Intro #180

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Musik

Alle reden von Krise, Krise, Krise. Timid Tiger aber wurden von jener sogar noch ins Bett gezerrt. Dabei passt der latent depressive Hyper-Realismus von Krise überhaupt nicht zum Sound, zum Look, zur Ästhetik der fünf Kölner. Zum Glück gibt es ein Leben nach der Pleite. Pop-Prunk überstrahlt Hartz IV, Linus Volkmann hat’s kontrolliert. Foto: Alfred Jansen.

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ann, das war echt eine schwere Zeit. Es stand immer wieder auf der Kippe, ob wir überhaupt weitermachen können. Nach der Pleite von Lado haben wir merken müssen, dass wir absolut nicht alles selbst in der Hand haben. Wir haben damals dann mit vielen anderen Labels gesprochen, aber die Tatsache, dass nicht klar war, inwieweit man uns hätte aus dieser Insolvenzmasse rauskaufen müssen, hat viele ganz einfach auch abgeschreckt.« (Keshav, Sänger bei Timid Tiger) Geschehen war Folgendes: Das Indie-Label mit dem Instant-Star-Appeal, genauer gesagt Lado aus Hamburg, hatte sich nach der erfolgreichen Eigenveröffentlichung »Timid Tiger & The Electric Treasure Box« die Rechte an der Band gesichert. Man haute jene EP noch mal raus (mit dem bis dato größten Hit der Band »Miss Murray«) und ließ ein Album folgen. Und dann ... ja, dann ging Lado eben doch recht überraschend pleite. Die Bands und ihre Rechte saßen erst mal fest. Plötzlich ist man also Insolvenzmasse. Man ist nicht mal selbst der Schuldner, sondern nur noch ein Stück der Trümmer eines anderen, etwas, das nach der ökonomischen Implosion übrig bleibt. Man kann nicht mehr selbst alles absagen, man wird abgesagt, zwei Leute verlassen diese Umstände – also die Band. Keine neue Platte und die Rechte an der alten gehören erst mal dem Wasserwerk, der Telekom oder anderen Subunternehmen in dem pittoresken Säumnis-Netzwerk. Und das Timid Tiger! Das den fünf frisurigen FeelgoodBoys, zu denen es niemals gepasst hätte, hätten sie aus der Not eine Tugend gemacht und plötzlich Ton Steine Scherben oder ähnliche Kritiker des Status quo gecovert. Scheitern als Chance? Nur wenn’s unbedingt sein muss. Aber Scheitern als Thema? Bitte nicht! Denn war das Debüt »& A Pile Of Pipers« schon geschleckter BubblegumIndiepop mit vielen Tricks, ist »And The Electric Island« noch mal zwei Ligen drüber. Für eine deutsche Produktion geradezu obszön stylish, eingängig und clever. Fünf Jahre hat jene neue Platte auf sich warten lassen. Fünf Jahre Zeit, um sich vom GAU zu erholen, sich wieder selbst zu gehören und den nervigen Schrecken abzustreifen. Jetzt aber: Neue Leute gefunden, der Schlagzeuger kann sogar Produzent, ein eigenes Studio steht voll mit eigenem Equipment, vis-à-vis der Bühne im Proberaum befindet sich ein riesiger Spiegel zum Tobenproben, und

Eena Meena Deeka Das Stück findet sich in »Asha« von 1957 und war einer der ersten Popsongs, die aus einem Film heraus in Indien zu universeller Popularität gelangten. Der Ausspruch ist dabei vergleichbar mit dem hierzulande bekannten Kinderabzählreim »ene, mene, muh«.

Scat-Gesang Dezember 1999, also vor etwas über einem Jahrzehnt, verstarb der durch seine Mischung aus Eurodance und Scat-Gesang berühmt gewordene Scatman John. Die Musikrichtung indes ist natürlich älter und tauchte vermutlich erstmals verbrieft auf in den Zwanzigerjahren in einem Stück von Louis Armstrong.

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mit Von Spar nebenan teilt man sich so dies und das, also Netzwerke und Kabel. Zudem konnte man wieder eine Plattenfirma für sich begeistern, die gefälligst der nötige Wind unter den Flügeln der Post-Jugendlichen sein möge und kein Mühlstein um den Hals. 2010 decken sich Sound und Umstände für Timid Tiger also endlich. Und wenn man die Pop-Perfektion und das Ideenschäumende der Platte betrachtet, kann man den stürmischen Zuständen im Krisen-Treibsand sogar Gutes abgewinnen: »Ich bin eigentlich ganz froh, dass das Album heute rauskommt und nicht vor drei Jahren. Ich denke, die Band ist jetzt viel stärker, wir sind zu fünft eine Einheit, alle schreiben die Songs mit – das ist auf jeden Fall das Positive daraus«, sagt Keshav. Wobei einer der rausstechendsten Songs von ihm selbst stammt: »Eena Meena Deeka« erinnert mit dem Binnenreim und der fröhlichen Lautparade sogar ein wenig an »Jungle Drum« von Emiliana Torrini, ist aber eigentlich ein ganz alter Bollywood-Song. Keshva besitzt ja indische Wurzeln, da dürfte der Link leicht herzustellen sein. »Stimmt, ich kenne den Track seit über 20 Jahren und dachte immer, daraus könnte man doch mal was machen. Diese Art zu singen ist übrigens die indische Variante von Scat-­Gesang. Inder gucken ja immer, was ist aktuell in Amerika, und machen dann ihre eigene Version draus.« Clubtaugliche Nummern, die an Hot Chip als Indie-Popper denken lassen, trinkfester Studi-Flatrate-Party-Rock oder eben auch ein indisches Traditional als Frage-Antwort-Song inszeniert – dass all diese leichtfüßigen Abwege derart konzentriert letztlich ein Album, einen Sound ergeben, ist sicher die größte Leistung der Band. Hörbar hat man sich nicht verjammert den Arsch platt gesessen und seine alten Masterbänder verwaltet, sondern im Off geprobt und gekämpft. Und jetzt endlich wieder ins Licht. Verdient hat sich »And The Electric Island« das wahrlich. Liest man dabei die niedlich debilen Albumtitel der Band hintereinander, die ja alles mit einem »and« verbinden, kann man sich zweier Schlussfolgerungen nicht verwehren: a) Timid Tiger hören gerne Hörspiele und denken, sie sind so was wie »Die Fünf Freunde und die geheimnisvolle Ruine« oder »TKKG und das leere Grab im Moor«. b) Timid Tiger arbeiten bei aller poppy Putzigkeit hoch konzeptionell. a) Stimmt, etwas in den Titeln zu führen, das Editionscharakter besitzt und auf expressionistische Jugendabenteuer anspielt, war die Idee von Gitarrist Christian, von der man auch nach der Zäsur nicht lassen wollte, während b) eher nicht mehr haltbar ist. Denn die (damals noch von Klaus Cornfield) gezeichneten Abenteuer eines Comic-Tigers als Corporate Identity hat man ad acta gelegt. »Das war einfach durch – und einfach auch das Konzept des ersten Albums. Das wollten wir nicht noch weiterführen«, sagt Christian. Bloß das bandeigene Tiger-Logo verweist noch auf die ganz stringenten Zeiten. Sonst aber ist man endlich frei und darf wieder machen. Machen, machen, machen. Hey, schön, wenn’s anderen gut geht. Noch schöner, wenn sie sich dabei so anhören wie Timid Tiger. Intro empfiehlt

Timid Tiger And The Electric Island CD // Columbia / Sony / VÖ 26.02. Auf Tour vom 15. bis 29.04.


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