Jugendjahre der Netzkritik

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theory on demand #2

abgelöst von Hedgefonds und Derivativen, die heutzutage z.B. an den Immobilenmarkt und nicht mehr den IT-Sektor gekoppelt sind. Historisch gesehen war die Zuspitzung der Netzkultur zum Ende des Jahrtausends einmalig, sie endete 2001. Die Geschwindigkeit und Eigendynamik der Geschäfte, die damals gemacht wurden, war so hoch, dass es praktisch gesehen keine Möglichkeiten des Eingriffs mehr gab. Es fand vor allem kritische Geschichtsschreibung statt, welche die Ursachen des Crashs und die vermeintliche Unvorhersagbarkeit zu begründen versuchte. Verzweifelte Rekonstruktionen des Werdegangs bis hin zum Wirtschafts-Krimi. Es war nicht die Netzkritik, sondern klassischer Journalismus, der die Skandale von WorldCom und Enron aufdeckte. Aus den eigenen Reihen kam die Kritik von George Soros. Netzkritik als spezifische Form des kritischen Diskurswissens kann nur auf das Fehlen einer umfassenderen systematischen Analyse hinweisen. Die Perspektive einer generellen Kritik der Finanzmärkte erfordert einen klassischen wirtschaftlichen Hintergrund. Die Berichte der Nettimer Mark Stahlmann, Doug Henwood, Dave Mandl zeigten um 1997 den Bereich der Macht, die Wirtschaftsberater, Unternehmensbuchhalter und Administratoren hatten. Er liefert Anekdoten wie: „Die IT Abteilung von Goldman Sachs wettet auf den eigenen Firmenuntergang und rettet die Firma damit vor dem Bankrott.“ Die organisatorische und administrative Verwaltungskompetenz beschreibt einen eigenen diskursiven Raum, auf den z.B. Bruno Latour hinweist. Die Mangagerklasse der MBA Business Schools hat im Großen und Ganzen die Macht übernommen. Die kleine Ausnahme von 2002-2003 erlaubte wenigen Unternehmern, die Grundlagen für Web 2.0 zu legen. Aus den Ruinen des Dotcom crashs wuchs dann das Google Imperium. Nach einer Phase der Diversifizierung brauchten die Praktiken der Netzkunst, Cyberfeminism, Floss, locative media, Academic Cyber.Theory, Tactical Media Activism keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der langsame Untergang selbständiger Provider wie Public Netbase in Wien oder thing.net in New York ist Teil einer auf 10 Jahre datierbaren freien Netzkultur, 1995-2005. Die kommerzialisierten Alternativen etablierter Netzkultur heißen Rhizome, Craigslist oder Salon.com. Das aufkommende Web 2.0 schließt an diesen Zyklus an. Heutige Communities installieren keine Mailinglisten, sondern bewegen sich innerhalb eines Geflechts vorhandener Webdienste. Größere internationale Zusammenhänge und Diskussionsforen, die über das Interventionistische hinausgehen, gibt es nicht mehr. Der interventionistische Tactical Media Activism à la Yes Men, sowie die Selbstarchivierung sind noch zwei Bereiche mit Entwicklungspotential. VC-Projekte wie YouTube lassen sich aus dem Idealismus des Undergrounds nicht begründen. Maximal möglich sind Projekte wie Pirate Bay, Anhäufungen von Content, wie Pirate Cinema, oder organisierte Gegenöffentlichkeiten wie current.tv und ourmedia.org, doch das social networking Element, welches das konstitutive Element des Web 2.0 ausmacht, fehlt diesen Projekten. Solange Google die Einnahmequelle durch die monopolartige Adwords-Netzsteuer dominiert, können sie weiter die Entwicklung bestimmen. Die auf breiter Basis etablierte digitale Geschenkökonomie und die affektive, unbezahlte Massenarbeit der Nutzer verführen manche daran zu glauben, man hätte es von nun an mit einem ebenso schwerelosen wie reibungslosen digitalen Schlaraffenland zu tun, in dem digitale Waren und Dienstleistungen kostenlos allen zur Verfü-


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