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Mensch und Aufbruch
Von Krise und Veränderung, Widersprüchlichkeit und Wahrhaftigkeit – Ab-, Um- und Aufbruch von Matthias Zimmermann „Wir brechen auf“. Dieser Satz klingt wie ein Signal. Freunden des guten alten Westernfilms ist damit klar: John Wayne, Clint Eastwood oder welch ein Cowboyheld auch immer schwingt sich in den Sattel und reitet voran, meist der untergehenden Sonne entgegen, nach Westen eben, Richtung unbekanntes Land. Der „Aufbruch“ – Zeichen für einen ebenso hoffnungswie sorgenvollen Start in ein besseres Leben, reich an Chancen und Gefahren gleichermaßen. Der Abschied tränenreich, eine Rückkehr ungewiss, vielleicht auch gar nicht gewollt. Ein Bruch mit dem Alten – auf zu Neuem. Alles andere ist nur ein Ausflug: frei und unbeschwert, der Spannungsgrad überschaubar, die Rückkehr ins traute Heim voller Gewissheiten so sicher wie das Amen in der Kirche. Ein Aufbruch jedoch ist eine echte Veränderung: das Überwinden alter Gewohnheiten, ein Heraustreten aus beherrschbarer Überschaubarkeit und der Sieg über eine Trägheit, die Individuen und Gesellschaft bei Althergebrachtem und Altbewährtem verharren lässt. Instabilität und Veränderung aber sind grundlegende Kennzeichen der Natur – und daher auch typisch für uns Menschen. Manchmal gehen diese Veränderungen mit Brüchen einher: der Abbruch ganzer Lebensentwürfe oder Beziehungen. Gebrochen wird oft auch mit Einstellungen, Haltungen und Denkweisen. Beständiges, das Orientierung gibt, ist plötzlich weg. Ein
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solcher Bruch verunsichert nicht nur die eigene Persönlichkeit. Brüche durchziehen auch ganze Gesellschaften und begründen bisweilen neue historische Epochen, die im Nachhinein als solche definiert werden. Sie machen etablierte Individuen und Gesellschaften zu Suchenden. Das Alte ist nicht mehr. Das Neue ist noch nicht da! Ob sich die Zeit, in der wir heute leben, irgendwann als epochaler Bruch beschreiben lässt, wird die Nachwelt zeigen. Anthropozän, Postindustrialismus, Spätmoderne, Informations- oder Wissens-, Computer- oder Digitalzeitalter – alles Begriffe, die sich in einer Zeit wie dieser mit Inhalt füllen. Klaus Töpfer sagt im politischen Fragebogen in DIE ZEIT (Nr. 34 / 2020, S. 36): Corona hat in fünf Monaten die Labilität der Systeme, die unser Leben tragen, schonungslos offengelegt. Sie zeigt uns, dass Politik sich nicht in der Kunst des Machbaren erschöpfen darf. Vielmehr muss sie hart daran arbeiten, die Wahrheit wahrnehmbar und das Notwendige mehrheitsfähig zu machen. Für den Einzelnen stellen sich die Fragen: Was ist wahr und was ist die Folge daraus? Was ist für mich nicht nur notwendig, sondern wünschenswert? Wie begegne ich Veränderungen, wie reift der Wunsch nach Veränderung in mir und wie wecke ich die Kraft, Veränderungen zu gestalten und zu einem echten Aufbruch werden zu lassen?