein Vorhaben ist – nicht. Wenn wir den Fokus von natürlichen Archiv auf menschgemachte Archive verlagern, sind diese aus einer klimatologischen Perspektive selbst ambivalent. Denn etwas zugespitzt formuliert produzieren diese um zu Bewahren selbst Zerstörung: Das perfekte Klima, das in vielen Archiven benötigt wird, um den Fortbestand von Archivartefakten zu gewährleisten ist sehr ressourcenaufwändig und trägt heute pars pro toto zum Klimawandel bei. Das menschliche Archiv bedroht indessen mitunter das natürliche Archiv, den Gletscher. Auch das Archiv, das ich mit *gel- fingiere, kann nicht ausserhalb dieses zerstörerischen Potentials angesiedelt werden. Das dadurch entstehende Spannungsverhältnis und die Übergänge zwischen natürlichem und Seite 6

synthetischem Archiv interessieren mich. Damit beschäftige ich mich auch im Teilwerk «Artificial Ice Watch», das in der Mitte des Raums arrangiert ist: Das natürliche Archiv geht durch den Wechsel seines Aggregatzustands verloren und wird zugleic in die mediale Ewigkeit eingeprägt. *gel- als ein Gletscherarchiv ist für mich aber auch mit einer kollektiven Nostalgie verbunden, die den Wunsch in sich trägt, dass der Gletscherrückgang – und ihr Auslöser: die Erderwärmung – rückgängig gemacht werden kann. Versteht man das Archiv auch als etwas, in dem Artefakten restauriert werden, liegt *gel- auch ein zukunftsgerichteter Reparationsgedanke zugrunde, der sich der Akzeptanz der Zerstörung entgegenstellen möchte. Diese Lust der Reparation widerspiegelt sich auch in meinem Blick durch die Kamera und in Geromes Zuhören durch Mikrofone. CP: Welche Gletscher sind in der Ausstellung zu sehen bzw. um was für Bildmaterial handelt es sich?

JLH: In der Ausstellung sind verschiedene Gletscher zu sehen. Da sind einerseits Gletscher der Schweizer Alpen: Seit fünf Jahren besuche ich regelmässig den Pers- und Morteratschgletscher, die seit 2018 nicht mehr miteinander verbunden sind. Dieses Jahr habe ich zudem eine Expedition auf den Rhonegletscher gemacht, der die oben beschriebene Spannung zwischen natürlichem und artifiziellen Archiv in sich vereint: Der Rhonegletscher scheint in diese Hinsicht hybridisiert, da er zwar noch ein Naturarchiv ist aber zugleich auch durch schützende Tücher, metaphorisch gesprochen, archiviert werden muss. Abfälle dieser schützenden Polyestertücher hängen in *gel- als Projektionsfläche über «Artificial Ice Watch». Zudem sind Aufnahmen vom Southern Ice Field in Patagonien und den Gletschern der Antarktischen Halbinsel zu sehen. Einen besonderen Stellenwert hat dort der Perito-Moreno-Gletscher, der als einer der wenigen Gletscher gilt, der tendenziell noch leicht wächst und sich als solche Ausnahme in den Anomalien, in ambivalenten Zonen des grösseren Kontexts bewegt. Weitere Aufnahmen stammen aus meinem eigenen filmischen und fotografischen Archiv, das seit fünf Jahren und durch verschiedene Expeditionen immer weiter anwächst. CP: Beim Titel *gel- handelt es sich um die indogermanische Wortwurzel des heutigen Wortes Gletscher. Wieso ist Sprache für dich so wichtig und spielst du damit auf die Sprache in ihrer Funktion als kulturelles Gedächtnis an?

JLH: Genau, *gel- bedeutet soviel wie kalt (adj.) oder frieren (v.). Indogermanische Wortstämme sind ein Ankerpunkt der Deutschen und Englischen Sprache. Viele Neuhochdeutsche oder Neuenglische Wörter führen über den Sprachwandel bis zur indogermanischen Wurzel zurück. Bei der Wurzel *gel- sind das im Neuchhochdeutschen etwa Wörter wie Gletscher, Glaziologie, Gel, Gelatine oder im Neuenglischen: glacial; glaciate; glaciation; glacier; glaciology; glacis; jell; jelly, cold etc.


*Gel- ist ein Wortstamm, den man vermutlich bei einer Recherche im Archiv finden würde. Mit diesem Gedanken und im Hinblick auf die Unvollständigkeit des Wortstamms – denn das Suffix fehlt – möchte ich ein zeitlich weitreichendes Spektrum auffächern, indem durch die Sprache als historische Zeugin auf die lange Existenz von Eis und Gletschern verwiesen wird. Sprache schafft wie Archive Ordnung. Durch die Sprache und den damit verbundenen Rationalisierungsprozessen übernehmen wir die Verantwortung Dinge zu bezeichnen und zu strukturieren. In diesen Prozessen entsteht immer auch eine Macht – die Macht der Sprache, die viele philosophische und geisteswissenschaftliche Strömungen prägte und im 20. Jahrhunderts oftmals im Zentrumdes Diskurses stand. Die Sprache ist gewissermassen eine Strukturierung ersten Grades, durch die erst weitere Strukturierungsprozesse, wie das Archivieren, möglich werden. Durch die Lektüre wissenschaftlicher und politischer Texte lerne ich beispielsweise, dass die Gletscher zurückgehen. Dieses Abschmelzen wird auch in Bildern, Filmen und Grafiken von Fachpublikationen inszeniert. Der sprachlich gefasste und bildhaft eingefangene Gletscherschwund prägt den Diskurs, aber auch mein Erlebnis am und auf dem Gletscher: Nur so war mir bewusst, als ich das erste Mal auf einem Gletscher stand, dass es sich um keinen gesunden Gletscher handelt, sondern um eine rasant schwindende Eisfläche, ausgelöst durch die vom Menschen beschleunigte Erderwärmung. Dieser Wissensrahmen dominierte meinen visuellen Eindruck und prägt wiederum die filmische Arbeit, die ich an und auf verschiedenen Eisflächen leistete. Wie du es sagst, die Sprache ist nebst Bildern durch ihre rationalisierte und strukturierte Form vermutlich das kulturelle Gedächtnis schlechthin, über das wir (in Archiven) Wissen nicht nur konservieren, sondern in dyna-

mischen historischen Kontexten immer auch wieder neu produzieren und interpretieren. *gel- als Gletscherarchiv soll dieses Archivieren selbst als scheinbar selbstverständliche kulturelle Technik vorführen und transparent machen. CP: Wie hängen Gletscher und Gedächtnis zusammen? Sind Film und Fotografie eine Form von medialer Erinnerung?

JLH: Attestiert man dem Gletscher als Naturarchiv agency – sprich, dass wir den Gletscher nicht als passive Masse werten, über die wir verfügen können – so liesse sich sagen, dass der Gletscher quasi ein jahrtausendealtes Gedächtnis hat. Gletscher erinnern, indem die Massen an Gletschereis den natürlichen Verfall verzögern. Durch seinen Rückgang verliert der Gletscher nach und nach sein Erinnerungsvermögen und überlässt seine Artefakte dem Zerfall, der Vermoderung. Wie bereits erwähnt, spiele ich in *gel- mit dem Gedanken, dieses demente Gedächtnis in mediale Erinnerungssphären zu verlagern: Film und Fotografie sind vermutlich die Medien der Erinnerung schlechthin, zumindest in ihrer populärkulturellen Praxis und Wahrnehmung, in der ihr Wahrheitsgehalt als Zeugen des Moments und ihre vermeintliche Neutralität dominant wirken. Die Sprache der Bilder, ist eine scheinbar globale Sprache, deren Struktur oft auf Ähnlichkeit mit unserer eigenen Wahrnehmung beruht. Beobachtet man die Bildproduktion des letzten Jahrzehnts, liesse sich etwas zugespitzt sagen, dass Bilder zur primären Form unseres Erinnerns geworden sind. Bilder dienen uns als Vergleichswert, mit denen wir unsere Erinnerungen abgleichen, überprüfen und aktualisieren. Das Vermögen medial zu erinneren, möchte ich durch das fingieren verschiedener Blicke aufgreifen: durch den scheinbar neutralen Blick aus der Distanz, der wie ein

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Satellit Oberflächen abtastet; durch die Inszenierung meines eigenen Blicks und meiner Betrachterposition; durch den Blick in den Gletscher hinein und aus dem Gletscher heraus; durch den spekulativen Blick in die Zukunft. Fotografisch und filmische Bilder sind immer in ihrer Inszenierung limitierte, ergänzende Erinnerungen und nie Neutralität in Reinform. Durch das Teilwerk «Artificial Ice Watch» gilt es dementsprechend selbstreflexiv aufzuzeigen, wie diese verschiedenen Perspektiven und Blickrichtungen geschaffen und inszeniert werden. CP: Die Ausstellung macht einerseits auf den Klimawandel aufmerksam, bedient sich aber auch ironischer Momente. Beispielsweise wird die Hoffnung auf technologische Lösungen gegen den Klimawandel karikiert. Ist die Ausstellung ein aktivistisches Statement? Und falls ja, wieso hast dieses im Umfeld der Kunst angesiedelt?

JLH: Die Hoffnung auf technische Lösungen für die Probleme des Klimawandels ist omnipräsent. Denn wenn die Technik diese umfänglich zu lösen vermag, müssen wir unsere Privilegien und Gewohnheiten nicht abtreten. Sprich, das aktive Übernehmen von (Eigen-)Verantwortung ist und wird verlangt – das kann als überwältigend oder beängstigend empfunden werden. Denn wo fängt man an? Während ich davon überzeugt bin, dass innovative und digitale Technologie bei der Bewältigung der Erderwärmung unterstützend ist und sein wird, glaube ich, dürfen wir sie nicht als Ausrede zum Nichtstun zweckentfremden. Dem Wunsch nach einer solchen Technokratie entgegen steht nämlich die Tatsache, dass wir noch keine Kernfusion haben, die all unsere Energiefragen löst, wie es prophezeit wird und noch nicht wissen, wie der Methangasaustritt aus dem Permafrost in Sibirien oder unter der antarktischen Eisfeld bewältigt werden kann. Es gilt also unsere ethische Grundhaltung gegenüber der Natur, ihren Elementen und ihren nichtmenschlichen Wesen als Akteure ganz grundsätzlich zu schärfen. Hier spielt die Technik eine sekundäre Rolle. Der Abfluss von Eismassen in die Weltmeere wird durch «Artificial Ice Watch» in eine synthetisierte, strukturiere, Seite 8

scheinwissenschaftliche Laborästhetik übersetzt der den technokratischen Aspekt der Klimadebatte ausstellt und durchaus überzeichnet. Verhalte ich mich durch diese Überzeichnung oder durch meine Bilder aktivistisch? Der Erderwärmungsdiskurs wie auch diese Ausstellung machen deutlich: Ambivalenzen sind allgegenwärtig. Mich interessieren diese Ambivalenzen von Diskursen, Zonen die sich nicht binär separieren lassen und die sich in Sphären der Unentscheidbarkeit bewegen. Denn gerade beim Thema Klimawandel sind wir pausenlose damit konfrontiert, wie wir mit den Ambivalenzen der Verschwendung unseres Seins (zukünftig) umgehen müssen. Ich selber möchte nicht eine scharfe Trennlinie zwischen Aktivismus und Nicht-Aktivismus ziehen – auch nicht für die Kunst. Was mich interessiert, ist mich und gemeinsam mit anderen aktiv und multiperspektivisch in den Diskurs einzuklinken, der von verschiedensten Diskurssträngen aus allen wimmelt. *gel- lässt sich sowohl als Resignation sowie als Aufruf zur Reparation verstehen – beide Haltungen sind darin angelegt. Gerade die Kunst erlaubt es mir eine Multiperspektivität zulassen und allem voran durch das Medium Film zu bespielen. Das interessiert mich und mit diesen Mitteln möchte ich Aussagen machen; Zugänglichkeiten schaffen; Bilder und Medien symbolisieren; und bereits entschlüsselte Symbole wie die Sprache, verschieben, schärfen oder neu besetzen. CP: Mit dem Teilwerk «Artifical Ice Watch» zitierst du ein Werk von Olafur Eliasson, einer der bekanntesten zeitgenössischen Künstler des Ecocriticism. Ist es eine Antwort, eine Ergänzung oder gar eine Kritik an seinem Werk?

JLH: Ich würde es vermutlich als kritische Ergänzung bezeichnen. Das hier fingierte Gletscherarchiv schafft bewusst einen Kontrapunkt zur Verwendung von tatsächlichem Gletschereis, das aus Polarregionen oder den Hochgebirgen abtransportiert wird – ein Kunstgriff, dem sich nebst Eliasson auch andere Künstler wie Travares Strachan bedienten. Ich verstehe die Wirkungskraft von authentischem


Gletschereis durch meine Expeditionen allzu gut – auch die absurde Imposanz, wenn dieses im urbanen (Ausstellung-) Raum ausgestellt wird. Doch möchte ich hier vielmehr den zuvor erwähnten technokratischen Gedanken aufgreifen, indem ich das Eis synthetisch produzieren. Werke wie Eliasson, dem es im Kern auch um eine Übersetzung einer Direkterfahrung am dahinschmelzenden ewigen Eis geht, sind medial popularisiert worden. Der Grossteils seines Publikums, so auch ich, haben jedoch das Werk nicht live gesehen und konnten diese haptische Erfahrung nicht machen.Sein Werk wurde wahrscheinlich von den Meisten über immaterielle, medialisierte Bilder und Narrative rezipiert. Die in *gel- präsentierte materielle und haptische Ebene soll mit den immateriellen medialen Ebene in einen Dialog treten – in den Raum hinein und aus dem Raum hinaus. CP: Kann Kunst ökologisch sein?

JLH: Das ist nicht erst seit gestern quasi die Gretchenfrage der ökokritischen Kunstproduktion und -rezeption: Wie wird mit Verschwendung in der künstlerischen Praxis umgegangen? Ob Kunst in ihrer Art ökologisch sein kann, hängt stark damit zusammen, wie man den Begriff der Ökologie auslegt. De Facto ist der Kunstapparat (in einem globalen Netz der Herstellung und verschiedenen Modi des Herstellens) beinahe immer verschwenderisch – seitens der (materiellen) Kunstproduktion sowie seitens der Kunstrezeption. Es verwundert daher nicht, dass sich besonders auch aktuelle Bewegungen der Institutionskritik mit dieser Frage beschäftigen. Mir scheint essentiell, dass man sich sowohl als Künstler*in sowie als Institution seiner Komplizenschaft bewusst macht und sich nicht selbst in den Trugschluss hineinmanövriert, man könne sich als Kritik ausübende Instanz ausserhalb des Systems ansiedeln. Andere wiederum argumentieren, dass wir Werk und Autorschaft trennen müssen – auch dies meine ich, ist zum Scheitern verurteilt, denn damit wird die Authentizität eines Werks oder eines künstlerischen Outputs aufs Spiel gesetzt. Global-Warming kennt kein Aussen in dem wir uns gemütlich niederlassen könnten. Sprich, (institutionelle) ökokritische Kunst unterliegt gezwungenermassen immer einer Dualität der Verschwendung und Zerstörung. So wird durch die Produktion von Kritik gegen Verschwendung zugleich Verschwendung generiert. Genauso wie menschgemachte Archive um konservieren zu können zerstörerisch wirken. Damit sind wir im Zentrum der zuvor erwähnten Ambivalenzen. Alles ist ambivalent. Das bringt mich zur Frage: Warum mache ich also was ich mache und wie oder wo mache ich es? Vermutlich ist es eine Mischung aus dem Versuch, aktiv(istisch) in den Diskurs eingreifen zu wollen und durch den künstlerischen Output Reaktionen einzufordern. Aber es ist stückweit auch ein irrationaler Antrieb nach Erfahrungen und Eindrücke an Naturobjekten und Orten meines Interessens, die meine künstlerische Auseinandersetzung wesentlich prägen und schärfen. Diese persönliche Ebene wird oft kategorisch durch die Rechfertigungsnot der ökokritischen Kunst in Hinblick auf ihre Verschwendung ausgeschlossen.

Es gibt einige Beispiele von Werken die mit Narrativen und Kunstgriffen, die eigene Verschwendung auf sehr gelungene kreative Weise verwischen oder auch zu rechtfertigen versuchen. Dies möchte ich vermeiden. Ob die Verschwendung von *gel- gerechtfertigt ist und wie sie im Verhältnis zum ihrem Diskursbeitrag steht, darüber kann ich selbst nicht richten. Dieses Urteil oder auch verschiedene Diskurse müssen wiederum aus dem Diskurs heraus entstehen. Was ich von mir selbst verlange und auch von anderen einfordere, ist aufrichtig und transparent zu sein: Auch wenn mich die ökologische Optimierung meines Konsums, meines Schaffens und meines Seins tagtäglich beschäftigen, bin und war auch ich verschwenderisch. CP: Wie klingt ein Gletscher und wie hast du die Geräusche der Gletscheraktivität in eine Soundinstallation übersetzt?

Gerome Johannes Gadient: Mich interessiert das Ungehörte, das Unhörbare. Dinge, die (noch) nicht die konzentrierte Aufmerksamkeit erhalten haben, die ihnen zukommen sollte. Wie es Janis schon hervorgehoben hat: die Sprache ist das Archivierungsmodell par excellence. So ist es nicht verwunderlich, dass ich durch dieses Projekt versucht habe, die Sprache der Gletscher zu verstehen, genauer noch versuche ich, deren sprachlichen Qualitäten und Ungereimtheiten hervorzuheben. Durch Schmelzprozesse sind im Innern des Gletschers unterschiedliche architektonische Räumlichkeiten gewachsen, die für uns (praktisch) nicht wahrnehmbar sind. Die Schmelzung und das Verschwinden des «ewigen Eises» ist aber deutlich und immer wie mehr werden die Sprachrohre und -spalten offengelegt. Mit Unterwasser,- Kontakt- und Richtmikrofonen habe ich versucht diese Sprache zu beobachten und genau hinzuhören. Aus diesen Aufnahmen ist ein auditives Vermessungsarchiv der Gletschersprache entstanden. Jedes Geräusch, welches in der Ausstellung gehört werden kann, hat seinen Ursprung auf dem Gletscher und in dessen Spalten und Vertiefungen. Diese Rohdaten sollen das akustische Fundament des Raumes bilden und die Bewegtbilder und Installation von Janis direkt ins hier und jetzt bringen. In einem zweiten Schritt habe ich die klanglichen Qualitäten der Aufnahmen durch digitale Zersetzungsverfahren und Analyseprozesse hervorgehoben und neu zusammengemischt: Eine Art Collage von klanglichen Szenarien. Diese sprachlichen Neusetzungen sollen die für den Gletscher und vor allem dessen Beobachtung so wichtige Zeitlichkeit neu schreiben. Es ist eine Sprache, die Zeit oder Archivierung nicht linear zu denken versucht. Schmelzprozesse erstarren, scheinbare Stille wird gedehnt und kurze Frequenzen in Bewegung gebracht, wie Eisbrocken die sich zu lösen beginnen und gleich wieder zurück in ihre Ursprungsposition fallen. Meine Software lässt unterschiedliche Bearbeitungsprozesse und Zufälligkeiten gleichzeitig laufen, um ein möglichst diverses und vielleicht auch unvorhersehbares Ergebnis zu schaffen. Dieser zweite auditive Akt wird über eine eigens dafür gebaute Soundskulptur abgespielt: ein räumliches Sound-Archiv, ein persönliches Artefakt ungehörter und neu übersetzter Gletschergeschichten.

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«DIE GLETSCHER HALTEN UNS DEN SPIEGEL VOR» Volumen- und Massenänderungen von Gletschern können als Schlüsselindikatoren für den Klimawandel betrachtet werden, da – über eine bestimmte Zeitspanne betrachtet – der Massenzuwachs eines Gletschers in Form von Schnee und Firn sowie Massenverluste eines Gletschers in Form von Eis-, Firn- und Schneeschmelze direkt von den vorherrschenden klimatischen Bedingungen (Strahlung, Temperatur, Niederschlag, Wind) abhängen. Es erstaunt also nicht, dass die Gletscher und Eiskappen rund um den Globus sozusagen im Gleichschritt mit der menschgemachten Erderwärmung durch die zunehmenden Treibhausgasemissionen seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend höhere Massenverluste aufweisen und sich immer schneller zurückziehen. Die Gletscher der Erde sind jedoch nicht nur deshalb bedeutsam, weil sie den Klimawandel für uns alle sichtbar und erlebbar machen, nein. Das Abschmelzen der Gletscher weltweit trägt – neben Schmelzwasser der grossen Eisschilde Grönlands und der Antarktis sowie der thermischen Expansion der Ozeane – signifikant zum aktuell beobachteten Meeresspiegelanstieg bei. Das Volumen an heute noch weltweit in Gletschern gespeichertem Süsswasser entspricht knapp einem halben Meter Meeresspiegelanstieg. – Nicht viel, könnte man meinen. Wenn man jedoch bedenkt, dass heute rund eine Milliarde Menschen zwischen null und einem Meter über Meer leben, realisiert man, welch dramatische Folgen schon einige Dezimeter Meeresspiegelanstieg haben können. Wenn wir den Fokus von der globalen auf die regionale Ebene richten, sehen wir, dass sich Hunderte Millionen von Menschen in trockenen Gebieten der Erde von Feldfrüchten einer Landwirtschaft Seite 12

ernähren, deren Bewässerung stark auf Abflüsse der sommerlichen Gletscherschmelze in den Bergen angewiesen ist. Sie brauchen das Wasser dann am meisten, wenn es heiss und trocken ist und keine Niederschläge fallen. Durch den anhaltenden Gletscherschwund nehmen diese Abflüsse zuerst bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu, dann aber, wenn die Gletscher zu klein geworden sind, um im Sommer trotz verstärkter Schmelze mehr Wasser zu liefern, kontinuierlich ab. Wassermangel und sowohl soziale als auch politische Spannungen sind mögliche Folgen. Betrachten wir auch noch die Relevanz von Gletschern auf der lokalen Ebene: Kraftwerke in den Bergen erzeugen nachhaltigen Strom, indem sie ihre Stauseen mit Zuflüssen durch die Schneeund Eisschmelze füllen. Tourismusdestinationen verdienen Geld, indem sie wahre Menschenmassen in die Nähe der verschneiten Gipfel und noch vorhandenen Eisströme transportieren. Die Gletscher haben also durchaus einen nicht zu verachtenden ökonomischen Wert! Das Verschwinden der Eismassen verändert auch zusehends die hochalpine Landschaft und die Disposition für Naturgefahren. Sich zurückziehende Gletscher hinterlassen entweder durch sie transportiertes und abgelagertes Lockermaterial (Moränen) oder fein abgeschliffene und polierte Felspartien. Pionierpflanzen besiedeln nach und nach die Gletschervorfelder, Sträucher und kleine Bäume etablieren sich erst nach Jahrzehnten, die Bodenbildung dauert Jahrhunderte. Aus steilem, unverfestigtem Moränenmaterial können bei starken Niederschlagsereignissen Murgänge oder Rutschungen abgehen, Felspartien können durch den Gletscherrückzug destabilisiert und anfälliger auf Sturzprozesse werden. Es entstehen neue Gletscherseen, welche durch Fels- und Eisstürze in den See oder durch einen Dammbruch Hochwasser weiter unten im Tal verursachen können. Vor rund 150 Jahren bedeckten die Gletscher der Schweizer Alpen mit ca. 1‘735 km2 noch eine Fläche so gross wie der Kanton Zürich. Heute ist diese Fläche noch etwa halb so gross (ca. 2% der Schweiz oder etwa die Fläche des


Kantons Schwyz). In derselben Zeitspanne haben die Schweizer Gletscher fast zwei Drittel ihres Volumens verloren (heute noch ca. 50 km3, was etwa dem Volumen des Bodensees entspricht). Über die letzten paar Jahrzehnte betrachtet, hätte man mit dem Schmelzwasser von den Schweizer Gletschern jährlich den Murtensee auffüllen können. – Es tut sich also etwas in den Bergen, die hochalpine Landschaft verändert sich rapide. Und leider stimmt auch die prognostizierte zukünftige Entwicklung der Alpengletscher nicht sonderlich optimistisch. Je nachdem ob wir es schaffen, die Treibhausgasemissionen global rasch und drastisch zu reduzieren und den menschgemachten Klimawandel entscheidend zu verlangsamen, oder ob wir – «business as usual» – weltweit betrachtet weiterhin ungebremst fossile Energieträger nutzen und damit die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre weiterhin kontinuierlich erhöhen, je nachdem werden die Gletscher der Alpen am Ende des 21. Jahrhunderts noch rund ein Drittel (best-case) bis unter zehn Prozent (worst-case) so

Wir müssen die globalen Treibhausgasemissionen drastisch und rasch reduzieren, wollen wir den Generationen des 21. Jahrhunderts und darüber hinaus erlauben, auf einer lebenswerten Erde zu leben. Je eher wir das schaffen, desto weniger ausgeprägt werden die negativen Auswirkungen des Klimawandels für uns sein, und desto besser werden wir uns den veränderten klimatischen Bedingungen anpassen können.

viel Volumen einnehmen wie heute. Bis zum Ende des Jahrhunderts werden also nur noch einige (kümmerliche) Reste der heute noch vorhandenen Alpengletscher in grosser Höhe übrigbleiben. Für einen Glaziologen wie mich sind das natürlich nicht sonderlich schöne Entwicklungen. – Böse Zungen mögen behaupten, ich hätte bald nichts mehr zu tun. – Aber wie man meinen Ausführungen weiter oben entnehmen kann, wird es für mein Arbeitsleben sicherlich noch reichen. Aber das ist nicht der Punkt. Der weltweite und zunehmend rasante Gletscherschwund hält uns Menschen den Spiegel vor und zeigt uns auf – natürlich nebst allen anderen beobachtbaren direkten oder indirekten Auswirkungen des Klimawandels, dass es Zeit ist zu handeln. Wir sollten dringend unser Leben und unsere Wirtschaft auf nachhaltigere und ökologischere (Energie-)Systeme hin ausrichten.

fasziniert von den majestätischen, schillernd funkelnden Eis- und Schneemassen. Es ist meist karg und still im Hochgebirge, ich lasse meine ganz persönlichen Sorgen und Nöte im Tal, komme zur Ruhe und bin gefühlt weit weg von unserer schnelllebigen, manchmal geradezu unglaublich verrückten heutigen Welt – auch wenn mich die Menschheit und die Auswirkungen unseres Handelns jeweils direkt angrinsen, da hoch oben in den Bergen, wenn ich jeweils nach einem Jahr wieder Messungen am gleichen Gletscher mache und die teils dramatischen Veränderungen von blossem Auge erkennen kann.

Schon immer haben mich die Berge fasziniert und magisch angezogen. Während meinem Geographiestudium an der Universität Zürich begann ich, mich vertieft mit den Themenbereichen der Glaziologie und Geomorphologie auseinanderzusetzen. Seit meiner Dissertation an der Universität Fribourg konnte ich mir mein Hobby zum Beruf machen und bin seitdem oft nicht nur privat, sondern auch für Forschung und Lehre in den Bergen unterwegs. Wenn ich für Messungen oder auf einer Tour auf einem Gletscher unterwegs bin, bin ich glücklich, ruhig und fokussiert, bin

Dr. Mauro Fischer, Glaziologe am Geographischen Institut der Universität Bern, Gruppe Geomorphologie, Naturgefahren- und Risikoforschung

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ES BRAUCHT EINE ZWEITE AUFKLÄRUNG Um wirkungsvoll gegen die Klimakrise vorzugehen, ist die Gesellschaft zu wenig im Stande mit Zahlen und Fakten umzugehen. Die Medien, die hier einen helfenden Beitrag leisten könnten, sind zu wenig in der Lage nuanciert darüber zu berichten. Der Kunst könnte hier eine unterstützende Rolle zukommen. Wie ist es zur Klimakrise gekommen, obwohl die Grundlagen seit Jahrzehnten bekannt sind? Zweifellos tragen Unternehmen aus dem Bereich der fossilen Energien einen Grossteil der Schuld. Sind es doch ihre Produkte, die den Treibhauseffekt ankurbeln und ihre Kampagnen die Gegenmassnahmen lange verhinderten und es teilweise noch heute tun. Doch auch andere können sich nicht unschuldig aus der Affäre ziehen. Insbesondere Bildungsstätten und Medien haben es verpasst der Bevölkerung Instrumente mitzugeben, die zum Verständnis der wissenschaftlichen Erkenntnisse nötig wären (und entsprechendes Handeln begünstigen würden). Grundlagen, etwa zum Treibhauseffekt oder dem Energiesystem, aber auch ein Diskurs über Risiken Seite 14

und Unsicherheiten sind im Alltag zu wenig ein Thema. Ein Beleg dafür ist aktuell auch das Unverständnis im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie. Mitverantwortlich ist auch die in vielen Bereichen zu beobachtende Radikalisierung. Ob in der Politik oder im Umgang mit der Klimakrise: vieles wird zu stark schwarz-weiss gesehen. Wenn wir etwa das 1,5-Grad-Ziel verfehlen, ist damit nicht alles verloren. Auch eine 1,8-Grad-Welt ist besser als eine 3-Grad-Welt. Hier fehlt, gerade in der Berichterstattung der Medien, oft die differenzierte Betrachtung. Hier will ich mit meiner Arbeit als Wissenschaftsjournalist entgegensteuern. Mir ist der Blick für das grosse Ganze wichtig, die Übersicht über die Grössenordnungen. Zu erklären, wie sie zustande kommen und welche unbekannten Faktoren eine Rolle spielen. Dabei bemühe ich mich um eine nüchterne Sprache. Doch die abstrakte Problemstellung stellt auch mich immer wieder vor Herausforderungen. Unsichtbare Gase die vor allem Veränderungen in den Wahrscheinlichkeiten gewisser Ereignisse verursachen – das ist schwer zu fassen. Ohne ein gewisses Mass an Anschauungsbeispielen, gerade solche die Kontraste aufzeigen, werden wir nicht auskommen. Eis oder kein Eis. Hoher oder tiefer Meeresspiegel. Wo die Kommunikation durch Zahlen und Fakten an ihre Grenzen kommt, kann und soll die Kunst ihren Beitrag leisten. Arian Bastani (Wissenschaftsjournalist, u.a. Republik)


DAS MONSTER – EIN THEATERSTÜCK Das Mer de Glace, Eismeer zu Deutsch, ist der viertgrösste Gletscher der Alpen und der grösste Gletscher Frankreichs. Während der kleinen Eiszeit (1300-1870) ragte der Gletscher bis in das Tal von Chamonix herab (1000 m.ü.M.). Auftritt: Victor Frankenstein, Schweiz-Italienischer Forscher, besessen von Körperteilen. Jung, gutaussehend, sad boy auf Wanderung.

The following morning the rain poured down in torrents, and thick mists hid the summits of the mountains . […] The rain depressed me; my old feelings recurred, and I was miserable; […] and as I had ever inured myself to rain, moisture, and cold, I resolved to go alone to the summit of Montanvert. I remembered the effect that the view of the tremendous and ever-moving glacier had produced upon my mind when I first saw it. It had filled me with a sublime ecstasy that gave wings to my soul, and allowed it to soar from the obscure world to light and joy. The sight of the awful and majestic in nature had indeed always the effect of solemnizing my mind, and causing me to forget the passing cares of life. […] It was nearly noon when I arrived at the top of the ascent. For some time I sat upon the rock that overlooks the sea of ice. […] I descended upon the glacier. The surface is very uneven, rising like the waves of a troubled sea, descending low, and interspersed by rifts that sink deep.” (Frankenstein; Or, the Modern Prometheus [1818], S.115-117) (Frankenstein trifft auf seine Kreatur. Zittern zwischen Ehrfurcht, Kälte, Schönheit, Stolz und Angst.) Auftritt: Frankensteins Monster. Unschön, in Gletscher und Bergen zuhause. Intelligent, eloquent, weise, anklagend.

Be calm! I entreat you to hear me, before you give vent to your hatred on my devoted head. Have I not suffered enough, that you seek to increase my misery? […] How can I love thee? Will no entreaties cause thee to turn a favourable eye upon thy creature, who implores thy goodness and compassion. […] You, my creator, abhor me; what hope can I gather from your fellow-creatures, who owe me nothing? They spurn and hate me. […] These bleak skies I hail, for they are kinder to me than your fellow-beings. (Frankenstein; Or, the Modern Prometheus[1818], S. 119) Auftritt: Ökokritik.

Die englische Romantik sah die Natur als Zufluchtsort an, ‘Natürliches’ wurde zur Projektionsfläche von Emotionen und Stimmungslagen. Jene Auffassungen ziehen sich bis ins heutige Zeitalter weiter. Faszination Gletscher: Das ewige Eis, eine Landschaft, welche uns dazu nötigt, zu interpretieren und Subjektivität wiederzusehen. Der Naturbegriff ist belastet, ‘Natur’ ist nie unschuldig. Ökokritik stellt den Begriff ‘Natur’ in Frage. Wer definiert Natur, und wer unterscheidet zwischen ‘Natürlichem’ und ‘Unnatürlichem’? Frankensteins Monster ist nicht das Unnatürliche oder Monströse in Mary Shelleys Werk, auch Victor Frankenstein ist nicht per se monströs. Der Kontrast beider Protagonisten zeigt jedoch auf, wie unsere Relation zur Natur, beziehungsweise zum einst erschaffenen Naturbegriff, schwindet. Tragen wir als Schöpfer*innen des Naturbegriffes eine Verantwortung gegenüber unseren (Wort-) Kreationen? «Frankenstein; Or, the modern Prometheus» beschreibt einen kalten Anthropozentrismus, verbunden mit der obsessiven ‘Natur’ des Menschen, zu kreieren, zu kontrollieren, zu zerstören. Die Pflicht zu handeln besteht aber weiter – wir stahlen Feuer, jetzt ist es an der Zeit, zurückzugeben. Abgang: Mer de Glace, heute rund zwei Kilometer kürzer als vor 150 Jahren.

Fabian Weingartner

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Shelley, Percy: Mont Blanc. Lines Written in the Valey of Chamouni. In: Mary Wollstonecraft Shelley: History of a Six Weeks‘ Tour. London 1817. Facsimile of first edition. Oxford 1989. PR 5431 A3 1989 ROBA.

MONT BLANC: LINES WRITTEN IN THE VALE OF CHAMOUNI SHELLEY, PERCY BYSSHE (1792 - 1822) I

The everlasting universe of things Flows through the mind, and rolls its rapid waves, Now dark--now glittering--now reflecting gloom-Now lending splendour, where from secret springs The source of human thought its tribute brings Of waters--with a sound but half its own, Such as a feeble brook will oft assume, In the wild woods, among the mountains lone, Where waterfalls around it leap for ever, Where woods and winds contend, and a vast river Over its rocks ceaselessly bursts and raves. II

Thus thou, Ravine of Arve--dark, deep Ravine-Thou many-colour‘d, many-voiced vale, Over whose pines, and crags, and caverns sail Fast cloud-shadows and sunbeams: awful scene, Where Power in likeness of the Arve comes down From the ice-gulfs that gird his secret throne, Bursting through these dark mountains like the flame Of lightning through the tempest;--thou dost lie, Thy giant brood of pines around thee clinging, Children of elder time, in whose devotion The chainless winds still come and ever came To drink their odours, and their mighty swinging To hear--an old and solemn harmony; Thine earthly rainbows stretch‘d across the sweep Of the aethereal waterfall, whose veil Robes some unsculptur‘d image; the strange sleep Which when the voices of the desert fail Wraps all in its own deep eternity; Thy caverns echoing to the Arve‘s commotion, A loud, lone sound no other sound can tame; Thou art pervaded with that ceaseless motion, Thou art the path of that unresting sound-Dizzy Ravine! and when I gaze on thee I seem as in a trance sublime and strange To muse on my own separate fantasy, My own, my human mind, which passively Now renders and receives fast influencings, Holding an unremitting interchange With the clear universe of things around; One legion of wild thoughts, whose wandering wings Now float above thy darkness, and now rest Where that or thou art no unbidden guest, In the still cave of the witch Poesy, Seeking among the shadows that pass by Ghosts of all things that are, some shade of thee, Some phantom, some faint image; till the breast From which they fled recalls them, thou art there!

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III

Some say that gleams of a remoter world Visit the soul in sleep, that death is slumber, And that its shapes the busy thoughts outnumber Of those who wake and live.--I look on high; Has some unknown omnipotence unfurl‘d The veil of life and death? or do I lie In dream, and does the mightier world of sleep Spread far around and inaccessibly Its circles? For the very spirit fails, Driven like a homeless cloud from steep to steep That vanishes among the viewless gales! Far, far above, piercing the infinite sky, Mont Blanc appears--still, snowy, and serene; Its subject mountains their unearthly forms Pile around it, ice and rock; broad vales between Of frozen floods, unfathomable deeps, Blue as the overhanging heaven, that spread And wind among the accumulated steeps; A desert peopled by the storms alone, Save when the eagle brings some hunter‘s bone, And the wolf tracks her there--how hideously Its shapes are heap‘d around! rude, bare, and high, Ghastly, and scarr‘d, and riven.--Is this the scene Where the old Earthquake-daemon taught her young Ruin? Were these their toys? or did a sea Of fire envelop once this silent snow? None can reply--all seems eternal now. The wilderness has a mysterious tongue Which teaches awful doubt, or faith so mild, So solemn, so serene, that man may be, But for such faith, with Nature reconcil‘d; Thou hast a voice, great Mountain, to repeal Large codes of fraud and woe; not understood By all, but which the wise, and great, and good Interpret, or make felt, or deeply feel. IV

The fields, the lakes, the forests, and the streams, Ocean, and all the living things that dwell Within the daedal earth; lightning, and rain, Earthquake, and fiery flood, and hurricane, The torpor of the year when feeble dreams Visit the hidden buds, or dreamless sleep Holds every future leaf and flower; the bound With which from that detested trance they leap; The works and ways of man, their death and birth, And that of him and all that his may be; All things that move and breathe with toil and sound Are born and die; revolve, subside, and swell. Power dwells apart in its tranquillity, Remote, serene, and inaccessible: And this, the naked countenance of earth, On which I gaze, even these primeval mountains Teach the adverting mind. The glaciers creep Like snakes that watch their prey, from their far fountains, Slow rolling on; there, many a precipice Frost and the Sun in scorn of mortal power Have pil‘d: dome, pyramid, and pinnacle, A city of death, distinct with many a tower And wall impregnable of beaming ice.


Yet not a city, but a flood of ruin Is there, that from the boundaries of the sky Rolls its perpetual stream; vast pines are strewing Its destin‘d path, or in the mangled soil Branchless and shatter‘d stand; the rocks, drawn down From yon remotest waste, have overthrown The limits of the dead and living world, Never to be reclaim‘d. The dwelling-place Of insects, beasts, and birds, becomes its spoil; Their food and their retreat for ever gone, So much of life and joy is lost. The race Of man flies far in dread; his work and dwelling Vanish, like smoke before the tempest‘s stream, And their place is not known. Below, vast caves Shine in the rushing torrents‘ restless gleam, Which from those secret chasms in tumult welling Meet in the vale, and one majestic River, The breath and blood of distant lands, for ever Rolls its loud waters to the ocean-waves, Breathes its swift vapours to the circling air.

V

Mont Blanc yet gleams on high:--the power is there, The still and solemn power of many sights, And many sounds, and much of life and death. In the calm darkness of the moonless nights, In the lone glare of day, the snows descend Upon that Mountain; none beholds them there, Nor when the flakes burn in the sinking sun, Or the star-beams dart through them. Winds contend Silently there, and heap the snow with breath Rapid and strong, but silently! Its home The voiceless lightning in these solitudes Keeps innocently, and like vapour broods Over the snow. The secret Strength of things Which governs thought, and to the infinite dome Of Heaven is as a law, inhabits thee! And what were thou, and earth, and stars, and sea, If to the human mind‘s imaginings Silence and solitude were vacancy?

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KALTE KUNST ZUM NICHT-ANFASSEN – EIN KUNSTHISTORISCHER KOMMENTAR Please don’t touch the artwork – Ein Eiswürfel befindet sich hinter Glas in einem oben geöffneten, kubischen Behälter. Diese transparente Glasbarriere, die zwar Blicke auf das Eis aber keine direkten Berührungen zulässt, scheint dem gefrorenen Inhalt eine schützende Hülle vor Besuchenden zu geben. Ohne jedoch das Kunstwerk anfassen zu müssen, weiss die Betrachterin, wie sich Eis bei einer Berührung anfühlen und verhalten würde – es würde schmelzen. Die haptische Erfahrung von *gel- bleibt jedoch in einer Sphäre der Imagination vergangener Erfahrungen: Die gläserne Vitrine, die Raum umschliesst und einen Teil des Ausstellungsraums samt seinen Besuchern ausschliesst, zieht künstlich eine Grenze zwischen einem Innen und einem Aussen. Einzig und alleine Licht passiert die transparente Barriere. Projektionen von Naturaufnahmen in warmen Farbtönen, die den künstlich erzeugten Eisblock als ein lumineszierendes Objekt erscheinen lassen, bespielen die Glas- und Eisoberfläche und arbeiten sich durch den Eisblock hindurch, bis sie allmählich zur Ausstellungsdecke vorgedrungen sind und eine verzerrte Abbildung von nicht klar auszumachenden Schemen zeigen. Spiegelungen und Verzerrungen der projizierten Aufnahmen in den glasigen und eisigen Projektionsflächen erzeugen weitere, teils dem Zufall überlassene, hybride (mediale) Realitätsebenen, die zwischen Artifiziellem und Natürlichem oszillieren. Die zuvor beschriebene klare Grenze von Innen und Aussen entpuppt sich als durchlässig, diffus und ambivalent. Mit der metaphorischen Hitze des Lichts schwingt eine bedrohliche Vorahnung mit: Es ist eine Frage der Zeit, bis der Aggregatszustand von Eis zu Wasser übergeht. Die eingangs beschriebene schützende Glashülle entpuppt sich als Täuschung. Sie schützt zwar vor Berührungen von Besuchenden, doch bietet sie keinerlei thermischen Schutz. Der Schmelzprozess schreitet voran. Der Zusammenhang von *gel- mit der Gletscherschmelze und im grösseren Kontext der Klimaerwärmung scheint evident. Das Zeitalter des Anthropozän – das im Jahr 2000 von Crutzen und Stoermer benannte Erdzeitalter, in dem der Mensch zum klimabeeinflussenden Akteur geworden ist – wurde zwar bereits in den 1970/80er Jahren vor allem in Forscher*innen-Kreisen diskutiert, rechnet jedoch spätestens heute mit einer breiten Rezeption. Entsprechend ist es vermutlich keine zu steile These, dass *gel- auch in diesem Kontext der Anthropozän besprochen werden muss. Die Verbindung von Eis als Material eines künstlerischen Outputs und Eis als Sinnbild der Klimaerwärmung ist allerdings nicht seit jeher selbsterklärend. Ein kurzer Seite 18

kunsthistorischer Exkurs zu Eis in der Kunst soll dies hier in vier Etappen kurz illustrieren: (I) Mit dem Etablieren unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen um 1800 begaben sich nicht nur Naturforscher*innen auf Gletscher-Expeditionen, sondern unter anderem auch Maler*innen, die die bizarren Naturformen und Topografien detailgetreu in Ölskizzen und Aquarellen festhielten. Diese dienten damals zur Illustration und visuellen Vermittlung der eisigen Giganten, und hat wenig mit dem Kunstbegriff, wie wir ihn heute kennen, zu tun. Kunstschaffende nutzten allerdings diese gemalten Studien wiederum als Vorlage für weiterführende Ölgemälde, weil sie nicht die Möglichkeit dazu hatten, die alpinen oder arktischen Gletscherlandschaften mit eigenen Augen zu bezeugen. Namhaft in diesem Zusammenhang ist das Gemälde Das Eismeer (1823–1824) vom viel rezipierten Maler Caspar David Friedrich (1774–1840). Das Bild zeigt ein aufgelaufenes Schiff inmitten mächtiger, arktischer Eisschollen. Eis ist hier Teil der Landschaft und wird vom Kurator und Kunsthistoriker Ulrich Pohlmann als Sinnbild für die Erhabenheit und Ewigkeit Gottes interpretiert. (II) Mit dem Aufkommen der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts wurden gezeichnete Studien von Eis schon bald vom neuen Medium dieses Jahrhunderts abgelöst – diesem wurde unteranderem die hohe Detailgetreue, Schnelligkeit und Exaktheit angerechnet. Wie bei den gezeichneten Studien ist es auch hier bedenklich, die Aufnahmen blindlings als künstlerische Ausdrucksform zu bezeichnen. Wie unteranderem Abigail Solomon-Geadeau in den 1980er Jahren argumentierte, wurden Aufnahmen eben nicht immer in einem kunsthistorischen Kontext sondern oft in einem anderen Entstehungskontext produziert und der (post-) moderne Kunstbegriff ist oftmals erst a posteriori darauf appliziert worden. Eine andere Sichtweise ist es also, diese Dokumente heute auch als historische Zeugnisse zu betrachten, die einen einstigen Gletscherstand nachvollziehbar machen und entsprechend auch für die Glaziologie von Relevanz sind. (III) Doch bereits früh wurde die Fotografie nicht als rein abbildendes Medium theoretisiert. Es wurden mediale Eigenschaften und Grenzen erforscht und künstlerisch interpretiert. Entsprechend abstrakt fragmentiert wirken die Eis-Aufnahmen des deutschen Fotografen Peter Keetman (1916–2005) – Gründungsmitglied der avantgardistischen FotografenGruppe fotoform. In Aufnahmen wie Eiskristalle (1950) oder Luftblasen im Eis (1964) nutzt er Eis als reflektierendes, mehrschichtiges Bildmotiv und macht unteranderem mit scharfem schwarz-weiss Kontrast und bewusst gewählter Bildkomposition auf mediale Charakteristika der Fotografie aufmerksam. Das Eis bleibt aber lediglich das Bildmotiv.


(IV) Erst in der zeitgenössischen Kunst wird Eis als künstlerische Materie direkt in Installationen und künstlerischen Interventionen beispielsweise an Biennalen, in musealen Institutionen oder auf öffentlichen Plätzen eingesetzt. Dies könnte mit einem breiter gefassten Kunstbegriff aber auch mit mehr technischen Möglichkeiten zusammenhängen. Man denke hierbei an Tavares Strachan multimediale Installation Me and You – North Pole Ice and Cloned North Pole Ice (2013), die im Bahamian Pavilion an der 55. Biennale in Venedig gezeigt wurde. Zwei gegenüberliegende Glasvitrinen wurden jeweils mit einem Eisklotz besetzt, die identisch in Form und Grösse waren. Der Unterschied: Der eine Eisbrocken stammte aus der Arktis, der andere wurde nach dessen DNA geklont. Vergleichbar mit *gel- spielt das Werk mit dem Archivierungsgedanke von Eis, wenn es dann erst einmal weg sein wird und testet Grenzen des Geoengineering. An derselben Biennale wurde vom Künstler Stefano Cagol ein 200 x 120 x 50 cm grosser Gletschereisblock der Schweizer Alpen ungeschützt auf einem öffentlichen Platz in Venedig aufgestellt. Der über 60 stündige Schmelzprozess vom Werk The Ice Monolith wurde gefilmt und als weiteres Teilwerk im Maldives Pavilion gezeigt. Dieser befasste sich die dem menschlichen Einfluss auf die Klimaerwärmung und dem damit einhergehenden Anstieg des Meeresspiegels, wovon die Inselgruppe direkt betroffen ist. Ähnlich funktioniert die monumentale Installation Ice Watch (2014) von Olafur Eliasson, die medial für Aufregung sorgte: Der isländisch/dänische Künstler liess für die Installationen hundert Tonnen Gletschereis aus Grönland auf den öffentlichen Platz City Hall Square in Kopenhagen transportieren, wo zwölf unterschiedlich grosse, in einem Kreis angeordnete Eisbrocken vor den Augen und unter den Händen der Betrachterinnen allmählich dahinschmolzen. Im Unterschied zu *gel- gab es keine künstliche Grenze zwischen Besuchern und Eis. Viel mehr waren sie dazu eingeladen, mit dem jahrhundertealten Gletschereis zu interagieren und es zu fühlen.

All diese zeitgenössischen Werke stellen mitunter die Frage: Wer trägt welche Verantwortung beim Klimawandel? Sind es die Besuchenden, die Kunstschaffenden, die Politik oder die Menschheit? Tragen dabei Machthabende und -ausübende mehr Verantwortung als andere? Die Anwesenheit einer institutionalisierten Macht ist in der Ästhetik von *gel- in der abgrenzenden, gläsernen Vitrine mitunter ihrer Labor- bzw. Archivästhetik angelegt. Ihre vermeintliche objektive Nüchternheit ist jedoch trügerisch und steht nicht mehr für einen im White Cube gängigen Ausstellungsgestus, der ein erhabenes Innen von einem weltlichen Aussen abgrenzt: Die Vitrine in *gel- ist diffus, porös und lässt Projektionen passieren. Besonders auch Eliasson spielt mit der Frage nach Verantwortung und damit einhergehenden Machtverhältnissen und wählt Ort sowie Zeit der Installation nicht zufällig: In derselben Zeitspanne, in der Ice Watch in Kopenhagen der Öffentlichkeit gezeigt wurde, verkündigte auch der Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC) – der Klimarat – seinen fünften Beurteilungsrapport in Kopenhagen. Das Ziel: internationale Regierungen mit wissenschaftlichen Informationen zu unterstützen, die wiederum zur Ausarbeitung von Klimapolitiken herangezogen werden. Mit Ice Watch lenkt Eliasson die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht nur auf die Dringlichkeit dieser Beurteilungsrapporte, sondern zieht auch Kritik hinsichtlich seines energieaufwändigen Realisierungsprozesses auf sich, in dem er Eis aus der Arktis importiert. Der Diskurs ist durchzogen von verstrickten, widersprüchlichen und ambivalenten Gegebenheiten, Gewinnern und Verlieren und einer Unüberschaubarkeit an Informationen. Das zeigt einmal mehr: Es gibt kein Schwarz oder Weiss – oder wie im Falle von *gel-: Kein Innen oder Aussen. Naemi Meier

Literatur: Crutzen/Stoermer 2000: Paul Crutzen, Eugene Stoermer, «The Anthropocene», in: Global Change Newsletter, Nr. 41 (Mai 2000), S. 17–18. O’Doherty 1986 [1976]: Brian O’Doherty, Inside the White Cube, erstmals publiziert in: Artforum (März 1976), San Francisco 1986. Pohlmann 2015: Ulrich Pohlmann, «Eis und Schnee», in: Über Wasser. Malerei und Photographie von William Turner bis Olafur Eliasson, hrsg. von Ulrich Pohlmann et al., München 2015, S. 166–167. Reiss 2019: Julie Reiss, «Terra Incognita. Exhibiting Ice in the Anthropocene», in: Art, Theory and Practice in the Anthropocene, hrsg. von Julie Reiss, Vernon 2019, S. 77–86. Solomon-Godeau 2002: Abigail Solomon-Godeau, «Tunnelblick», in: Paradigma Fotografie, hrsg. v. Herta Wolf, Frankfurt am Main 2002. Seite 19


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TEAM:‍ Künstlerische Leitung, Raumkonzept und Videoinstallation: Janis Lionel Huber (*1993, Basel) ist Medienkünstler mit dem Fokus auf installative und performative Videoarbeiten, die sich raumzeitlich, ästhetisch und medienreflektierend mit Diskursen, ihren Ambivalenzen und Zonen der Unentscheidbarkeit auseinandersetzen. Aktuell setzt er sich mit dem Anthropozän, dessen Sprache, Bildern und Theorien auseinander. Janis Lionel Huber Schaffen ist auch geprägt durch seine Arbeit an transdisziplinären, soziokulturellen Projekten; seine kuratorische Praxis für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und seiner Tätigkeit als Moderator für Film-/Kunst-Gespräche. Nach seinem Bachelor in Germanistik, Film- und Musikwissenschaft schliesst er seinen Master in Kulturanalyse und Germanistik an der Universität Zürich ab. ‍ Soundinstallation: Gerome Johannes Gadient (*1996) studiert am Institut Kunst HGK FHNW Basel seinen Master in Fine Art. Als Künstler und Musiker realisiert er soundbasierte Arbeiten für Ausstellungen, Performances und Film. Im Zentrum seiner Projekte stehen unterschiedliche Formen von Realitätswahrnehmungen, Themen wie der Raum, die unendliche Anzahl Stellen zwischen 0 und 1, der lauwarme Bereich zwischen kalt und warm, die Möglichkeit in einem Zwischenraum alles zu sehen, Haltung einzunehmen, Perspektiven und Richtungen zu vermitteln. Akustisch und installativ begeben sich seine Arbeiten in diese Bereiche, machen Zwischenräume auf, füllen oder leeren das Dazwischen neu, stellen Seiten und Grenzen in Frage, mischen Bekanntes mit Unbekanntem, Ungehörtes mit Unerhörtem und gehen dabei ganz spezifisch auf Aspekte unserer/der Zeit ein. ‍ Szenografie: Jeanne-Vera Bourguignon (1992) und Rebecca Zesiger (1992) sind Konzeptdesignerinnen mit einem Bachelor in Design der Zürcher Hochschule der Künste. Sie engagieren sich vor allem in den Bereichen Szenografie, Kostümbild und Styling, Eventdesign und Umsetzungen von Bühnenbildern im kulturellen und kreativen Bereich. Kuratorische Leitung (Kein Museum): Carla Peca ist Redakteurin der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK), Mitglied der Kulturföderungsstelle Kulturdünger und Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Laurent Stalder (gta ETHZ).

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Reader zur Ausstellung *gel- [ein Gletscherarchiv] vom 01.10.–10.10.2020 im Kein Museum, Zürich Künstlerische Leitung, Raumkonzept und Videoinstallation: Janis Lionel Huber Soundinstallation: Gerome Johannes Gadient Szenografie: Jeanne-Vera Bourguignon, Rebecca Zesiger Kuratorische Leitung (Kein Museum): Carla Peca Autor*innen: Arian Bastani, Mauro Fischer, Janis Lionel Huber, Naemi Meier, Carla Peca, Fabian Weingarten Lektorat: Carla Peca, Julie Delnon Grafik: Wanda Honegger Herausgeberin: Kein Museum Kein Museum Raum für Experimente Mutschellenstrasse 2 8002 Zürich ein@keinmuseum.ch keinmuseum.ch Das Medienkunstprojekt *gel- [ein Gletscherarchiv] wurde realisiert mit der freundlichen Unterstützung vom Fachausschuss Film und Medienkunst BS/ BL und der Ceroni Foundation.

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