INTERSECTION Magazin Deutschland #8

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oben Einheimische spielen Karten und Jugendliche stehen an einer Bar der estação Adeus (Haltestelle „Lebewohl“) rechte Seite Bewaffnete Panzer und Soldaten bewachen die Bildungseinrichtung ‘Educating For Love’

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m Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spielen 2016 versucht die brasilianische Regierung die berüchtigten Armenviertel von Rio zu befrieden. Bislang waren sie fest in der Hand von Drogengangs, die nun nach und nach aus den sogenannten Favelas, die sich wuchernd über die Hügel Rios ausbreiten, herausgedrängt werden. Die Polizei, die dort vorher kaum Präsenz zeigte, scheint langsam die Kontrolle zurückzuerobern. Abgesehen von den Polizeimaßnahmen greift Rio aber auch stadtplanerisch ein, um einem möglichen Imageschaden durch die Kriminalität in den Favelas vorzubeugen. Die Stadt installierte eine völlig neue Verkehrsanbindung: Im Complexo do Alemão, dem größten Favela-Bezirk, fahren die Bewohner jetzt täglich mit der Teleférico – einer neuen, hochmodernen Seilbahn. Sie verbindet den Gipfel direkt mit dem Stadtzentrum darunter. Anstatt zu Fuß zu laufen oder zum Beispiel einen Motorrad-Kurier zu zahlen, der Besucher durch die verwinkelten und gefährlichen Gassen manövriert, gondeln die Bewohner über sie hinweg und genießen während der Fahrt einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Rondinelli, ein 13-jähriger Favela-Bewohner, bringt es auf den Punkt: „Alter, das ist die abgefahrenste Sache überhaupt.“ Er nutzt die Teleférico begeistert und besucht Freunde auf einem anderen Hügel, immer wieder, mehrmals täglich und sogar in der Nacht. Jede Haltestelle steht auf der Spitze eines Hügels, es ist mit Kunsthandwerk aus der direkten Nachbarschaft geschmückt. Die Haltestellen sind von Barbecue-Grills und Imbissbuden

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umgeben, um den Fahrgästen die Wartezeit zu verkürzen, die Stimmung ist friedlich. Das ist neu, denn häufig liegen die Haltestellen in Gegenden, in die die Polizei vor einem Jahr noch so martialisch und hochgerüstet auftrat, als würde sie ein fremdes Landes erobern wollen. Manchmal, wenn sie erfolgreich waren, hissten sie hoch auf dem Hügel sogar die brasilianische Flagge als Zeichen ihres Sieges. War es bis vor einem guten Jahr noch ein Himmelfahrtskommando, die Favelas als Polizist oder als Fremder zu betreten, so kommt man heute dem Himmel durch die Seilbahn näher – und vielleicht der Verbesserung der Situation in den Favelas. Auf den ersten Blick scheint die hochmoderne, neue Technologie wie ein Widerspruch zu der umliegenden Armut. Sie wirft die Frage auf, ob man das Geld, das in die Teleférico geflossen ist, nicht besser in Gesundheit und Bildung hätte stecken sollen. Doch die Seilbahn zeigt bereits jetzt eine positive Wirkung. Sie scheint eine sinnvolle Investition gewesen zu sein, zumal in Brasilien gerade ohnehin viel Geld verdient wird und Rios Immobilien-Markt boomt. Das Land gilt neben Russland, China und Indien als aufstrebendes Schwellenland, in dem die Wirtschaft in den letzten Jahren besonders schnell gewachsen ist. Die Kosten für das Projekt beliefen sich auf insgesamt 210 Millionen Reasis, was etwas 125 Millionen Dollar entspricht. Die gesamte Anlage hat eine Kapazität von rund 30.000 Fahrten pro Tag in 152 Gondeln, die jeweils sechs Passagiere befördern können. Das sind über 10 Millionen Fahrten pro Jahr, die denjenigen, die die

INTERSECTION nr. 08 2011


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