Die Suche nach den Ur-Vampiren führt Gemma und ihre Freunde zunächst zu dem weisen, aber rätselhaften Zervan Behruz und später auf eine abenteuerliche Reise quer durch die Wüste. Dabei begegnen sie einer undurchsichtigen Artgenossin, die sich ihnen anschließen möchte. Ist sie womöglich eine Feindin? In Babylon werden die Freunde schließlich mit den mystischen Ursprüngen ihrer Vampirherkunft konfrontiert. Erst Jahre später, nachdem verheerende Katastrophen und ein grausamer Krieg ein neues Zeitalter eingeleitet haben, erhalten sie eine Ahnung davon, wie sehr sich ihr Leben dadurch verändert hat. Wie groß ist die Macht der Ur-Vampire wirklich? Suche nach den Ur-Vampiren ist der vierte Band der Roman-Serie Zeitgenossen. Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden. Die Zeitgenossen im Internet: http://www.zeitgenossen-romane.de/ Als Taschenbuch erhältlich bei Amazon: http://bit.ly/SucheUrVampireTB Als eBook erhältlich bei Amazon: http://bit.ly/SucheUrVampireEBook
HOPE CAVENDISH
BAND IV: SUCHE NACH DEN UR-VAMPIREN
Roman
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Erlaubnis der Autorin möglich. Die Personen und Handlungen im vorliegenden Werk sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Erwähnungen von historischen bzw. realen Ereignissen, realen Personen oder Orten sind rein fiktional. Copyright © 2016 Hope Cavendish Karola Richter, Hans-Sachs-Str. 77, 46236 Bottrop hope@hope-cavendish.de http://www.hope-cavendish.de 1. Auflage Cover: Hope Cavendish unter Verwendung folgender Bildquelle: aboutpixel.de / Man using a laptop in his kitchen © Mark Chambers; Bedouin Chief of Palmyra, Holy Land (Public Domain) from the Detroit Publishing Co., catalogue J foreign section. Detroit, Mich.: Detroit Photographic Company, 1905. ISBN: 1530242894 ISBN-13: 978-1530242894
PROLOG Irgendwann erreichen wir alle einmal ein Alter, in dem wir uns bestimmte Fragen stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Beispiel oder nach dem Ursprung von allem. Da ich ein Vampir war, gab es da schon zweierlei Ursprünge, um die ich mir Gedanken machen konnte. Meine menschliche Abstammung, über die ich als uneheliche Tochter eines englischen Earls und als Adoptivtochter eines Apothekerpaares leidlich informiert war. Was die Herkunft der Menschheit an sich anbelangte, so war ich natürlich mit der Evolutionstheorie vertraut. Aber da gab es ja auch noch meine vampirische Abstammung. Zwar kannte ich Giles, meinen direkten Erschaffer, der sich später als meine große Liebe herausgestellt hat und mit dem ich eine langwährende Beziehung mit vielen Hochs und auch einigen Tiefs führte. Doch es mussten erst ein paar Jahrhunderte vergehen, bis ich mir Gedanken darum machte, welchen gemeinsamen Ursprung wir Vampire als Spezies wohl haben mochten. Ein paar Jahrhunderte! Für ein Menschenleben eine unerreichbare Zeitspanne, für einen unsterblichen Vampir hingegen nicht. Viel zu oft vergaß ich diesen Umstand und ging mit meiner Zeit allzu leichtfertig um. Wenn einer meiner menschlichen Freunde starb, wurde ich dann wieder schmerzlich daran erinnert. Da verwundert es wohl kaum, dass viele Vampire eher Einzelgänger waren oder wir uns lieber Freunde unter unseren Artgenossen suchten. Hierzu zählten bei mir neben Giles auch meine älteste Freundin Maddy mit ihrem Lebensgefährten Miguel sowie Francisco und der Gestaltwandler Fergus. Wir hatten gemeinsam schon so manches Abenteuer erlebt und gegen mächtige Gegner gekämpft, wie beispielsweise die Sybarites, eine skrupellose Vampirsekte, oder die Ritter des Dan. -5-
Die Sybarites hatten einst eine sehr machtvolle Waffe besessen, die Mort-Vivants. Mort-Vivants waren Vampire, die erst nach ihrem menschlichen Tod verwandelt wurden und ihr Biss war für jeden Vampir tödlich. Sie selbst waren jedoch gegen jeden Biss oder jede Waffe immun und zudem ihrem Erschaffer bedingungslos ergeben – und genau das machte sie so gefährlich. Dank eines glücklichen Zufalls waren meine Freunde und ich gleichwohl eines Tages an das Geheimnis der Mort-VivantErschaffung gelangt und dies hatte uns geholfen, die Bedrohung durch die Sybarites vorerst einzudämmen. Die Ritter des Dan hingegen waren fanatische Vampirjäger, die alle Vampire für Ausgeburten der Hölle hielten und unwiderruflich entschlossen waren, uns alle zu vernichten. Sie wussten dabei leider genau, wie sie vorgehen mussten, denn sie benutzten Silberwaffen und Silbermunition. Silber hemmte unsere Selbstheilungskräfte, weshalb Waffen aus diesem Material für uns sehr gefährlich und manchmal sogar tödlich sein konnten. Trotzdem hatten wir uns erst kürzlich in New Orleans auf einen Pakt mit den Rittern des Dan eingelassen und ihnen versprochen, gemeinsam mit ihnen die Sybarites zu bekämpfen. Wir hatten uns dazu entschieden, weil wir durch die Vampirjäger erstmalig von der Existenz der vier Ur-Vampire erfahren hatten. Allem Anschein nach war unsere gesamte Spezies aus diesen vier Ur-Vampiren hervorgegangen und wir hatten Grund zu der Annahme gehabt, dass die Ritter uns mehr darüber berichten konnten. Leider hatte sich später herausgestellt, dass Letzteres nicht stimmte, und die Informationen der Ritter mehr auf fanatischen Lehren denn auf realen Erfahrungsberichten ihrer Vorgänger beruhten. Gleichwohl hatten wir zwei Anhaltspunkte erhalten, die uns bei der Suche nach unseren Ursprüngen weiterhelfen konnten. Der eine war die antike Stadt Babylon, in der die Ur-Vampire erstmalig in Erscheinung getreten sein sollten. Der andere bestand in der Information, dass Giles’ Erschaffer Zervan Behruz, ein alter persischer Vampir, uns -6-
womöglich mehr über die Ur-Vampire erzählen konnte, da es hieß, dass er selbst von einem von ihnen verwandelt worden sein soll. Nachdem es uns gelungen war herauszufinden, dass Behruz sich derzeit in Sofia als Berater am Hofe des bulgarischen Fürsten aufhielt, hatten wir ihn kontaktiert und er hatte uns prompt zu sich eingeladen, um uns unsere Fragen zu beantworten. Damit war die Möglichkeit, doch etwas über unserer aller Ursprung zu erfahren, plötzlich wieder näher gerückt und wir hatten uns sofort auf den Weg gemacht. Denn inzwischen hatten wir Blut geleckt.
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EIN WEISER MANN Vier Tage nachdem wir Zervan Behruz’ Einladung erhalten hatten, nahmen wir den nächstbesten Transatlantikdampfer, der uns nach Europa brachte, das französische Passagierschiff La Lorraine, das nach Le Havre fuhr. Von dort aus ging es mit dem Zug weiter nach Paris, wo wir uns im Hotel Le Meurice einmieteten, um unsere weitere Reise zu planen. Wir buchten telegraphisch eine Unterkunft im Grand Hotel Sofia und reservierten uns drei Schlafwagenabteile im Orient-Express, der vom Pariser Bahnhof Gare de l’Est über Wien, Belgrad, Budapest und Sofia bis nach Konstantinopel fuhr. Der Luxuszug war unter anderem für seine hervorragende Küche bekannt, doch da sich unser Speiseplan erheblich von dem der anderen Reisenden unterschied, wollten wir vor der Abfahrt lieber noch jagen gehen, um während der Reise nicht Durst leiden zu müssen. Der Pariser Stadtwald Forêt du Rouvre hatte uns gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch eine reichhaltige Palette an Wild zur Verfügung gestellt. Doch jetzt schrieben wir das Jahr 1903, der Wald gehörte mittlerweile zum Parkgebiet des Bois de Boulogne und beherbergte kaum noch eine nennenswerte Anzahl an Tieren. Darum unternahmen wir einen nächtlichen Jagd-Ausflug in den nur 31 Meilen entfernten Wald von Fontainebleau, der nach wie vor einen beträchtlichen Wildbestand vorwies. Dieser Ort hatte einstmals in Maddys und meinem Leben eine besondere Rolle gespielt. Deshalb nutzten wir die Gelegenheit, noch kurz den elefantenförmigen Sandsteinfelsen aufzusuchen, an dem wir seinerzeit die Asche von Maddys verstorbenem Mann Alexandre verstreut hatten. Anschließend statteten wir auch dem nahegelegenen Gut Larchant einen heimlichen Besuch ab, das mit Hilfe einer von mir eingerichteten Stiftung nach wie vor als Heim für Waisenkinder geführt -8-
wurde. Selbstverständlich schliefen die Kinder bereits, doch ein Blick durch die Fenster ermöglichte es uns dennoch, uns zu überzeugen, dass es ihnen an nichts zu fehlen schien. Am Pariser Ostbahnhof Gare de l’Est herrschte am nächsten Morgen ein reges Treiben. Und da wir ein wenig spät dran waren, hatte selbst der architekturinteressierte Fergus kaum einen Blick für den klassizistischen Bau und sein beeindruckendes Glasdach über der Haupthalle übrig. Der Orient-Express stand bereits am Gleis. Die Waggons bestanden aus edlem Teakholz – was angesichts der unterschiedlichen Klimaregionen, die der Zug durchfuhr, gut durchdacht war – und waren gemäß ihrer jeweiligen Funktion mit massiven Messinglettern als Speise-, Schlaf- oder Gepäckwagen beschriftet. Viele der Reisenden verabschiedeten sich noch von ihren Angehörigen, während die Kofferträger ihre Koffer in den Gepäckwagen luden. Die Reisegesellschaft sah überaus exquisit aus. Einige sehr mondän gekleidete Damen waren darunter sowie etliche Gentlemen, deren elegantes, aber unauffälliges Äußeres sie als Geschäftsreisende auswies. Ein paar der Herren trugen einen Fes, andere waren anhand ihrer prunkvollen Kaftane und Turbane unschwer als orientalische Würdenträger auf der Heimreise zu erkennen. Schließlich ertönte ein lauter Pfeifton der Dampflokomotive und wir beeilten uns, unsere Abteile aufzusuchen. Die Schlafwagen waren äußerst luxuriös eingerichtet. Alle Wände hatten eine Mahagonitäfelung und waren mit wertvollen Intarsien dekoriert. Die Abteile bestanden je aus zwei weich gepolsterten und mit edlem Seidenbrokat bezogenen Sitzbänken, die sich in der Nacht zu bequemen Betten umbauen ließen, sowie einer angrenzenden kleinen Toilettenkabine mit Waschschrank und eleganten Messingarmaturen. Über den Sitzbänken befanden sich Gepäcknetze aus Messing für das Handgepäck und zwischen den Bänken konnte auf der Fensterseite ein Mahagonitisch ausgeklappt werden. Illuminiert wurde das Abteil am Abend durch einen kleinen Kronleuchter -9-
aus Bleikristall sowie durch Gaslampen an den Wandpaneelen. In jedem Schlafwagen standen drei Schlafwagenschaffner zur Verfügung, die sich zu jeder erdenklichen Zeit um das Wohl der Fahrgäste kümmerten. Verglichen mit meiner Europareise Mitte des 18. Jahrhunderts war das Reisen mittlerweile unglaublich komfortabel geworden. Seinerzeit war ich noch in schlecht gefederten Kutschen unterwegs gewesen, heutzutage reisten wir in einem Luxushotel auf Schienen, das uns mit 32 Meilen in der Stunde voranbeförderte. Der Speisewagen – den wir, um nicht allzu sehr aufzufallen, gelegentlich aufsuchten – war nicht minder erlesen eingerichtet. Die Tische waren mit weißem Damast, edlem Silberbesteck und Kristallgläsern gedeckt und die lederbezogenen Stühle trugen auf den Rückenlehnen verzierte Initialen der Eisenbahngesellschaft Wagons-Lits. Neben der Tatsache, dass uns menschliche Speisen nicht sonderlich mundeten, war das Silberbesteck noch ein weiterer Grund, uns den Speisewagen eher unbeliebt zu machen. Zwar führte das Silber bei uns nur in Wunden zu brennenden Schmerzen und blockierte dort obendrein unsere Selbstheilungskräfte. Doch an der äußeren Haut fühlte es sich dennoch sehr unangenehm an, weswegen Maddy und ich froh waren, dass die derzeitige Mode es vornehmen Damen vorschrieb, in der Öffentlichkeit Glacéhandschuhe zu tragen. Giles, Francisco, Fergus und Miguel hingegen versuchten, die unerquickliche Berührung mit dem kostbaren Besteck ebenso stoisch zu ignorieren wie den für uns unliebsamen Geschmack des Menüs. So exklusiv das Ambiente der einzelnen Waggons auch war, so genossen wir dadurch nicht minder die Reise durch fünf verschiedene europäische Länder. Viele eindrucksvolle Landschaften zogen am Fenster vorbei, und wenn wir nicht solch ein wichtiges Ziel gehabt hätten, hätte ich gerne den einen oder anderen Zwischenhalt für einen längeren Stadtbummel genutzt. - 10 -
Zweieinhalb Tage später erreichten wir schließlich den Hauptbahnhof von Sofia, wo uns Zervan Behruz schon erwartete, um uns zu unserem Hotel zu geleiten. Ich war nicht ganz sicher, wie ich mir den Mann vorgestellt hatte, der Giles einst in einen Vampir verwandelt hatte. Doch erschien mir seine äußere Erscheinung sogleich auf seltsame Weise vertraut. Behruz war mindestens einen Kopf kleiner als Giles und trug einen flachen Turban sowie einen edlen, aber dennoch schlichten Kaftan. Sein olivbraunes Gesicht war durch einige markante Falten, kräftige, graumelierte Augenbrauen und einen ebensolchen Schnurrbart geprägt und strahlte eine freundliche Ruhe aus. Er begrüßte jeden Einzelnen von uns mit einem Händedruck und einem herzlichen Lächeln und es kam sicherlich nicht nur mir so vor, als ob seine großen, schwarzbrauen Augen dabei sofort mein Innerstes erfassten. Als Behruz’ Blick auf den Opalring fiel, den Giles mir geschenkt hatte, vertiefte sich sein Lächeln. »Ein wunderschöner Ring. Mit einer großen Kraft.« Ich runzelte die Stirn. Konnte er ahnen, welche Bedeutung der Ring für mich hatte, da er mit Giles’ Versprechen verknüpft war? »Giles hat ihn mir geschenkt«, erklärte ich daraufhin. Behruz dreht sich zu Giles um. »Ich hätte mir denken können, dass dieser Ring eines Tages in deine Hände fällt«, sagte er rätselhaft. Giles und ich wechselten einen erstaunten Blick. Behruz hatte einige Kutschen organisiert, die uns und unser Gepäck direkt zum Grand Hotel Sofia brachten, damit wir uns zunächst einmal frisch machen konnten. Während der Fahrt bekamen wir bereits einen kurzen Eindruck von der Hauptstadt des bulgarischen Fürstentums und Behruz erklärte uns, dass dieser einst osmanisch geprägte Ort sich immer mehr nach westlichem Vorbild orientierte, etliche neoklassizistische und barocke Gebäude verdrängten offenbar zunehmend die orientalische Architektur. Der Verkehr hingegen schien noch nicht ganz so modern zu sein, denn obwohl unsere Kutschen einmal einer kreuzenden Straßenbahn Vorfahrt gewähren - 11 -
mussten, konnten wir auf den Straßen jedoch noch kein Automobil entdecken. Im Grand Hotel Sofia bezogen wir zunächst unsere feudal eingerichteten Zimmerfluchten und machten uns ein wenig frisch. »Hast du Behruz’ Bemerkung über den Opalring von dir verstanden?«, fragte ich Giles währenddessen. »Ich hatte angenommen, dass du den Ring bei einem Juwelier anfertigen lassen hattest, aber Behruz schien den Ring zu kennen.« Giles kam aus dem Bad und sah mich nachdenklich an. »Der Ring befand sich schon sehr lange in meinem Besitz, aber ich habe keine Ahnung, woher Zervan ihn kennen sollte. Als ich 1196 Damaskus verließ und nach England zurückkehrte, konnte ich mich am Hofe Richard Löwenherz’ ja nicht mehr blicken lassen. Immerhin gab es genügend Zeugen, die mich auf dem Schlachtfeld von Arsuf hatten fallen sehen. Dennoch stattete ich Eleonore von Aquitanien, Richards Mutter, einen Besuch ab. Ich hatte immer ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr gehabt, sie war diejenige gewesen, die mich seinerzeit gebeten hatte, Richard auf dem Kreuzzug zu unterstützen. Und ich war überzeugt davon, dass sie nicht davor erschrecken würde, dass ich immer noch – oder besser gesagt: wieder – lebte. Und so war es dann auch. Sie schenkte mir den Opalring zum Dank für meine Treue zu ihrem Sohn.« »Und weißt du, woher sie ihn hatte?«, fragte ich. »Sie sagte, sie hätte ihn von einem früheren Liebhaber und ich sollte ihn der Frau schenken, in der ich meine Seelengefährtin gefunden hatte. Ich vermute, Geoffrey Plantagenet, der Graf von Anjou war jener Liebhaber, denn die Gerüchte, dass die beiden eine leidenschaftliche Affäre gehabt haben sollen, hatten damals nie so recht verstummen wollen.« »Das erklärt aber nicht, woher Behruz den Ring kennen könnte«, stellte ich grübelnd fest. »Nein«, bestätigte Giles schulterzuckend. »Allerdings gehört es zu Zervans herausragenden Talenten, einen immer - 12 -
wieder mit seinem Wissen über die erstaunlichsten Dinge zu verblüffen. Vielleicht können wir ihn ja bei Gelegenheit mal danach fragen.« Wenig später brach auch schon die Nacht herein und Behruz führte uns in das nahegelegene Witoscha-Gebirge, damit wir dort auf die Jagd gehen konnten. In den Wäldern des Gebirges fanden wir Rothirsche und Rehe ebenso wie Wildschweine, Braunbären und Wölfe vor, so dass wir unseren Durst auf das vortrefflichste stillen konnten. Zervan wartete unterdessen geduldig in einer Lichtung auf uns und ich bemerkte, dass er selbst überhaupt keine Anstalten gemacht hatte, ein Wildtier zu erbeuten. »Sind Sie denn gar nicht durstig?«, fragte ich ihn. »Ich habe meinen Durst bereits vorhin an meiner Dienerin gestillt«, antwortete er freundlich. Daraufhin sah ich ihn ein wenig skeptisch an und er lächelte nachsichtig. »Du fragst dich sicher, ob ich keine Skrupel habe, von Menschen zu trinken. Doch ich kann dir versichern, dass ich dies nur bei denjenigen tue, die sich mir freiwillig zur Verfügung stellen. Keiner von ihnen unterlag je einem Zwang und keiner von ihnen wurde jemals dabei gefährdet.« »Aber dafür müssen Sie diesen Menschen offenbaren, was Sie sind«, gab ich zu bedenken. »Das stimmt«, erklärte Zervan schlicht, «doch diejenigen, die ich zu meinen Spendern erwähle, vertrauen mir ebenso wie ich ihnen.« Ich betrachtete das ruhige und dennoch auch irgendwie rätselhafte Gesicht des alten Mannes vor mir und ahnte, dass er vermutlich großes Geschick darin besaß, Vertrauen aufzubauen. Am nächsten Morgen lud Zervan uns in den Fürstenpalast ein, wo er im zweiten Stock des Westflügels einige Räume zu seiner Verfügung hatte. Seine Position am Fürstenhof war anscheinend nicht unbedeutend, denn er gab uns eine persönliche - 13 -
Führung durch das ganze Gebäude, ohne dass einer der wachhabenden Offiziere sich daran störte. Der Palast war komplett im Second Empire Stil gehalten, eine architektonische Stilrichtung, die – wie Fergus uns erklärte – sich an den Schlössern des französischen Kaisers Napoleon III. orientierte. In der ersten Etage lagen die Gemächer und Büros des Fürsten und der Fürstin. Über die große Freitreppe in der zentralen Säulenhalle gelangte man in den zweiten Stock, wo sich dann der Thronsaal, mehrere Ballsäle, ein weitläufiges Speisezimmer sowie weitere Büros befanden. Zervans Räume unterschieden sich deutlich von der barocken Pracht der übrigen Zimmer. Wenngleich auch sie mit erlesenen Möbeln und Materialien eingerichtet waren, so wiesen die schweren Vorhänge, Teppiche und gemütlichen Sitzkissen doch unverkennbar auf die orientalische Herkunft ihres Besitzers hin. Zervan bat uns, Platz zu nehmen, und wies einen Diener an, dafür zu sorgen, dass wir in den nächsten Stunden ungestört blieben. Angesichts der behaglichen Umgebung fiel es uns nicht schwer, Zervans Aufforderung Folge zu leisten, uns wie zuhause zu fühlen. »Du scheinst hier im Palast einen gewissen Einfluss zu haben«, stellte Giles sogleich mit einem leichten Schmunzeln fest. »Aber das war ja damals am Hofe Sultan Saladins auch schon nicht anders.« »Am Anfang hat mich Fürst Ferdinand nur geduldet, weil er wusste, dass ich im Auftrag der Hohen Pforte ein Auge auf ihn haben sollte«, berichtete Zervan lächelnd. Die Hohe Pforte war eine Umschreibung für den Sultanspalast in Konstantinopel, also den Sitz der osmanischen Regierung, und es wunderte mich etwas, dass Behruz sich für deren Interessen einspannen ließ. Doch als er fortfuhr, begriff ich, dass offensichtlich eher das Gegenteil der Fall war. »Bulgarien ist dem Osmanischen Reich bis heute tributpflichtig, doch der Fürst wäre natürlich lieber unabhängig, weshalb er auch eine Annäherung an das Russische Reich - 14 -
sucht, in der Hoffnung, vom Zaren unterstützt zu werden«, erklärte Zervan. »Die Hohe Pforte wünscht, dass ich diese Bestrebungen des Fürsten unterbinde, doch ich denke, jedes Volk und jedes Wesen sollte seinen eigenen Weg gehen dürfen. Daher helfe ich ihm, herauszufinden, welches der richtige Weg für ihn ist.« Giles lächelte. »Wenn ich mich recht entsinne, bist du ebenso verfahren, als ich seinerzeit dein Schützling war. Wie schaffst du es nur, dir über so viele Jahnhunderte hinweg treu zu bleiben?« »Nichts in der Welt ist schwierig, es sind nur unsere Gedanken, welche den Dingen diesen Anschein geben«, antwortete Behruz. Giles lachte auf. »Mit deinen rätselhaften Weisheiten hast du mir schon damals so manches Mal Kopfzerbrechen bereitet.« »Wenn man so lange lebt wie wir, bekommen die Dinge eine andere Bedeutung«, erwiderte Zervan lächelnd. Er blickte in die Runde. »Ihr alle habt dies inzwischen festgestellt. Ihr habt immer noch Wünsche, Ziele und Träume, doch ihr geht anders damit um als ein sterbliches Wesen. Das ist nur natürlich. Und euer nächstes Ziel ist es, etwas über euren Ursprung zu erfahren.« »Woher wissen Sie das?«, fragte ich unverwandt. Giles hatte mich ja bereits auf Zervans erstaunliche Intuition hingewiesen, aber dennoch war ich überrascht, dass er unsere Absichten so genau durchschaute. »Möchte nicht jedes Wesen seine Wurzeln kennen?«, entgegnete Zervan freundlich. »Irgendwann kommt jeder in seinem Leben mal an einen Punkt, an dem er mehr über seine Herkunft zu erfahren begehrt. Und da ihr nun hier bei mir seid, werdet ihr wohl herausgefunden haben, dass ich euch in dieser Hinsicht weiterhelfen kann.« »Also ist es wahr?«, hakte Giles nach. »Du wurdest von einem Ur-Vampir erschaffen?« - 15 -
Zervan nickte. »Sie hieß Gula. Und sie war eine der ersten unserer Art.« Ich beugte mich gespannt vor. »Es gab vier von ihnen, nicht wahr? Vier Ur-Vampire.« Zervan schaute mich amüsiert an. »Oh, es gibt sie noch, mein Kind.«
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ENDE DER LESEPROBE Die Zeitgenossen im Internet: http://www.zeitgenossen-romane.de/ Als Taschenbuch erh채ltlich bei Amazon: http://bit.ly/SucheUrVampireTB Als eBook erh채ltlich bei Amazon: http://bit.ly/SucheUrVampireEBook
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