ITI Jahrbuch / Yearbook 2017

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FREEDOM AFTER EXPRESSION In Fortsetzung der Beschäftigung mit Europa, seit zwei Jahren unser Projektschwerpunkt, fragen wir in diesem Jahrbuch nach gesellschaftlichen Friktionen und Brüchen, die das Herstellen von Kunst unter zunehmend schwierigere Bedingungen setzen.

Das Verfertigen dieser Schlaglichter hat die Widersprüchlichkeit eines solchen Ansatzes deutlich gemacht. Unsere immer noch weit-

gehend aufgeklärte Öffentlichkeit erwartet freimütige Analysen gesellschaftlicher Wirklichkeiten von Intellektuellen und Künstler*innen – auch und vor allem aus Ländern, die einer offenen Gesellschaft den Kampf angesagt haben. Doch in unseren geschützten Biotopen bieten wir oft viel zu leichtfertig eine Plattform für den offenen, aber auch öffentlichen Diskurs, ohne diejenigen wirklich schützen zu können, die diesen Diskurs im Angesicht der Öffentlichkeit ihrer Länder austragen. Wir laden zu kulturellem Austausch ein, der dazu verpflichtet, nach der kritischen Stellungnahme fristgemäß in die Heimat zurückzukehren. Ist dies bedauerlicherweise der heimische Folterknast, ist die nächste Online-Petition schnell geschrieben. „If we have the freedom of expression – do we have the freedom after expression?“ brachte es der schwedische UN-Menschenrechtsexperte Alfons Karabuda, seinen Kollegen Paul Brickhill, Artists Rights Aktivist aus Harare, Simbabwe zitierend, schon vor drei Jahren auf den Punkt .1

Mitten in der europäischen Einigungseuphorie Anfang der 1990er-Jahre erklärte der französische Arzt und Politikwissenschaftler Jean-

Christophe Rufin 2 die Ideologie des politischen Universalismus und des globalen Ökonomismus für beendet. 1989 wurde, so Rufin, das Ende des Primats der Definition aller lokalen Konfliktlagen als Stellvertreterkonflikte der ,Ersten Welt‘ offensichtlich. Eine ‚Ideologie des Limes’, die er als „Diplomatie der Apartheid im Weltmaßstab“ bezeichnet – und die die Realität einer Festung Europa voraussah – verbannt in Europa die inneren Gefahren und Barbarismen durch den Exorzismus in ein ,Draußen‘, den Globalen Süden. „Die Ideologie des Limes gestattet es dem Norden, der sich wiedervereinigt und als Wahrer der Werte von Demokratie und Recht sieht, zu vergessen, dass der Weg bis zu seinen Idealen noch lang ist.“

Mit dem Blick aus eben jenem Globalen Süden auf eine multipolare Welt stellt der südafrikanische Kulturaktivist und Dramatiker Mike

van Graan in diesem Jahrbuch fest, dass ‚Populismus‘ unter weißen Bürger*innen in Ländern des Globalen Nordens „nur ein Symptom der tieferliegenden ökonomischen, politischen, militärischen, sozialen und kulturellen Brüche [ist], die sich durch unsere heutige Welt ziehen und die in unserer kollektiven Vergangenheit gründen.“

Mehr als verdoppelt hat sich innerhalb eines Jahres die Anzahl der registrierten Angriffe auf die künstlerische Freiheit weltweit, stellt

das Netzwerk Freemuse fest. Dazu gehören Mord, Entführung, Verhaftung, Bedrohung und Zensur. Freemuse-Gründer Ole Reitov hat in einer hier abgedruckten Keynote zum diesjährigen Tag der Pressefreiheit die UNO dringlich aufgefordert, endlich auch in Maßnahmen für den Schutz der Künstler*innen und der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks zu investieren. Eine Forderung, der sich der ITI Weltkongress mit einer einstimmigen Resolution angeschlossen hat.

„Es ist nicht einfach, mit Leuten zu diskutieren, die eine Trillerpfeife im Mund haben“, meint Jan Klata, der im Sommer gefeuerte

Intendant aus Krakau. „Man kann die Stärke eines Landes an der Beschaffenheit seiner Kunst messen. Wenn es eine herausfordernde Kunst gibt, sind die gemeinsamen Werte stark genug, um zu überleben. Es ist hingegen ein Zeichen einer verängstigten nationalen Identität, wenn Leute diese öffentlichen Feste der Zusammengehörigkeit brauchen.“ Und sein Diskussionspartner Senad Halilbasic prognostiziert: „Man braucht beides: eine nationale Mobilisierung künstlerischer Kräfte, aber gleichzeitig den Druck und den Einfluss von außen. Besonders diejenigen, die entscheiden, was Kulturpolitik ist und was nicht, können stark von außen beeinflusst werden, paradoxerweise sehr viel mehr als von innen. Man sollte die Situation sehr ernst nehmen, denn sobald dieses System der Zensur erst einmal funktioniert, werden sie auf niemanden mehr hören.“

Was auch immer wir im Jahrbuch des nächsten Jahres beschreiben und diskutieren werden, der so tiefgreifende wie rasante Wandel

unserer Gesellschaften und ihrer Diskurse wird dem Theater weiter Nahrung geben, solange es als lebendiges Medium der demokratischen Selbstverständigung erhalten bleibt, sich einmischt, provoziert. Dario Fos sarkastische Hoffnung jedenfalls, dass der Weg aus der Bedeutungslosigkeit des Theaters über die große Jagd der Mächtigen auf die Komödianten führen wird, treibt die besten Blüten.

Thomas Engel Direktor

1 UN Human Rights Council Report “The Right to Freedom of Artistic Expression and Creativity” Presentation 34. ITI World Congress

– 17–22 November 2014, Yerevan, Armenia, https://artistsrights.iti-germany.de/news ).

2

Rufin, Jean-Christophe: Das Reich und die Neuen Barbaren, Volk und Welt: Berlin 1993.

JAHRBUCH ITI YEARBOOK EDITORIAL

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