Die Gräber schweigen - von Johann Steiner

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Berufslebens. Mittlerweile war ich 25 Jahre alt, ein anderer Weg musste gefunden werden. Ich hatte schon wieder eine Idee. 1969 war meine Tante überraschenderweise nach Deutschland übersiedelt. Sie war zusammen mit meinen Eltern im Arbeitslager in der Ukraine und hatte seit meiner Geburt eine innige Beziehung zu mir, die heute noch besteht. Als Kind und Jugendlicher verbrachte ich stets einen Teil der Sommerferien bei ihr in Temeswar. Sie behandelte mich wie ihr eigenes Kind. Auch nach ihrer Ausreise riss der Kontakt zu ihr nicht ab. Im Sommer 1976 hatte sie zu einem Familientreffen am Schwarzen Meer eingeladen. Von Deutschland aus reservierte sie die nötigen Zimmer, und alle freuten sich aufs Wiedersehen. So ein Urlaub, und dazu noch kostenlos, war allen willkommen. Die geplante Scheinheirat platzt Dieses Treffen wollte ich nutzen, um eine andere Möglichkeit zu finden, das Land zu verlassen. In einem vertraulichen Gespräch schilderte ich ihr unter Tränen meine Verzweiflung, die sie auch verstand. „Wie kann ich dir helfen?“ hat sie gefragt. „Ich habe einen Plan“, sagte ich. „Suche eine junge Frau, die bereit wäre, für einen gewissen Geldbetrag mit mir eine Scheinehe einzugehen.“ Sie musste nicht lange nachdenken, dann sagte sie: „Ich kenne eine junge Frau, mit der werde ich sprechen“. Es war eine Nachbarin, die alle Voraussetzungen dafür erfüllte. Ledig, ungebunden und bedürftig. Voller Hoffnung genoss ich die weiteren Urlaubstage und verbrachte einige Zeit mit meiner alten Beschäftigung, dem Devisenhandel. Diesmal lief ich nicht Gefahr, erwischt zu werden, da meine Tante das Geld aufbewahrte. Meine letzten Worte beim Abschied waren: „Vergeis mich nicht, hol’ mich hier raus“. Es dauerte nicht lange, und der erste Brief kam mit der positiven Nachricht, dass Monika bereit sei, mir zu helfen. Um kein Aufsehen bei der Securitate zu erregen - die Briefe wurden zensiert -, hatten wir vereinbart, nichts Auffälliges zu schreiben. Brisante Nachrichten wurden von Besuchern aus dem Westen über die Grenze geschmuggelt. Ich stellte einen Antrag auf Heiratsgenehmigung. Die Prozedur war sehr kompliziert, und es dauerte fast ein halbes Jahr, bis alles erledigt war. Ich arbeitete im Dreischichtbetrieb in der Firma „Elektromotor“ und versuchte, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Es gab täglich neue Nachrichten über Freunde oder Bekannte, die eine Ausreisegenehmigung erhielten, oder Personen, denen die Flucht in den Westen gelungen war. Aber auch Nachrichten über Gefangennahmen oder Erschießungen an der Grenze waren nicht selten. Einen Arbeitskollegen, dem die Flucht nach Jugoslawien gelungen war, haben die Serben nach einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe zurückgeschickt. Nach der Auslieferung haben Grenzsoldaten ihn krankenhausreif geschlagen, nach seiner Genesung übernahm ihn die Securitate. Im Keller der

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Articles inside

Beim Fluchtversuch die Beine verloren

3min
pages 277-279

Glückssträhne

7min
pages 297-300

Plötzlich Herr und Millionär

12min
pages 291-296

Prügelnde Aufseher im Werschetzer Gefängnis

14min
pages 284-290

Lagerfeuer im Grenzerstützpunkt

7min
pages 280-283

Schwere Entscheidung, schwerer Weg

9min
pages 268-272

Von Grenzübergang zu Grenzübergang

27min
pages 255-267

Mit zwei Kleinkindern über die Donau

7min
pages 273-276

Halluzination in der Strommitte

21min
pages 244-254

Mehr Glück als Verstand

9min
pages 239-243

Mit dem Kopf durch die Wand

45min
pages 218-238

Schwimmend in die Freiheit

2hr
pages 156-213

Auf Baumstämmen über die Schlucht

6min
pages 214-217

Im lecken Schlauchboot über die Donau

37min
pages 138-155

Mit der Bega nach Serbien

15min
pages 130-137

Tod im Tankwagen

2min
pages 128-129

Die Lichter von Kikinda vor Augen

6min
pages 124-127

Tschechen als Fluchthelfer

14min
pages 116-123

Dornenreicher Weg in die Freiheit

1hr
pages 79-115

Flucht aus Titos Lager

41min
pages 38-56

Der geldgierige Schaffner

20min
pages 69-78

Anderthalb Jahre gefangen in Jugoslawien

4min
pages 66-68

Fluchthelfer aus Wien

8min
pages 57-61

Das Vernichtungslager Rudolfsgnad

7min
pages 62-65

Einleitung

1hr
pages 7-37

Vorwort

2min
pages 5-6
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