Ge s c h ic h t e
Gedenken in Berlin
FOTO: RALF DOSE
Max Tischler (1876–1919)
Mitwirkende und Teilnehmende an der Grabsteinweihe am 6. Juli 2015 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee Max Tischler war von 1908 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1919, das heißt elf Jahre lang, Vorstandsmitglied im Berliner Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), der ersten Organisation der Welt, die sich für die Straffreiheit der Homosexualität stark machte. Doch selbst in der Forschungsliteratur zum WhK war Tischler bis vor kurzem ein unbeschriebenes Blatt. Erst die Recherchen eines dänischen Historikers brachten auch im deutschen Sprachraum interessierte Forscher auf die Spur des engagierten Arztes. Heute ist zwar nach wie vor wenig über Tischlers homopolitische Positionen bekannt, aber sein Lebensweg und sein privates Umfeld lassen sich nun doch in Teilen rekonstruieren – und nachdem es gelungen war, Tischlers verfallenes Grabmal auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee restaurieren zu lassen, konnte der
schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung am 6. Juli 2015 ein neuer Gedenkort übergeben werden. Eingeladen zu der Feierstunde hatte die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin, die das Grabmal Tischlers ermittelt hatte und mit der Unterstützung befreundeter Spender und Spenderinnen wiedererrichten ließ. Max Tischler wurde am 1. Februar 1876 in Dobrzyca (Provinz Posen) in eine jüdische Familie geboren. Nach dem Studium der Medizin in Berlin und einer mehrjährigen Tätigkeit als Arzt in Wongrowitz (heute Wągrowiec, Polen) legte er 1906 seine Dissertation an der Universität in Leipzig vor. Spätestens zwei Jahre später muss er in Kontakt mit Magnus Hirschfeld (1868–1935) und dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee getreten sein. In der Organisation engagierte er sich in den Folgejahren nachdrück-
lich, zunächst als Schriftführer, dann als Kassenwart und zeitweise auch als Obmann. Doch Anfang 1919 hieß es im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Max Tischler sei „krank aus dem Felde zurückgekehrt“, er bedürfe „äußerster Schonung“. Wenige Monate später, am 20. Juli 1919, verstarb er in (Berlin-)Charlottenburg an einem Lungenödem. Er hinterließ eine Witwe und zwei unmündige Kinder, über deren Verbleib bislang keine Angaben vorliegen. In Würdigung des langjährigen Engagements Max Tischlers hielten seine Mitstreiter im WhK 1919 fest: „Der Entschlafene hat sich allezeit mit großer Hingebung den von ihm übernommenen Pflichten gewidmet. Wir bedauern daher sein frühes Hinscheiden aufs tiefste und werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren.“ Diesem Gedenken
schloss sich die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft im letzten Jahr an, indem sie eine Spendenaktion zur Restaurierung der Grabstätte Max Tischlers ins Leben rief. Während der feierlichen Ansprache am 6. Juli 2015, die durch einfühlsame Worte und liturgische Gesänge von Kantor Jochen Fahlenkamp (Berlin) umrahmt wurde, wurde nicht nur Max Tischlers als eines frühen und mutigen Vorkämpfers für die schwul-lesbische Emanzipation gedacht, sondern auch seiner Familienangehörigen: Sowohl die zwei Brüder als auch die Schwester Tischlers und ihre Ehepartner wurden in der Shoah ermordet, und zweifellos hätte Max Tischler das gleiche Schicksal ereilt, wenn er zur Zeit des Zweiten Weltkriegs noch gelebt und Deutschland nicht rechtzeitig verlassen hätte. RAIMUND WOLFERT
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