Hausarzt 06/2021

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Hausarzt politisch

Wege durch Österreichs Gesundheitssystem Drei Experten geben richtungsweisende Tipps Unbestritten ist, dass das Gesundheitssystem Österreichs zu den besten der Welt zählt. Es ermöglicht Personen aus allen Altersklassen und allen sozialen Schichten einen niederschwelligen und freien Zugang zu Gesundheits- und Vorsorgeleistungen. Hat es in der Vergangenheit immer wieder Kritik an zu hohen Gesundheitsausgaben oder Zahlen von Patientenbetten gegeben, so hat die COVID-19-Pandemie vieles relativiert. Ein weiterer Streitpunkt ist immer wieder das Verhältnis zwischen den Ausgaben für den niedergelassenen Bereich sowie jenen für den stationären Bereich. Wochen- bis monatelange Wartezeiten bei den niedergelassenen Ärzten treiben die Patienten in die teuren Spitalsambulanzen, wodurch die Wege zu einer Behandlung oftmals kompliziert und mühselig werden. Hinzu kommt, dass derzeit viele Patienten aus Angst vor Corona auf notwendige Vorsorge- und Nachsorgeuntersuchungen verzichten. Die HAUSARZT-Redaktion begab sich auf Spurensuche und sprach mit bedeutenden Persönlichkeiten, um zu erläutern, was ein effizientes, finanzierbares Gesundheitssystem braucht, damit eine optimale Patientenversorgung garantiert werden kann. Als Interviewpartner fungierten Univ.Prof. Dr. Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien, Dr. Gerald Bachinger, Patientenanwalt in Niederösterreich, sowie Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich. HAUSARZT: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in puncto Praktikabilität und Serviceorientie­ rung unseres Gesundheitssystems? PROF. MARKUS MÜLLER (MM): Wir haben in der Medizin zwei Megatrends – die Digitalisierung und die Ökonomisierung. Neue Technologien und digitale Instrumente ermöglichen

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es den Ärzten, sich wieder mehr den Patienten zuzuwenden, außerdem steht mehr Zeit für die Arzt-PatientenInteraktion zur Verfügung. Bezüglich der Ökonomisierung wird die Medizin, speziell die Biomedizin, künftig einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor darstellen. Gerade Österreich bietet sich nicht nur dazu an, Innovationen zu konsumieren, sondern auch dazu, sich als Standort zu präsentieren und zu etablieren, an dem Innovationen generiert werden können. Letztendlich steigt auch die Wertschöpfung. Dafür sind zudem strukturelle Änderungen notwendig – es gilt, Ressourcen, Daten und Organisationsformen zu harmonisieren. DR. GERALD BACHINGER (GB): Unser Gesundheitssystem ist sehr kleinteilig und sektoral abgegrenzt aufgebaut. Es ist daher schwierig, die Anforderungen von integrierter Versorgung, durchgehenden Behandlungspfaden und durchgehenden Servicelevels zu erfüllen. Dazu kommt, dass es ausgeprägte berufsständisch abgegrenzte Bereiche der Gesundheitsdienstleister gibt, die eine Kooperation und Vernetzung erschweren. Es wird eine weitere große Herausforderung sein, die isolierten Datensilos der Gesundheitsdaten von Patienten zu vernetzen und so dieses Potential für Qualitätsverbesserungen zu nutzen. Die größte Herausforderung liegt darin, das bestehende Finanzierungssystem umzustellen, sowohl im niedergelassenen Bereich als auch im stationären Bereich. Bei der Finanzierung gibt es bekanntlich sehr viele Geldströme und eine ausgeprägte Intransparenz. Grundsätzlich ist das Finanzierungssystem dual. Das bedeutet, dass der niedergelassene Bereich von den Krankenkassen (Sozialversicherungsbeiträge der Bürger) und der stationäre Bereich durch eine Mischform aus Sozialversicherungsbeiträgen, Steuern und Beiträgen der Länder finanziert wird. Derzeit wird vor allem das Volumen, aber nicht die Qualität gefördert.

Das Ziel ist ein Finanzierungssystem, das den Wert, also den Patientennutzen, fokussiert. Als aktuelles Beispiel für die holprige Versorgung in Österreich sind die Organisation und die Durchführung der Covid-Impfungen zu nennen. PROF. BERNHARD RUPP (BR): Zu den größten Herausforderungen zählt die funktionale Trennung von niedergelassenem Bereich und Krankenhaussektor mit unterschiedlichen Qualitätsansprüchen und Finanzierungsanreizen, die oftmals die Patienten nicht in den Mittelpunkt stellen. Österreich hat eine international einzigartige Mischfinanzierung

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