Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik
Ausgabe 1/2012 . Heft 64 . 3,50 €
Schulalltag in der DDR
Der „Rosenkeller“ im Griff der Stasi – Letzter Teil Neue MDR-Intendantin – Karola Wille und ihre DDR-Vergangenheit Autoritär und gewalttätig – Die geistigen Wurzeln des Neonazismus
Pioniertreffen 1961 in Erfurt; Quelle: ThHStA Weimar (FDGB-Fotosammlung)
Mischa Kugelrund Ich liebe den Mischa Kugelrund, der lustige Späße macht. Den hat mir Iwan aus Leningrad als Geschenk gebracht. Ich grüße die Kinder im Sowjetland. Unsere Freundschaft ist fest. Ich reich allen Kindern der Welt die Hand, in Ost, Nord, Süd und West. Helmut Preißler
Gesetze der Thälmannpioniere; Zentralrat der FDJ, Abteilung Junge Pioniere/Organisationsleben (Hg.): Statut der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“. Gedicht „Mischa Kugelrund“ von Helmut Preißler, aus: Heimatkunde. Lehrbuch für die Klasse 3, Berlin: Volk und Wissen, 1984, S. 56.
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser, es ist bereits Juni und Sie halten die erste Ausgabe des Jahres 2012 in den Händen. Die Verspätung möchten wir entschuldigen und mit der Hoffnung auf eine weiterhin treue und kritische Leserschaft verbinden. Das vorliegende Heft markiert in mehrfacher Hinsicht einen Neubeginn, was die Verzögerung erklären mag. Ins Auge fällt die graphische Neugestaltung: Die Gerbergasse 18 erscheint künftig vollfarbig und mit zehn Seiten mehr Inhalt. Bei Katharina Hertel aus Weimar, die unsere Zeitschrift seit der ersten Nummer im Jahr 1996 kontinuierlich gestaltete, möchten wir uns hiermit nochmals herzlich bedanken. Ab dieser Heftnummer bringt Sonja Kalmanfi aus Jena ihre Ideen für die Gestaltung und Illustration der Zeitschrift ein. Zum Zweiten hat Dr. Henning Pietzsch im Mai die Stelle als stellvertretender Direktor der Point-Alpha-Stiftung (Geisa) angetreten, wozu wir ihm herzlich gratulieren. In einem ausführlichen Gespräch zieht er eine vorläufige Bilanz zum Stand der „Aufarbeitung“ in Thüringen. Wir verbinden unser Bedauern über seinen Weggang mit einem herzlichen Dank für seine stets mit Leidenschaft verbundene Arbeit in der Geschichtswerkstatt Jena. Wir wünschen ihm für seine neue Aufgabe und seinen weiteren Lebensweg alles erdenklich Gute. Dieses Heft wurde deswegen schon wesentlich von Maria Palme und Daniel Börner redaktionell betreut. Auch in der Struktur des Vereins vollzieht sich eine bereits länger angedachte Veränderung: Zur Mitgliederversammlung der Geschichtswerkstatt Ende Juni werden Jürgen Haschke und Detlef Himmelreich als Vorstand nicht wieder antreten. Kandidieren werden jüngere Mitglieder – Wissenschaftler und Engagierte –, die die Geschicke des Vereins zukünftig übernehmen möchten und sich Ihnen in der zweiten Ausgabe 2012 vorstellen werden. Und dann gibt es noch eine pekuniäre Neuigkeit: Das Einzelheft wird wegen des Farbdrucks und des erweiteren Umfangs zukünftig um einen Euro teurer sein als bisher. Unsere Abonnenten erhalten die vier Hefte pro Jahr aber zukünftig weiter für 12 Euro (inklusive Versandkosten). Da es in diesem Jahr nur drei Hefte sein werden, reduziert sich der Abo-Preis für 2012 auf neun Euro. Neben dem breit gefächerten Heftschwerpunkt zum Schulalltag in der DDR liefern die Rubriken Zeitgeschichte und Zeitgeschehen wiederum Bezüge und Positionen zu aktuellen Debatten und Streitfragen. Heinz Voigt beschließt seine Artikelserie zum „Rosenkeller“ mit Thesen zur tatsächlichen Unterwanderung der „studentischen Freizeit“. Wir – die Geschichtswerkstatt Jena e.V. und die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen – hoffen, dass die Gerbergasse 18 ein Medium der Information und Diskussion zur Diktaturgeschichte Thüringens und darüber hinaus bleibt. Wir danken Ihnen deshalb sehr für die zahlreichen Zuschriften, Nachfragen, Kommentare sowie die stets notwendige Kritik, die uns während der Redaktion am Heft 64 begleitet und angespornt hat. Bitte schreiben Sie uns, wie Ihnen die Neugestaltung gefällt. Maria Palme, Geschichtswerkstatt Jena e.V. Hildigund Neubert, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen
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Inhalt
TITELTHEMA Schulalltag in der DDR 05 Marco Stritzinger – Einblicke in Jenaer Schulakten Handlungs- und Disziplinierungsoptionen im sozialistischen Schulalltag 11 Ulrich Wiegmann – „Stasi auf dem Schulhof“? Zum Verhältnis von Schule und Staatssicherheit 14 Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte Interview mit Johanna Stader zum Film „Der Verrat“ 16 Lars Knopke – Schulbücher als Herrschaftsinstrumente der SED Politische Instrumentalisierung am Beispiel des DDR-Schulwesens 20 Feuerzangenbowle und schreiende Ungerechtigkeiten Interview mit Rüdiger Schütz (Direktor der IGS „Grete Unrein“) 22 Gedichte zur Wahlberichtsversammlung Ein „besonderes Vorkommnis“ aus dem Schuljahr 1987 23 Martin Morgner – Lernen, Lernen, nochmals lernen Bemerkungen zu den neuerlichen Erinnerungen einer ehemaligen Ministerin für Volksbildung 26 „Die Todesliste wird Jahr für Jahr länger“ Interview mit Ines Geipel (Autorin/ehem. Leistungssportlerin) 28 Heinz Voigt – Unterwürfiger Ton an der EOS „Johannes R. Becher“ Wie in den 1970er Jahren Schüler diszipliniert wurden ZEITGESCHICHTE 32 Hildigund Neubert – Autoritär und gewalttätig Die geistigen Wurzeln des Neonazismus in der späten DDR 37 Ralf Wüstenberg – Versöhnung statt Aufarbeitung? Südafrikanische und deutsche Vergangenheitsbewältigung im Vergleich ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION 40 Thomas Purschke – Die neue MDR-Intendantin Karola Wille und ihre Vergangenheit 43 Manfred May – Entschädigungsfonds für ehemalige Heimkinder eingerichtet 44 Ehrhart Neubert – Freiheit keine Floskel – Zur Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten 45 Maria Palme – Die DDR-Vergangenheit im historischen Deutungskampf 46 Rückblick auf fünf Jahre als Redakteur der „Gerbergasse 18“ und aktuelle Fragen zur Geschichtsvermittlung – Ein Interview mit Dr. Henning Pietzsch GESCHICHTE(N) AUS DER REGION 48 Heinz Voigt – Der Studentenclub „Rosenkeller“ im Griff der Stasi Schnüffeln im Gewölbe – 4. und letzter Teil 50 REZENSIONEN Gottfried Meinhold – Schießbefehl und Kakerlaken (Roland Mey) Marco Stritzinger – „Kurzer Prozess. Eine Seefahrt in den Stasiknast“ (Andreas Kuno Richter) Torsten W. Müller – Vatikanische Ostpolitik und die DDR (Roland Cerny-Werner) Thomas Purschke – „UdF“ und Transit (Cornelia Klauß/Frank Böttcher und Jörg Kuhbandner/Jan Oelkner) 54 Impressum / Hinweise
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Titelthema
Einblicke in Jenaer Schulakten – Handlungs- und Disziplinierungsoptionen im sozialistischen Schulalltag „Es muss unsere Aufgabe sein, noch besser in die Köpfe der Kollegen zu schauen, von ihnen Standpunkte zu verlangen und ihre Haltung in der Umsetzung [zu] kontrollieren.“ 1 Mit diesen Worten endet die Stellungnahme eines Schuldirektors zum Antrag einer Kollegin auf Ausreise aus der DDR, gesendet an den Stadtschulrat von Jena am 3. September 1986. Dieser Satz gibt zugleich einen Einblick in den Alltag des sozialistischen Bildungssystems. Die Aufmerksamkeit der staatlichen Organe galt nicht nur den Schülern, die zu „allseitig und harmonisch entwickelten sozialistischen Persönlichkeiten“2 gebildet und erzogen werden sollten, sondern auch den „pädagogischen Kräften“ selbst. Ebenso bezeugt die Stellungnahme die These von der „durchherrschten Gesellschaft“3 in der DDR. Demnach verstand sich die auf die Lehre des Marxismus-Leninismus stützende Partei- und Staatsführung nicht nur als die weitreichende Gestaltungskraft des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Sie versuchte, alle Ebenen der Gesellschaft zentral zu steuern und zu kontrollieren. Zum Zweck der politischen Steuerung, Kontrolle und Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche bestand daher ein ausgedehnter, zentral gelenkter hierarchischer Herrschafts- und Verwaltungsapparat, der SED und Staatsorgane auf das engste miteinander verzahnte und der die eigene politische Stellung wie die Herrschaft über die Gesellschaft insgesamt sichern sollte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie weit die Durchdringung des sozialistischen Bildungssystems in der Praxis des Schulalltages tatsächlich reichte. Welche Handlungsmöglichkeiten und -spielräume hatten Lehrkräfte, und welche Disziplinarmaßnahmen wurden bei Konflikten mit politischem Charakter gegen sie und die Schüler ergriffen? Zur Beantwortung dieser Fragen wurden Akten der Abteilung Volksbildung der Stadt Jena zwischen 1978 und 1989, ausgenommen das Jahr 19854, herangezogen und untersucht. Dieser Bestand dokumentiert Meldungen von Schuldirektoren, Schriftwechsel zwischen Schulen und dem Jenaer Schulamt sowie schriftliche Stellungnahmen von Leh-
Namensgebung der POS „Bertolt Brecht“ (1973), Foto: Stadtarchiv Jena
rern, Eltern und Schülern zu folgenden Vorkommnissen: - Verbreitung faschistischen, revanchistischen und chauvinistischen Gedankengutes; - Tätlichkeiten und Morddrohungen; - Rowdytum und Angriffe zur Beseitigung der DDR; - Arbeitsniederlegungen, Fernbleiben einer größeren Anzahl von Schülern vom Unterricht; - Katastrophen, Havarien, Zerstörungen; - tödliche Unfälle während der Arbeitsund Schulzeit, auf dem Schulweg sowie Massenerkrankungen; - „konzentrierte“ Austritte aus Partei und Gewerkschaft, Tendenzen der Formierung einer neuen Gewerkschaft; - Rücktritte von Schulfunktionären und Direktoren.5 Am Beispiel ausgewählter Disziplinarvorfälle werden nach einer kurzen Einführung in die Grundlagen des so-
zialistischen Bildungssystems Handlungsoptionen pädagogischer Kräfte im sozialistischen Schulalltag beschrieben sowie Maßnahmen der Disziplinierung aufgezeigt. Struktur des Bildungssystems und gesetzliche Rahmenbedingungen An der Spitze des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems stand das Ministerium für Volksbildung unter der Leitung von Margot Honecker.6 In den Aufgabenbereich des Ministeriums fielen sowohl Grundsatzentscheidungen, die Erarbeitung von Vorschriften wie etwa das Bildungsgesetz und die Lehrpläne, die Ausbildung sowie Vergütung von Lehrkräften als auch die proportionale Entwicklung der Bildungseinrichtungen zum Perspektivplan der Volkswirtschaft.7 Das pädagogische Ziel war die „Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten“.
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Einblick in Jenaer Schulakten – Handlungs- und Disziplinierungsoptionen im sozialistischen Schulalltag
Merkmale zur Herausbildung einer sozialistischen Persönlichkeit waren eine hohe Allgemeinbildung, Heimatliebe, Verteidigungsbereitschaft, sozialistischer Internationalismus, Liebe zur Arbeit und Liebe zum Kollektiv sowie weitere sekundäre Tugenden wie Fleiß und Disziplin.8 Das Herausbilden dieser Merkmale sollte vor allem in Schulfächern wie Staatsbürgerkunde, ab 1978 Wehrkunde und dem polytechnischen Unterricht stattfinden. Mitverantwortung innerhalb des Schulbetriebes als ein wichtiger Beitrag zur kommunistischen Erziehung leisteten hierbei auch die FDJ und die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“.9 Ganz im Sinne der Partei- und Staatsführung fand innerhalb der Schulen eine von der SED gelenkte staatliche Erziehung zum Kollektiv durch das Kollektiv statt. Seit 1958 wurden alternative Bildungs- und Freizeitangebote gezielt zurückgedrängt, so dass der Staat das Bildungsmonopol innehatte und die Schule zum politischen Instrument der SED wurde.10 Daher kann das Bildungssystem der DDR als „durchherrschter“ Teil der Gesellschaft bezeichnet werden. Die Funktion der Lehrerinnen und Lehrer war im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem festgelegt: „Die Lehrkräfte aller Bildungseinrichtungen tragen eine hohe Verantwortung für die Erfüllung der Ziele und Aufgaben des sozialistischen Bildungssystems. Das erfordert von ihnen umfassendes Wissen und Können sowie ein vorbildliches sozialistisches Verhalten.“11 Diese eher allgemeine Formulierung wurde mit der Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte konkretisiert: „Es ist Aufgabe der Pädagogen, die Kinder, Schüler, Lehrlinge und Werktätigen in der Erwachsenenbildung zu guten Staatsbürgern, zu Patrioten ihres sozialistischen Vaterlandes und zu proletarischen Internationalisten zu erziehen. Die Pädagogen orientieren sich in ihrer Bildungs- und Erziehungsarbeit am Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Sie leisten ihre Arbeit auf der Grundlage der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik sowie der Gesetze und anderen Rechtsvorschriften und müssen in ihrem gesellschaftlichen und persönlichen Leben der jungen Generation stets Vorbild sein.“12 Die wesentliche Aufgabe der Pädagogen bestand folglich darin, die sozialistischen Persönlichkeitsmerkmale im Schulalltag selbst vorzuleben
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sowie den Bildungs- und Erziehungsauftrag der SED zu erfüllen. In einer solchen Umgebung gab es keinen Platz für Verhaltensweisen jenseits der „sozialistischen Norm“. Eine wichtige Rolle im Schulalltag spielten die Klassenleiter. Ihre Aufgabe war es, als Schaltstelle zwischen Schülern, Fachlehrern, Direktor, Kinder- und Jugendorganisation, Eltern und Betrieb zu fungieren sowie Gesamteinschätzungen und Verhaltenszensierungen der Schüler vorzunehmen.13 Die Schule als Erziehungsraum und Bildungsapparat der SED wirkte bis in die Elternhäuser und Betriebe hinein. Staatliche Erwartungen und Forderungen zur Erziehung und Bildung wurden an die Eltern weitergegeben, an sie herangetragen, um sie auf diese Weise bei der sozialistischen Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Bei einem Fehlverhalten der Schüler hinsichtlich dieser Erwartungen kam es nicht selten zur Kontaktaufnahme mit der Arbeitsstelle der Eltern, dem Betrieb, um diese von den erwarteten Handlungsweisen in Kenntnis zu setzen bzw. um sie und ihre Kinder über diesen Weg zu disziplinieren.14 Das Bildungssystem der DDR zeichnete sich durch eine weitreichende gesellschaftliche Verzahnung aus, wobei der Erziehungsauftrag über die Schule hinaus nicht nur junge Menschen betraf, sondern auch deren Eltern und jedes andere Mitglied der so bezeichneten „sozialistischen Gesellschaft“. Gerade die Lehrer waren davon nicht ausgenommen. Beispiele aus dem Schulalltag in Jena 1979 bis 1989 Im Folgenden werden verschiedene Konflikte mit politischem Charakter im sozialistischen Schulalltag zwischen den Jahren 1979 bis 1989 aus Jena vorgestellt. Anhand der Beispiele werden Handlungsoptionen und Möglichkeiten pädagogischer Kräfte sowie Disziplinarmaßnahmen untersucht. EOS „Johannes R. Becher“ Am 3. April 1979 informierte die Kriminalpolizei den ersten Stellvertreter des Stadtschulrates darüber, dass eine Lehrerin der Jenaer EOS „Johannes R. Becher“ (heute Gebäude der Stadtverwaltung „Am Anger“) seit längerer Zeit
Beziehungen zu einem BRD-Bürger hätte, der mehrfach zu privaten Treffen in die DDR einreiste. Bei einer Verkehrskontrolle stellten die Polizisten fest, dass die Lehrerin den Mercedes des Gastes fuhr. Hierfür sollte sie sich verantworten. Als Motiv ihrer Treffen mit dem Besucher aus der Bundesrepublik gab die alleinstehende Frau eine interessante gemeinsame Freizeitgestaltung an. In einem Disziplinierungsgespräch mit dem Stadtschulrat erklärte die Lehrerin zu ihrer Verteidigung, dass sie „politisch blind“ und verantwortungslos gehandelt habe. Auch das Kollektiv missbilligte die Handlungsweise der Lehrerin.15 Sie versprach deshalb, die Beziehung abzubrechen.16 In weiteren Gesprächen trafen Vorgesetzte und Funktionäre die Entscheidung, dass diese Lehrerin für eine weitere Tätigkeit an der EOS (Erweiterte Oberschule mit Abiturabschluss) „Johannes R. Becher“ kaderpolitisch nicht mehr geeignet sei. Als Konsequenz wurde sie an eine andere Schule versetzt.17 Dagegen erhob die Frau Einspruch und begründete diesen mit ständig neu erhobenen Vorwürfen von Schülern, Eltern und Kollegen sowie anonymen Anrufen.18 Sie fühle sich dadurch „gejagt“ und forderte deshalb von der Schulleitung, einem Aufhebungsvertrag über das bestehende Arbeitsverhältnis zuzustimmen. In einer weiteren Aussprache erwähnte die Lehrerin, dass Mediziner, Wirtschaftler und auch Lehrerkollegen in Telefonaten ihre Sympathie mit ihr zum Ausdruck brächten und Hilfe anböten.19 In einer letzten Aussprache betonte die Leitung der Abteilung Volksbildung das Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit mit der Lehrerin, allerdings nicht an einer EOS, sondern an einer POS (Polytechnische Oberschule mit Abschluss nach der 10. Klasse) der Stadt. Eine solche Umsetzung bedeutete zugleich eine niedrigere Gehaltsstufe. Nach einem intensiven Gespräch nahm die Lehrerin ihre Forderung nach einem Aufhebungsvertrag zurück und trat den Dienst an der zugewiesenen Schule an.20 In diesem Fall zog eine Autofahrt im Wagen des „Klassenfeindes“ sowohl arbeitsrechtliche Konsequenzen als auch eine gesellschaftliche Ächtung nach sich. Die Gegensätzlichkeit von verwaltungsrechtlicher Maßnahme, öffentlicher Ächtung im Arbeitskollektiv und privat geäußerter Sympathie durch Freunde und Kollegen wird anhand der Betrachtung
Titelthema dieses Falles besonders deutlich. Es belegt die Annahme, dass Lippenbekenntnisse von pädagogischen Kräften zum sozialistischen Schulalltag gehörten. Die Disziplinarmaßnahme in Form der Versetzung an eine andere Schule erscheint beinah milde, vergleicht man folgendes Vorkommnis. Kinderheim „Friedensberg“ Am 30. Mai 1979 informierte das Arbeitskollektiv des Jenaer Kinderheimes „Friedensberg“ (heute Gebäudeteil des Kinder- und Jugendheimes „Am Friedensberg“) den Stadtschulrat, dass eine Erzieherin nicht an der Abstimmung zu den Kommunalwahlen teilnahm. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der SED. Im Auseinandersetzungsprozess gab die Erzieherin für ihre Nichtbeteiligung an den Wahlen persönliche Gründe an. Das Kollektiv des Kinderheimes verurteilte ihre Entscheidung und erklärte selbige als Pädagogin für unwürdig.21 Bei einer Aussprache mit der staatlichen Leitung betonte die Frau, dass sie mit ihrer Nichtteilnahme an der Wahl Aufmerksamkeit für ihre persönlichen Probleme erwirken wollte. Ihre Ehe wurde im Juli 1978 geschieden, im Mai 1979 heiratete sie erneut. Ihr neuer Ehemann wohnte zu diesem Zeitpunkt in derselben Wohnung, in der auch die Erzieherin und ihr ehemaliger Mann wohnten. Diese absurde Wohnungssituation führte zu häufigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern. Der erste Stellvertreter des Stadtschulrates schrieb zu dieser Situation: „[Die] Kollegin […] konnte nicht überzeugend nachweisen, dass sie in einer angeblichen Kurzschlußhandlung nicht zur Wahl ging.“22 Die Aufzeichnung des Vorfalls endete mit der Bekanntgabe der Disziplinarmaßnahmen: Lösung des Arbeitsverhältnisses und Eröffnung eines Parteiverfahrens.23 Dieses Vorkommnis zeigt nicht nur die Grenzen persönlicher Lebensumstände innerhalb der sogenannten sozialistischen Gesellschaft auf. Es verweist ebenfalls auf die skurrile und unzumutbare Wohnsituation der Erzieherin, die die Abteilung Volksbildung jedoch nicht akzeptierte: Die Parteidisziplin stand stets über privaten Interessen. Die Nichtteilnahme an der Wahl wurde ohne Reflexion auf die Ursachen als politischer Affront disziplinar- und arbeitsrechtlich verfolgt.
POS „Bertolt Brecht“ Bei einem besonderen Vorkommnis vom 5. Dezember 1981 an der POS „Bertolt Brecht“ (heute Gebäude der Nordschule in der Dornburger Straße) wurden sowohl die Funktion der Erziehung durch das Kollektiv als auch die Beziehungen zwischen Schule und Elternhaus sowie Schule und Betrieb deutlich. Der Schulinspektor informierte den Stadtschulrat mündlich über ein „außergewöhnliches Vorkommnis“ im Staatsbürgerkundeunterricht einer achten Klasse. Während des Unterrichts kam es zu einem Streitgespräch zwischen zwei Schülern. Grund für den Streit war der Berufswunsch eines der beiden Schüler, Offizier der NVA zu werden. Dieser Junge musste seitdem verschiedene Beleidigungen mit politischem Charakter erdulden. Etwa: „Ergebnis der ZK-Tagung: Mehr Kinder – mehr Geld – mehr Soldaten – bessere Möglichkeiten und Bedingungen für einen Krieg“24 und „Du solltest mit den Russen aus einem Trog fressen!“25 Zur Klärung des Sachverhaltes wurden folgende Maßnahmen eingeleitet: Ein Gespräch mit dem betreffenden Schüler, eine Aussprache mit beiden Schülern, ein Gespräch mit der Familie des „angreifenden“ Schülers, eine Beratung mit der FDJ-Leitung und eine Aussprache innerhalb der Klasse. Sowohl die Eltern, die FDJ-Leitung als auch das Klassenkollektiv distanzierten sich eindeutig von den beleidigenden Äußerungen des Jungen. Während der intensiven Aussprachen wurde fast nebenbei offenbar, dass ein Großteil der Schüler Westfernsehen schaute. Als möglichen Grund für das „Fehlverhalten“ nannte der Stadtschulrat eine ausgebliebene Diskussion und Wertung des BRD-Fernsehens im Elternhaus.26 Neben der Auswertung innerhalb des Klassenkollektivs wurden weitere Maßnahmen festgelegt: Eine Aussprache des Elternaktivs mit den Eltern des Schülers, eine Auswertung im Pädagogenkollektiv mit der Aufforderung, die politische Wachsamkeit zu erhöhen sowie das Kontaktieren und Informieren der Parteileitung und des Arbeitskollektivs des Vaters.27 Dieser Vorfall zeigt, wie groß das Ausmaß eines Schülerstreits mit politischem Hintergrund war. Der Disziplinarraum erstreckte sich über die Schulleitung und das Schulamt, das Schüler- und Elternaktiv der Klasse bis in das Eltern-
Oberschule „Am Anger“ (1954), 1961 in EOS „Johannes R. Becher“ umbenannt, Foto: Stadtarchiv Jena
haus, dem die staatliche Leitung die Schuld für dieses Verhalten anlastete, sowie bis hin zur Betriebs-Parteileitung und das Arbeitskollektiv des Vaters. Die Verhaltenserwartungen an die Eltern fanden sowohl über das Elternkollektiv der Klasse als auch über das Arbeitskollektiv im Betrieb des Vaters statt. Hier wird die bereits erwähnte weitreichende gesellschaftliche Verzahnung des Bildungssystems als Erziehungsinstrument der SED um so deutlicher. Als abschließende Maßnahme erfolgte „eine Dienstberatung aller Direktoren, in der ausgehend von der aktuell-politischen Situation die Aufgaben aller Direktoren zur gründlichen politisch-ideologischen Arbeit in den Pädagogen- und Schülerkollektiven erläutert sowie die Vorkommnisse ausgewertet wurden“28. Ein solcher Vorgang, eingeleitet aufgrund eines politischen Streitgesprächs zweier Schüler, erscheint aus heutiger Perspektive schlichtweg unglaublich. POS „Wilhelm Pieck“ Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1987 handelt von einem Jenaer Lehrer an der POS „Wilhelm Pieck“ (heute Schulgebäude der Staatlichen Berufsbildenden Schule für Gesundheit und Soziales in Lobeda-Ost), der „in gröblichster Weise
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Einblick in Jenaer Schulakten – Handlungs- und Disziplinierungsoptionen im sozialistischen Schulalltag
gegen die Grundpositionen sozialistischer Bildungspolitik verstoßen hat“29. „Als Fachlehrer für Deutsch und Englisch behandelte er in den achten Klassen politische Themen, die in ihrer Darstellung und inhaltlichen Erschließung dem Bildungs- und Erziehungsauftrag widersprechen. Beispielsweise: ´Unter welchen Bedingungen wäre in der DDR ein Alkoholverbot wie in Saudi-Arabien möglich?´ oder ´Unter welchen Bedingungen wäre eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten möglich?´“30 Mit dem Pädagogen mussten in der Vergangenheit wiederholt kritische Auseinandersetzungen zu den „politischen Haltungen eines Lehrers“ geführt werden. Das Dokument endet mit der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens am Tage nach der Berichterstattung durch den Schuldirektor. Eine Auseinandersetzung im Pädagogenkollektiv wurde nicht erwähnt. Mit Blick auf die vorherigen Vorkommnisse mit politischem Charakter und deren Konsequenzen erscheint das Handeln dieses Lehrers äußerst mutig. Zwischenfazit Zusammenfassend lässt sich über die vier dargestellten Beispiele sagen, dass sie grundsätzlich eine ähnliche Struktur aufweisen. In jedem der Fälle wurde dem Stadtschulrat Bericht über einen Vorfall mit politischem Charakter erstattet. Die Information erfolgte hierbei aus verschiedenen Quellen. Durch die Kriminalpolizei, das Arbeitskollektiv einer Erzieherin, den Schulinspektor der POS „Bertolt Brecht“ und den Direktor der POS „Wilhelm Pieck“. Ein wesentlicher Schritt im Umgang mit diesen Konflikten war die Auseinandersetzung im Kollektiv. Dieser Schritt fehlte im letzten Beispiel, was jedoch keineswegs bedeutet, dass eine Aussprache im Pädagogenkollektiv nicht stattfand. Ziel dieser ritualisierten Disziplinarmaßnahmen war es, der betroffenen Lehrkraft ihr „politisches Fehlverhalten“ vor Augen zu führen sowie eine gezielte Stigmatisierung, um zukünftiges Fehlverhalten dieser oder weiterer pädagogischer Kräfte auszuschließen. Dieses Prinzip fand sowohl bei Lehrern, Schülern und Eltern durch das Klassenkollektiv sowie durch die FDJ oder unter Beihilfe des „Elternaktivs“ bzw. des Arbeitskollektivs im Betrieb regelmäßige Anwendung. Weitere Disziplinierungsmaßnahmen für Lehrkräfte zeigten sich in der Ver-
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setzung an eine andere Schule, der Kündigung des Arbeitsverhältnisses, der Einleitung eines Parteiverfahrens für SED-Mitglieder oder eines Disziplinarverfahrens, welches mit einer Verwarnung oder fristlosen Entlassung enden konnte. Der Handlungsspielraum, den die Lehrkräfte für sich in Anspruch nahmen, erstreckte sich über den eigenen Unterricht bis zur Freizeitgestaltung im privaten Bereich oder stillen Protest, wie der Nichtbeteiligung an Wahlen. In allen Fällen verstießen die Lehrerinnen und Lehrer gegen die vorgeblichen Auflagen der Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte, sowohl im gesellschaftlichen als auch im persönlichen Leben eine sozialistische Vorbildfunktion im Sinne der SED wahrzunehmen.
Der am häufigsten dokumentierte Konflikt mit politischem Charakter war die Antragstellung zur ständigen Ausreise aus der DDR durch Beschäftigte der Abteilung Volksbildung. Die Anzahl der eingereichten Ausreiseanträge durch pädagogische Kräfte der Stadt Jena nahm ab dem Jahr 1986 drastisch zu. So waren für die Jahre 1978, 1979, 1981 und 1982 in den vorliegenden Akten der Abteilung Volksbildung keine Anträge vermerkt. In den Jahren 1980, 1983 und 1984 wurden lediglich ein, zwei bzw. drei Anträge aufgelistet. 1986 stieg die Anzahl der Antragsteller bereits auf 16 und erreichte mit 22 dokumentierten Anträgen auf ständige Ausreise im Jahr 1987 ihren Höhepunkt. 1988 waren es noch zwölf Anträge auf Ausreise.
Die zunehmende Anzahl an Ausreiseanträgen seit dem Jahr 1986 zeigt, dass das sonst von der Partei- und Staatsführung durchdrungene einheitliche sozialistische Bildungssystem bei seinem eigenen Personal, den sozialistischen Vorbildern für die jüngere Generation, keine Akzeptanz mehr fand. Diese Ablehnung richtete sich nicht nur gegen das Bildungssystem, sondern vor allem gegen den Staat und dessen Führung selbst. Bezugnehmend auf den Ausreiseantrag einer Lehrerin schrieb ein Kaderreferent 1987: „Durch ihre Äußerungen wurde sichtbar, dass sie nur wenig emotionale und kaum politische Bindung an die Schule und an die DDR besitzt.“31 Der Leiter der Kreisschulinspektion stellte 1989 fest: „Entscheidend ist, dass die Pädagogen politisch stabil handeln und dadurch im Bereich Volksbildung die politische Stabilität sichern.“32 Aufgrund der spätestens seit Mitte der 1980er Jahre schwindenden politischen Bindung war eben dieses stabile Handeln der Pädagogen in Jena nicht mehr gewährleistet. Der Umgang mit Antragstellern auf Ausreise verlief nach einem ähnlichen Schema wie die in den vorangegangenen Beispielen aufgezeigten Disziplinarmaßnahmen. Die Erstinformation über die Antragstellung erhielt im Regelfall die Abteilung Inneres der Stadt Jena, die für die Entgegennahme von Ausreiseanträgen zuständig war. Es kam auch vor, dass Pädagogen im Kollektiv eine mögliche Antragstellung erwähnten und diese dann bereits in denunzierender Absicht gemeldet wurde. Das weitere Vorgehen unterschied sich in diesen Fällen jedoch nicht voneinander. Nach Bekanntwerden des Antrages kam es zu einem Erst-
Im Jahr 1989 dokumentierten die Mitarbeiter der Schulbehörde zugleich zehn Fälle von „Republikflucht“ oder „verschwundenem“ Personal.
gespräch in der Abteilung Inneres oder der Abteilung Volksbildung, bei dem die Motive für den Ausreiseantrag dargelegt werden sollten. Angegebene Gründe
Pädagogische Kräfte und die Antragstellung auf Ausreise aus der DDR
Titelthema waren etwa „negative Meinungen zum Feriendienst der Gewerkschaften, den Preisen im Reisebüro der DDR und zu den individuellen Reisemöglichkeiten“33 sowie die ungenügende Befriedigung materieller Bedürfnisse und die damit zusammenhängenden täglichen Ärgernisse, aber auch persönliche und familiäre Angelegenheiten.34 Ziel des Erstgesprächs war eine Einschätzung der Gesamtsituation und die Beurteilung der Möglichkeit einer „Zurückdrängung des Antrages“. Weitere Gespräche, welche die Antragsteller zur Rücknahme ihres Antrages veranlassen sollten, fanden sowohl in der Abteilung Inneres (Rat der Stadt) als auch im Pädagogenkollektiv statt. Diese Gespräche galten aber nicht nur für den Betroffenen selbst. Ziel war es ebenso, „die Standpunktbildung im Zusammenhang mit der weiteren Ausprägung klassenmäßiger Haltungen zur imperialistischen BRD“35 weiterzuführen. Während der Gespräche innerhalb der staatlichen Institutionen wurden die Lehrkräfte unmissverständlich „auf den Widerspruch zwischen ihrer Antragstel-
lung und ihren Pflichten als Pädagogen und Staatsfunktionäre hingewiesen“36. Konkret war damit die „pädagogische Nichteignung“ auf der Grundlage des § 2 der Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte durch die jetzige Antragstellung gemeint. Die Stigmatisierung innerhalb des Arbeitskollektivs verlief ähnlich wie bei den vorangegangenen Jenaer Beispielen. Vermeintliche Zugeständnisse, eine umfassende Verurteilung und Ablehnung des „politischen Fehlverhaltens“ waren an der Tagesordnung: „Es wurde herausgebildet, dass [der] Kollege […] Verrat begeht“37; „[Die] Kollegin hat Vertrauensbruch begangen, ihre Heimat verraten“.38 „Mit meiner Berufsentscheidung habe ich mich für meinen Staat entschieden“.39 Interessanterweise kam es in zwei Fällen der „offensiven Standpunktbildung“ innerhalb des Kollektivs nicht zu einer eindeutigen Haltung. „Unter Bezugnahme auf die Schlussakte von Helsinki spricht eine Lehrerin über die Freizügigkeit der Menschen und akzeptiert den Wunsch der Kollegin.“40 Im Kollektiv der POS „Karl Liebknecht“
diskutierten vier Pädagogen auch humanitäre Aspekte der Antragstellung. Wie das weitere Vorgehen mit diesen Gegenstimmen aussah, wurde nicht dokumentiert, nur lediglich darauf hingewiesen, dass die Standpunktbildung fortzusetzen sei. Die Disziplinierungsmaßnahmen in Form einer arbeitsrechtlichen Klärung hingen jeweils davon ab, ob der Antrag zurückgedrängt werden konnte. Bei einer Rücknahme des Antrages wurde den pädagogischen Kräften ein Änderungsvertrag für die Aufnahme einer Tätigkeit im technischen Bereich in der Abteilung Volksbildung angeboten. Als Pädagogen konnten sie fortan nicht mehr arbeiten. Für den Fall, dass die Antragsteller ihre Entscheidung nicht ändern wollten, ihre „pädagogische Nichteignung“ jedoch akzeptierten oder selbst bekundeten, kam es zu einem Aufhebungsvertrag. Sobald der Antrag nicht zurückgezogen wurde, die Lehrkraft jedoch auf einer weiteren Beschäftigung als Pädagoge beharrte, eröffnete die Leitung ein Disziplinarverfahren, welches in der Regel mit einer fristlosen Entlassung endete.
Kinderheim „Friedensberg“, o.J., Foto: Stadtarchiv Jena
Berufliche Probleme durch Autofahrt mit einem Mercedes (1979), Quelle: Archiv GWS
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Einblick in Jenaer Schulakten – Handlungs- und Disziplinierungsoptionen im sozialistischen Schulalltag
Fazit Die Handlungsoptionen für pädagogische Lehrkräfte waren äußerst begrenzt. Sobald ein Konflikt politischen Charakter annahm, mussten die Lehrer mit harten und endgültigen Konsequenzen rechnen. Eine weitere Tätigkeit als Pädagoge im Dienste des SED-Staates war nicht mehr möglich. Doch obwohl die Disziplinarmaßnahmen im konstruierten Pädagogenkollektiv bekannt waren, kam es über die Jahre hinweg immer wieder zu (bewusstem) „politischen Fehlverhalten“ der Lehrer. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre war die politische Bindung und damit die Unterstützung des DDR-Regimes durch einen Großteil der Lehrer und Lehrerinnen nicht mehr gewährleistet. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass ab der zweiten Hälfte des finalen Jahrzehnts der DDR auch unter den „sozialistischen Erziehern“ deutlich wurde, dass dieser Staat keinen Bestand haben würde.
Marco Stritzinger, Student der Integrativen Sozialwissenschaft, Kaiserslautern/Jena
Quellennachweise / Anmerkungen 1 Stellungnahme zum Antrag einer Kollegin, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1986 und 1987. 2 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, §1 Absatz (1) 3 Vgl. Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Sozialgeschichte der DDR, Hrsg. von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, S. 547-553. 4 Aktenbestand: „Besondere Vorkommnisse“ 1978 bis 1989. Das Jahr 1985 fehlt im Bestand. 5 Zur Meldung außergewöhnlicher Vorkommnisse, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1989. 6 Margot Honecker war von 1963 bis 1989 Ministerin für Volksbildung der DDR. Sie wirkte maßgeblich am „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ vom 25. Februar 1965 mit. 1978 führte sie gegen den Widerstand der Kirchen und vieler Eltern den Wehrkundeunterricht für Schüler der 9. und 10. Klassen ein. 7 Vgl. Pietzsch, Henning: Schulalltag in der DDR. Strukturen und Erfahrungen aus Jena 1970-1990, Weimar 2008, S. 18. 8 Vgl. ebd., S. 19/20. 9 Vgl. ebd., S. 22/25. 10 Vgl. Nooke, Maria/Schluß, Henning: Schule in der Diktatur. Die DDR und ihr Volksbildungssystem, in: Horch und Guck 2/2011 (Heft 72), S. 4/5. 11 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, §7 Absatz (2). 12 Verordnung über die Pflichten und Rechte der Lehrkräfte und Erzieher der Volksbildung und Berufsbildung. Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte vom 29. November 1979 (GBl. I Nr. 44 S. 444), §2 Absatz (1). 13 Vgl. Pietzsch, Schulalltag in der DDR, S. 24/25. / Ausgabe 1/2012 14 Vgl. 10 / ebd., S. 26.
15 Ein wesentliches Merkmal aller dokumentierten Vorkommnisse mit politischem Charakter war die Auseinandersetzung und Auswertung im Kollektiv durch den Direktor der Schule. Gemeint war hierbei das Arbeits-, in diesem Fall Pädagogenkollektiv, welches von dem Vorfall informiert wurde, anschließend eine Wertung und Stellungnahme der Lehrkraft erfolgte. 16 Vgl. Information über ein besonderes Vorkommnis an der EOS J. R. Becher, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 17 Vgl. Abschlussinformation zur Mitteilung über ein besonderes Vorkommnis an der EOS J. R. Becher, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 18 Kollektiver Druck diente als Kontrollinstanz und sollte die Disziplinierung durchsetzen helfen. 19 Vgl. Aktennotiz zur Aussprache mit der Lehrerin. 17.5.1979, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 20 Vgl. Aktennotiz zur Aussprache mit der Lehrerin. 31.5.1979, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 21 Vgl. Information über das Verhalten einer Erzieherin im Kinderheim Friedensberg am Tage der Kommunalwahlen, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 22 Information über das Verhalten einer bisherigen Erzieherin im Kinderheim Friedensberg, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 23 Vgl. ebd. 24 Information zum besonderen Vorkommnis an der POS „Bertolt Brecht“ Jena, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984.
25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. 1. Information „Besonderes Vorkommnis an der POS „Bertolt Brecht“ Jena“, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1978 bis 1984. 28 Information zum besonderen Vorkommnis an der POS „Bertolt Brecht“ Jena. 29 Information über ein Vorkommnis, Jena, den 2.2.1987, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1986 und 1987 30 Ebd. 31 Aktennotiz. 15.7.1987, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1986 und 1987. 32 Auswertung Vorkommnisse: Schuljahr 1988/1989, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1989. 33 Aktennotiz. 15.7.1987. 34 Vgl. Aktennotiz zum Gespräch in der Abteilung Inneres. 31.7.1987, Information über das Gespräch in der Abteilung Volksbildung. 10.12.1986, Aktennotiz. 15.7.1987 und Information zur Antragstellung. 19.8.1987, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1986 und 1987. 35 Information zur Standpunktbildung in den Kollektiven der Oberschule „Karl Liebknecht“ und des Polytechnischen Zentrums, in: Akten der Abteilung Volksbildung Jena. Besondere Vorkommnisse 1986 und 1987. 36 Aktennotiz zum Gespräch der Abteilung Inneres. 31.7.1987. 37 Information über das Gespräch in der Abteilung Volksbildung. 10.12.1986. 38 Stellungnahme zum Antrag einer Kollegin. Vgl Anm 1. 39 Ebd. 40 Information zur Antragstellung 19.8.1987.
Titelthema
„Stasi auf dem Schulhof“? Zum Verhältnis von Schule und Staatssicherheit Inzwischen sind es bereits zwei Veröffentlichungen1 von einigem Rang, die mit gleichlautendem Titel ein Publikum zu gewinnen suchen. Dabei weckt die Aussage ihrem eigentlichen Sinngehalt nach eher irritierende Assoziationen. Zunächst wäre es durchaus nicht abwegig, wenn die Titelzeile „Stasi auf dem Schulhof“ vor unserem geistigen Auge einen kinderleeren Schulhof entstehen ließe. Darauf ein oder mehrere StasiMänner in Mänteln oder Lederjacken. Kurzhaarfrisuren. Was tun sie auf dem umzäunten Gelände? Dass sie eine Unterrichtspause genießen, weil sie sich in einer nachholenden Qualifizierung befinden, ist unwahrscheinlich – nicht etwa die nachholende Qualifizierung. Die war bekanntlich vor allem für die alten Kämpfer der ersten Generation von MfSMitarbeitern bitter nötig. Wenn schon der Erwerb eines erweiterten Schulabschlusses außerhalb der eigenen „Behörde“ zwingend gewesen war, dann sah das Bildungssystem zu allen Zeiten dafür andere Einrichtungen als die Schule vor. Vielleicht aber schlichen sich StasiMitarbeiter über den menschenleeren Hof, um in das Schulgebäude zum Dienstzimmer der Schulleitung zu gelangen, während Lehrer und Schüler in Unterrichtssituationen gefangen waren? Gut möglich. Doch was macht diesen nur schwer zu verbergenden Gang als Titelzeile so attraktiv? In einer anderen Assoziation scheint der Schulhof brechend voll von lärmenden und herumtollenden Kindern. Lehrer führen mühevoll Aufsicht. Mittendrin und die Schüler um Köpfe überragend ein Stasi-Mann. Anstatt im Geheimen zu agieren, erregt er Aufsehen, erst recht, wenn er sich an Kinder heranmacht. Besorgte Lehrer kommen auf ihn zu. Mitschüler fragen, was der Mann eben wollte? Das dritte Bild ist subtiler und drängt sich nur willkürlich auf. Die Stasi ist symbolträchtig für ihre Allgegenwart in Gestalt von inoffiziell für den Geheimdienst tätigen Lehrern und/oder Schülern auf dem Schulhof präsent. Welche „staatssichernde“ Aufgabe erfüllten sie dort?
Der von dem Psychologen und Psychoanalytiker Klaus Behnke und dem Alternswissenschaftler Jürgen Wolf verantwortete Sammelband mit dem verführerischen Titel aus dem Jahr 1998 stammt aus der Phase des ersten Publikationsbooms zum Thema Schule/Jugend und Stasi. Von den Herausgebern und Autoren jenes Buches dürfen wir Klärung erwarten; wir erhalten sie nicht. Schon der Klappentext belehrt, dass es in dem Buch entgegen der geweckten Erwartung nicht um den Schulhof geht, allenfalls auch um Schule, und zwar speziell als Ort der Anwerbung künftiger MfS-Mitarbeiter und jugendlicher IM. Die darin beispielgebenden Jugendlichen „Renate“ und „Manfred“ wurden in der Schule angeworben, die anderen Jugendlichen anderswo. Doch genügt das für die Behauptung, jugendliche IM seien in den meisten bzw. häufigsten Fällen (S. 14 u. 21) in der Schule rekrutiert worden? Immerhin sollten es 1989 geschätzt 10.000 solcher (minderjährigen) Jugendlichen gewesen sein (S. 13 u. 243). Inzwischen gibt es bedenkenswerte Zweifel an dieser Zahl. Unter zehn Prozent der ursprünglichen Annahme scheint eher realistisch. Die meisten jugendlichen IM waren im Übrigen Berufsschüler, weit weniger Schüler/-innen an Erweiterten Oberschulen (EOS). Der Film geht von 8.000 aus. Der auffällige Schwund um 2.000 seit der Publikation von 1998 wird nicht erklärt, wie es überhaupt für die Schätzung an Belegen fehlt, während es für die Zahl von unter 1.000 quellengestützte Argumente gibt.2 Bei besonderen Vorkommnissen wurde die Stasi in die Schule geholt, sie war demnach nicht immer anwesend. Tatsächlich, da haben die Autoren uneingeschränkt Recht, begann die Rekrutierung künftiger MfS-Angehöriger bereits in Klasse 7, und zwar um vor den Werbern für die Nationale Volksarmee zur Stelle zu sein. Der Schulhof blieb derweil stasifrei. Das Buch und sein Titel finden nicht zueinander. In dem bewegenden, zu später Stunde in der ARD Anfang 2012 erstausgestrahlten, gleichnamigen Film von Annette
Baumeister wurden die beispielhaft, aber nicht repräsentativ ausgewählten Jugendlichen mehrheitlich im Dienstzimmer des Schulleiters als IM geworben. Der Filmtitel ist ausdrücklich dem Buch entlehnt, Mitherausgeber Behnke tritt als Experte auf. Das Problem bleibt dasselbe, wenn auch in abgeschwächter Form: Buch und Film erwecken mindestens unwillkürlich den Eindruck einer nicht nur absonderlichen, sondern auch vergleichsweise besonders intensiven und zugleich Schulalltag in der DDR prägenden, in die Psyche der Betroffenen bis heute eingebrannten Beziehung von Schule und Staatssicherheit. Wen will es da wundern, wenn die online dokumentierten Zuschauerreaktionen mitunter aus dem Rahmen bzw. allen Wolken fallen oder thematisch uninformierte Studierende in Lehrveranstaltungen regelmäßig eine IM-Quote unter DDR-Lehrern von bis zu 80 Prozent vermuten?! Wenn indes anstatt eines psychologischen bzw. psychoanalytischen Zugangs zum Leidensweg angeworbener Jugendlicher eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive gewählt wird, rücken bildungsgeschichtliche Entwicklungen, und mit ihnen sozialgeschichtliche Zusammenhänge, stärker in den Blick. Es drängt sich die Frage danach auf, wieso sich überhaupt und in welchem Maße während der verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR der Staatssicherheitsdienst für die Institution Schule interessierte. Vor dem Mauerbau ging die Stasi bekanntlich mit aller Härte vor allem gegen Oberschüler und Lehrer an Oberschulen vor, die sie als überkommene Staatsfeinde aus imperialistischer Zeit identifiziert hatte. Selbst damals war das MfS nicht dauerhaft in den Schulen präsent,
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„Stasi auf dem Schulhof“?
sondern griff charakteristischerweise je nach definiertem Bedarf in Konflikte mit Erwachsenen oder fast Erwachsenen ein. Die letzten großen „Schaurelegierungen“ und pädagogischpropagandistisch ausgeschlachteten strafrechtlichen Verfolgungen vor dem „Fall Ossietzky-Schule“ 1988 datieren aus den ersten Jahren nach dem Mauerbau. In der ummauerten DDR erregte die wachsende Diskrepanz zwischen Anspruch und Resultat der Erziehung sicherheitspolitische Aufmerksamkeit gegenüber Heranwachsenden, die bereits in vergesellschaftete „Produktionsverhältnisse“ hineingeboren wurden. In dem Bemühen, das politisch-operative Zusammenwirken zwischen Schule und Staatssicherheit zu qualifizieren, gerierte sich die Stasi sogar mitunter als Erziehungsratgeber. Andererseits – und das ist ein bislang noch immer unterschätztes Resultat bildungsgeschichtlicher DDR-Forschung : Es war bis 1961 und im Verlaufe mehrerer Disziplinierungsphasen nicht nur gelungen, die sogenannte führende Rolle der SED im Volksbildungsbereich und speziell an den Schulen durchzusetzen, sondern das Schulwesen in eigener administrativer Regie sicher zu beherrschen. So blieb Schule unter der Ägide Margot Honeckers seit 1963 zwar ein Segment des geheimdienstlichen „Verantwortungsbereichs“, aber eines, bei dem außerhalb der Registrierung von Stimmungen, Meinungen und (potenzieller) Systemkritik sowie der notorischen Wachsamkeit gegenüber dem Intellektuellennachwuchs
Filmeinstellung aus „Der Verrat“ (2010); Angela Kowalczyk wurde in Potsdam als Jugendliche inhaftiert, Foto: Andreas K. Richter
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gewöhnlich nur bei vermuteter staatlicher Sicherheitsbedrohung eigene Kompetenz ins Spiel gebracht wurde. Selbst die „führende Rolle“ der SED(-Führung) wurde in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR de facto eingeschränkt durch den besonderen Einfluss Margot Honeckers als Ministerin für Volksbildung und SED-Generalsekretärsgattin. Durch die Stasi angeworbene Jugendliche lieferten auch Informationen über Mitschüler und Lehrer. Als bekennender „Lenin-Fan“ verfügte Kerstin, eine reale Protagonistin aus dem ARD-Film, damals sicher nur eingeschränkt über Insiderinformationen zu regimekritisch eingestellten oder im Selbstverständnis jugendkulturell alternativen Mitschüler(inne)n. Ganz überwiegend wurden in der Schule angeworbene IM zur Kontrolle von staatlich nicht beherrschten Freizeitbereichen geheimdienstlich missbraucht. Ferner um informelle Gruppen Jugendlicher auszuspähen oder zur Überwachung konkurrierender Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen, etwa der Jungen Gemeinde etc. Es handelte sich dabei um gesellschaftliche, in den 1960er Jahren bekanntlich befehlsgewaltig MfS-intern definierte Bereiche, in denen angeblich aus dem Westen eingesickerte Nonkonformität, Dekadenz und Staatsfeindlichkeit einen Nährboden zu finden schienen. So weit ging die geheimdienstliche Kritik an der Schule denn doch nicht. Die „Stasifizierung“ der Lehrerschaft (Alexander von Plato), das kann man seit bald anderthalb Jahrzehnten wissen, war im Vergleich
mit anderen Branchen des öffentlichen Dienstes gering und bewegte sich im Bereich um die 2,5 Prozent, ergo im gewöhnlichen DDR-Durchschnitt. Offenkundig kam die Stasi an manchen Schulen sogar ganz ohne inoffiziell mit dem MfS zusammenarbeitende Lehrer aus, zumal Schulleitungsmitglieder ohnehin verpflichtet waren, „offiziell“ Auskunft zu erteilen, Vorkommnisse zu melden und auch sonst zu kooperieren. Der im Herbst 2010 auf RTL ebenfalls gegen Mitternacht gesendete Film über die Verführung Jugendlicher zu IM hat einen treffenderen Titel gefunden. „Der“ Verräter wartet – wörtlich – „nach der Schule“ auf seinen Führungsoffizier. Dem wiederum gefragten Experten Behnke darf als Psychologe solche Spitzfindigkeit vielleicht sogar gleichgültig sein. Dadurch, dass der DDR-Schulalltag anders beherrscht wurde als landläufig angenommen, war er aber nicht schon unbedingt besser. Denn letzten Endes wirkt historisch ausgerechnet diese verhältnismäßig geringe Zahl an IM-Lehrern belastend. Sie ist Ausdruck der Selbstdisziplinierung des Systems. Schwer wiegt zudem, dass bei den relativ wenigen geheimdienstlich verpflichteten Pädagogen als so bezeichnete Werbungsgrundlage nur selten Erpressung oder Bestechung nötig war. Meist hatte es genügt, an herrschaftskonforme, ohnehin „positive“ weltanschauliche, doktrinär konforme Überzeugungen anzuknüpfen. Es hätte daher weit mehr Pädagogen treffen können, wenn es sei-
Titelthema tens des MfS für erforderlich erachtet worden wäre, eine größere Zahl von Lehrern zu rekrutieren. Zum anderen hat es den Vertrauensbruch als Verrat am eigenen Klientel, und zwar nicht nur direkt gegenüber der Stasi, sowie die unvermittelte, unverzeihliche Verletzung pädagogischer Professionalität von IM-Lehrern und die Verführung zu minderjährigen IM an den Schulen, wenn auch in weit geringerer Zahl als vermutet, zweifellos gegeben. Die entsprechenden Texte und die erschütternden Bilder dokumentieren daher eine vergangene Realität von besonderer gesellschafts- und individualgeschichtlicher Tragweite. Jedoch fallen die gesellschaftliche Relevanz von damals und heute sowie die Bedeutung und Auswirkung auf den Schulalltag nicht zusammen. Das mag man im Interesse politischer Bildung bedauern, sollte es aber doch besser nicht. Selbst die Thesen von der „Durchherrschung“ der DDR und der DDR als Erziehungsstaat liefern keine triftigen Gründe dafür, die Institution Schule als alleinige oder alles beherrschende Sozialisations- respektive Erziehungsinstanz zu begreifen. Millionen Heranwachsender haben den Schulalltag im kleineren deutschen Staat erfahren, erlebt oder durchlitten, ohne dass sie in der Pubertät den Drang verspürten, sich ein Leninbild auf den Nachttisch zu stellen. Hier führt der anklagende Fingerzeig Richtung Schule folgenreich in die Irre. Es war ja zum einen gerade der unauflösliche und zunehmend
Filmszene aus dem nachgestellten Schulzimmer einer POS um 1985, Foto: Schulmuseum Leipzig
hervortretende Widerspruch von Indoktrinationsambition und Resultat der Schulerziehung, dem die Stasi potenzielle sicherheitspolitische Relevanz zuschrieb und der zur Überschneidung der Kontrollambitionen von MfS und Ministerium für Volksbildung führte. Anstatt Gleichklang erwuchsen daraus vornehmlich Konkurrenz und Kompetenzgerangel. Andererseits hinterließ das Aufwachsen in der DDR auch Sozialisationswirkungen, für die die Schule – und manchmal nicht einmal die Stasi – zu allererst verantwortlich zu machen sind. Die Geschichte von Macht und Herrschaft, Stasi und Schule, Sozialisation und Erziehung in der DDR als Gesellschaftsgeschichte ist keine leichte Kost.
ARD-Dokumentation 2012
Prof. Dr. Ulrich Wiegmann, Erziehungswissenschaftler, Berlin
Quellennachweise / Anmerkungen 1 Behnke, Klaus/ Wolf, Jürgen (Hrsg.): Stasi auf dem Schulhof. Der Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1998; Baumeister, Annette: Stasi auf dem Schulhof. Ein Film der ARD, Erstausstrahlung am 4. Januar 2012 um 23.55 Uhr (45 min). 2 Vgl. Wiegmann, Ulrich: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend in der Erziehungsideologie und -praxis des DDRGeheimdienstes, Berlin 2007, S. 76-89. 3 Vgl. v.a. Geißler, Gert: Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962. Frankfurt a.M. 2000. 4 Plato, Alexander von: „Entstasifizierung“ im Öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer nach 1989. Umorientierung und Kontinuität in der Lehrerschaft. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 5 (1999), S. 313-342. 5 Richter, Andreas Kuno: Der Verrat – Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte, RTL-Fernsehen. Erstausstrahlung am 3. Oktober 2010 um 23.20 Uhr (47 min). 6 Vgl. Kocka, Jürgen: Eine durchherrschte Gesellschaft. In: Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen/Zwahr, Hartmut (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 547-553; Lüdtke, Alfred: „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In: Ebd., S. 188-213. 7 Vgl. Benner, Dietrich/ Schriewer, Jürgen/ Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Denktraditionen und nationaler Gestalten, (= Bibliothek für Bildungsforschung, Bd. 1), Weinheim 1998.
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Interview
Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte Interview mit Johanna Stader zum Film „Der Verrat“
Der Berliner Regisseur Andreas Kuno Richter gewann mit seiner Dokumentation „Der Verrat“, die 2010 erstmals im Programm von RTL ausgestrahlt wurde, im vergangenen Jahr den Bayerischen Fernsehpreis. Der einfühlsame Film bringt Menschen zum Sprechen, die als Jugendliche zu perfiden Spitzeldiensten angeworben wurden. Ohne Sensationslust lenkt die Erzählung den Blick auf die bis heute offenen Wunden durch den Missbrauch während der jugendlichen Prägungsphase. Durch ihre Perspektive konnte die Dokumentation ein vielfältiges und vor allem junges Publikum in ganz Deutschland ansprechen. Wir informierten uns bei Johanna Stader, die ein Mainzer Gymnasium besucht und das vielschichtige Thema im Rahmen einer Facharbeit untersuchte. Der Film „Der Verrat“ hat das aufwühlende Thema erstmals einer breiteren Fernseh-Öffentlichkeit vorgestellt. Sie sind selbst Schülerin. Was waren Ihre ersten Reaktionen auf die Dokumentation? Als ich den Film sah, hatte ich mich bereits mit dem Thema des Missbrauchs von Jugendlichen auseinander gesetzt, daher war die Materie für mich nicht ganz unbekannt. Dennoch fand ich es schockierend, an einzelnen Schicksalen die Einwirkung und die Macht des Staates zu sehen. Dass er Jugendliche dazu bringen konnte, ihre Freunde zu verraten, ist erschreckend und auch ein bisschen beängstigend. Sie haben im Nachgang zum Film und in Vorbereitung auf das Abitur eine Facharbeit angefertigt. Weshalb fiel Ihre Wahl gerade auf dieses offene Problem? Mein Interesse für dieses Themenfeld hat den Ursprung in meiner eigenen Familiengeschichte. Ein Teil meiner Verwandten flüchtete 1961 aus der DDR, nachdem sie als Unternehmer in den Fokus des MfS gerieten und ihr Betrieb systematisch unterwandert wurde. Mich beschäftigt daher schon länger die Frage, welche Mechanismen Teile der Bevölkerung dazu bewegte, sich gegenseitig zu bespitzeln und dadurch ein grundlegendes Misstrauen zwischen den Menschen zu säen. Im Film sprechen Betroffene vor der Kamera, wozu sehr viel Mut gehört. Welche Schäden, Nachteile oder Krankheiten folgten für viele aus dem damaligen Missbrauch? Da viele Betroffene nicht über ihre traumatische Vergangenheit sprechen möchten, ist es schwierig, Folgen zu verallgemeinern. Einige äußern aber Beschwerden über Beziehungsschwierigkeiten, Selbstwertprobleme, Angstzustände, aber auch ständige Bauch- oder Kopfschmerzen. Die Betroffenen leiden also an physischen und an psychischen Schäden.
Sie hatten mit einer der Hauptpersonen des Films Kontakt. Sie berichtet vom „Verrat“ an ihrer Freundin, aber auch von ihrer eigenen „beschädigten Seele“? Was konnten Sie erfahren? NinA erzählte mir, wie sie vom MfS angeworben wurde. Da sie der Punk-Szene angehörte, wurde sie für die Stasi interessant, und aus Angst um ihren Schulabschluss und um die Arbeitsstelle ihrer Mutter stimmte sie dieser „Zusammenarbeit“ zu. Sie musste regelmäßig an konspirativen Orten Informationen über Freunde weitergeben, was sie schon damals sehr belastete. Nach einiger Zeit wollte sie niemanden mehr denunzieren. Um ihre Freunde zu schützen, wandte NinA sich immer wieder anderen Jugendgruppen zu, bis sie schließlich für das MfS uninteressant wurde. Sie leidet bis heute, obwohl sie sich mit ihrer besten Freundin, die sie damals verriet, wieder ausgesöhnt hat. Im Film wird die brisante Frage gestellt, ob letztlich jeder junge Mensch unter den Bedingungen einer Diktatur erpressbar wird? Deshalb ist die Frage nach Opfern und Tätern in diesen Fällen schwierig und oft widersprüchlich. Wie ist Ihre Einschätzung? Jugendliche qualifizierten sich zu Tätern, indem sie das manipulative Staatssystem zu Lasten eines solidarischen Gesellschaftsgefüges unterstützten. Gleichzeitig waren sie Empfänger von Handlungsanweisungen, denen sie sich nur schwer entziehen konnten. Durch den Missbrauch ihrer Unbedarftheit wurden sie in eine Opferrolle gedrängt, der sie meist nur entfliehen konnten, indem sie selbst zum Täter wurden. Diese beiden Perspektiven verdeutlichen die Facetten der komplexen Fragestellung, deren Beantwortung letztendlich in der Sichtweise mündet: Jugendliche IM waren sowohl Täter als auch Opfer. Ich denke, dass alle Jugendlichen erpressbar wären, wenn die „richtigen“ Druckmittel eingesetzt werden würden. Das Interview führte Daniel Börner.
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Der Thüringer Theologe Walter Schilling wirbt um Verständnis, plädiert für ein Verzeihen, ohne leichtfertige Vergebung. Er kam in Berührung mit Fällen jungendlicher IM aus Jena. Foto: Andreas K. Richter
Wer war damals Opfer, wer Täter? – Der Film brachte beide Frauen, damals junge Punkerinnen in Berlin (ChinA und NinA), nach vielen Jahren wieder zusammen. Foto: Andreas K. Richter
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Schulalltag in der DDR
Schulbücher als Herrschaftsinstrumente der SED Politische Instrumentalisierung am Beispiel des DDR-Schulwesens Erkenntnisinteresse: Schule und Herrschaft Schule ist Ort der Sozialisation und der Wissensvermittlung. So strukturiert, so lange und mit Hilfe der Schulpflicht so unvermeidlich, sind Menschen nur selten staatlichen Einflüssen ausgesetzt. Schule findet innerhalb eines existierenden Gesellschafts- und Herrschaftssystems statt. Beides ist Gegenstand des schulischen Bildungsauftrages. Außerdem gestalten diejenigen, die das Herrschaftssystem kontrollieren, auch die Schule, und somit wird jene unvermeidlich zur systemlegitimierenden Einrichtung. Selbst Schulen, die nach westlich-demokratischen Maßstäben funktionieren, können keinen Anspruch darauf erheben, ihre Schüler nicht in Richtung bestimmter Sichtweisen und Überzeugungen zu beeinflussen. Absolute Objektivität kann es nicht geben, weil voraussetzungsloses Denken unmöglich ist. Zur Debatte steht darum nur das Ausmaß, mit dem dies geschah und geschieht. Funktionierende Demokratien sind von einer grundsätzlichen Offenheit gekennzeichnet. Die Herrschenden unterliegen der Gewaltenteilung, sie werden durch eine Öffentlichkeit kontrolliert, mit Hilfe der Medien (als vierter Gewalt) wird eine solche Öffentlichkeit überhaupt erst möglich. Außerdem existiert ein demokratischer Wettbewerb, in dem die Machtverhältnisse wechseln. Dort, wo eine solche Offenheit fehlt, finden sich Beispiele für schleichende Manipulation oder gar persönlichkeitsdeformierende schulische Zwänge. In solchen Gesellschaftssystemen, die eher Systeme der Herrschenden sind, wird Schule systematisch missbraucht. Aus der Untersuchung solcher historischen Beispiele wachsen Erkenntnisse, die das Bewusstsein für Missbrauchspotenziale von schulischer Bildung schärfen. Angesichts der Bedeutung der Schule ist das nicht nur eine wichtige Aufgabe, sondern vielleicht der einzige Weg, sich der Grenze zwischen erforderlicher, zivilgesellschaftlicher Erziehung und herrschaftlichem Missbrauch zu nähern.
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Die DDR war ein durch die absolute Herrschaft der SED gekennzeichneter Staat. Mit dem Marxismus-Leninismus gab die SED ein umfangreiches Theorien- und Ideengebäude vor, das für nahezu jeden privaten oder öffentlichen Sachverhalt eine Antwort lieferte. So wenig fraglich der Machtanspruch der SED war, so wenig offen konnte das DDRSchulwesen sein. So wenig wie der Marxismus-Leninismus zur Diskussion stand, so wenig gab es Raum für Andersdenkende oder freie Schulbildung. SED-Herrschaft und DDR-Schulbücher Die Schulbücher der DDR waren offizielle Dokumente, die nach einem zentralisierten Zulassungsverfahren und in einem staatlich beaufsichtigten Umfeld zur Anwendung kamen. Als staatlich kontrolliertes Unterrichtsmedium sind Schulbücher aussagekräftig, wenn es um die vermittelten Lehrinhalte geht. Sie nehmen eine besondere Rolle (Indikator) für die Verfasstheit des Bildungssystems wahr. Eingedenk der Einheitlichkeit und Zentralisierung des DDR-Schulwesens in Verbindung mit der Funktion von Schulbüchern als Abbild offizieller Lehrpläne gebührt dem Quellenbestand zusätzliches Gewicht. Andererseits verfügen gedruckte Quellen stets über begrenzte Aussagekraft bezüglich der konkreten Unterrichtsrealität, das heißt der Rezeption/Aufnahme der Schulbuchinhalte in den Köpfen der Schüler/-innen. Das vorliegende Untersuchungskorpus umfasst alle obligatorischen Schulbücher der Pflichtfächer einer Polytechnischen Oberschule (POS), die im Schuljahr 1980/90 zur Anwendung kamen, mit Ausnahme der Russischlehrbücher. Es handelt sich hierbei um 72 Bücher mit einem Gesamtumfang von rund 12.000 Seiten. Alle Schüler, die Ende der 1980er Jahre die Schule in der DDR besuchten, sind mit deren Inhalten zwangsläufig in Berührung gekommen. In der Gesamtschau der Unterrichtsbü-
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cher sticht bereits vorab heraus, dass es kein Unterrichtsfach, auch keine Klassenstufe gab, welche frei von ideologischen Inhalten gewesen wäre. In allen Schulbüchern lassen sich – unterschiedlich gewichtet, doch stets präsent – ideologische Inhalte zu Themengruppen verdichten, die sich als roter Faden durch zehn Jahre Schul(buch)unterricht ziehen. Diese Themengruppen lassen sich wie folgt gruppieren, wobei mit wenigen beispielhaften Abbildungen und Textauszügen – die für unzählige weitere stehen – die politisch instrumentalisierten Schulbuchinhalte wiedergegeben werden sollen: Kommunistische Partei und Arbeiterklasse Der SED als Partei wie auch der Arbeiterklasse wird von den Schulbuchautoren/-innen ganz unmissverständlich eine universelle Führungsrolle zugeschrieben, die durchweg positiv bewertet und darüber hinaus in verschiedensten weiteren Kontexten lobend erwähnt wird. Dabei erfolgt durch die Zuschreibung der Führungsrolle eine Untermauerung sozialistischer Machtverhältnisse und mittels affirmativer Bewertung ein kontinuierliches Eigenlob. Zusammen mit der andauernden Präsenz, insbesondere der SED und dort, wo eine solche Erwähnung in keinster Weise notwendig wäre, wird der DDR-Einheitspartei und anderen kommunistischen Parteien in den Schulbüchern eine allgegenwärtige Rolle zuteil. So wie in einem Beispiel aus dem Geschichtsbuch für die 9. Klassen: „Der revolutionäre Kampf in allen Ländern und der Erfolg der Oktoberrevolution lehrten die Arbeiterklasse, dass sie nur siegen, die Staatsmacht erobern und behaupten kann, wenn sie von einer marxistisch-leninistischen Partei geführt wird.“
Titelthema Systemrelevante Persönlichkeiten (Marx, Engels, Lenin, Thälmann u.a.) Die zumeist als Autorenkollektive auftretenden Schulbuchverfasser setzten sich mit jenen historischen, teils lebenden Persönlichkeiten lobend auseinander, die dem Sozialismus und seiner Geschichte zugeordnet waren. In erster Linie freilich Lenin, Ernst Thälmann, Karl Marx und Friedrich Engels. Diese und weitere Personen werden überschwänglich, teils pathetisch zu Vorbildern und Helden stilisiert und permanent, nicht selten ohne jede inhaltliche Rechtfertigung, in den Schulbüchern präsentiert und reichhaltig illustriert. Hier eine Probe aus dem Muttersprache-Buch: „Das Erbe Karl Marx’ anzutreten wirft viele Fragen auf. Was heißt für uns eine lebendige Aneignung seines Werkes? Wir sagen, Karl Marx lebt. Bedenken wir das auch immer in unserem täglichen Verhalten?“7. Im Band für den Musikunterricht ähnlich: „Jeder kennt aus Lenins Leben manche beispielhafte Tat. Kleine Leute, große Leute holen sich bei Lenin Rat.“8 FDJ und Pionierorganisationen Einhellig bejahende Bewertungen waren FDJ und den Pionierorganisationen gewiss. Die Auseinandersetzung der Schulbücher mit dem Jugend- und Kinderverband war außerdem im starken Maße von offenkundig auf Eingewöhnungsprozesse angelegten Passagen gekennzeichnet. In Form von Bildern, Liedern, Gedichten, Geschichten, Aufgabenstellungen oder sonstigen Schulbuchtexten fungierten Pioniere oder FDJ-Mitglieder, Pionierorganisation oder FDJ als ubiquitärer Bestandteil fast aller untersuchten Bücher. Ausdruck fand es beispielsweise darin: „Für das nächste Schuljahr wollen wir uns vornehmen, den Leistungsstand der Klasse weiter zu verbessern. Wir möchten erreichen, dass jeder Schüler in die FDJ eintritt und vielleicht auch in die DSF.“9, oder wahlweise in Liedstrophen: „Im Frühling froh und im Sommer frei,/ Und fleißig im Herbst und im Winter,/ Wir sind die jüngste Kampfpartei,/ Die fröhlichste Freundschaft der Kinder“(aus: Lied der Thälmannpioniere).10 DDR, Sowjetunion und andere sozialistische Staaten
Jede Auseinandersetzung mit der DDR, mit ihren lokalen oder regionalen Untergliederungen, mit einzelnen Städten oder mit politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Aspekten wurde in Schulbüchern genutzt, um ein umfassendes und unbescheiden-positives Bild vom SED-Staat zu zeichnen. Hier wurde eine DDR beschrieben, die von Demokratie, Mitbestimmung, Freiheit, hoher Lebensqualität, Fortschritt und Erfolg gekennzeichnet ist. Jedwede Entwicklung in diesem Staat weise, gleich für welche Bevölkerungsgruppe geltend, nach vorn und aufwärts, was der DDR zugleich weltweite Strahlkraft verleihe. Probleme oder mögliche Fehler in der gegenwärtigen Entwicklung wurden nirgends thematisiert. Ähnliches galt in internationaler Perspektive, wo ein gleichermaßen unkritisch überhöhtes Bild von der sozialistischen Welt vorherrschte: „Die DDR ist ein modernes sozialistisches Industrieland mit einer hochentwickelten, leistungsfähigen Landwirtschaft.“11 Dies nochmals gesteigert im Falle der Sowjetunion, wenn es hieß: „Seid bereit und kampfentschlossen, wenn Gefahren uns bedrohn! Unsre Zeit will Glück und Frieden, Freundschaft zur Sowjetunion.“12 Militärische Inhalte (NVA, bewaffnete Organe, militärisches Fachwissen) Breiten Raum in zahlreichen Schulbüchern diverser Fächer nahmen militärische und militaristische Inhalte ein. Solche Bezüge traten vor allem im Rahmen der positiven Bewertung der NVA und anderer militärischer oder paramilitärischer Organisationen der DDR sowie der Streitkräfte (auch anderer sozialistischer Staaten) im Ganzen auf. Die bewaffneten Organe waren dabei Gegenstand von Annäherungsprozessen, die sich darüber hinaus auf weitere militärische Inhalte erstreckten: In Bildern, Liedern, Rechen-oder Zähl-Aufgaben und Geschichten flossen Waffen, Waffensysteme, Soldaten oder allerlei militärisches Gerät und Vokabular ein. Unmissverständlich wurde hier Nachwuchswerbung betrieben, indem teils subtil, teils unvermittelt für den Soldatenberuf geworben wurde, verbunden mit einer ebenso latenten Suggestion von stetigen Schutz- oder Verteidigungserfordernissen. Neben die übersteigert positive Ein-
stellung zum Militär, trat das Bemühen, erste militärfachliche Kenntnisse zu vermitteln. Grundsätzlich schienen die Schulbücher darauf angelegt, mögliche Distanz oder Aversion zwischen militärischer und nicht-militärischer Sphäre abzubauen: „Die Pioniere der Klasse 3b sitzen im Pionierzimmer. Sie erwarten heute ein Mitglied der Kampfgruppe ihres Patenbetriebes. Die Lehrerin war neulich mit zwei Pionieren bei ihm. Die Kampfgruppen schützen unsere Betriebe.“13 Im naturwissenschaftlichen Kontext: „Welche Bewegungen treten bei folgenden Beispielen auf? a) Bremsen eines Zuges, b) Fliegen eines Flugzeuges, c) Landen eines Jagdflugzeuges, d) Anfahren eines Panzers, e) Starten einer Luftabwehrrakete.“14 Sozialismus und Parteilichkeit Zahlreiche weitere Schulbuchaussagen lassen sich dem grundsätzlichen Versuch zuordnen, die Schüler von der Parteinahme für den Sozialismus zu überzeugen. Hier wurde die Ideologie selbst Gegenstand glorreicher Bewertungen. Außerdem verwiesen die Schulbücher regelmäßig direkt auf das Erfordernis zur Parteilichkeit, indem einerseits klar aufgezeigt wurde, welche die richtige Seite sei und andererseits die Notwendigkeit betont wurde, sich für jene Seite bindend zu entscheiden. Im Musikbuch klang dies so: „Noch niemals, zu keiner Zeit war das Leben so erregend schön, so interessant und reich an Ereignissen von welthistorischer Bedeutung wie in unserer Epoche des Aufbaus des Kommunismus.“15 Im häufig abgedruckten Agitationslied des Oktoberklubs von 1967 heißt es: „Sag mir, wo du stehst, sag mir, wo du stehst,/ sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst!/ […]/ Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen,/ auch nickende Massen nützen uns nicht./ Ich will beim richtigen Namen dich nennen./ Und darum zeig mir dein wahres Gesicht!“16 USA, BRD und anderen westliche Staaten (Kapitalismus) Ging es in den bisherigen Themenbereichen vor allem um die positive Bewertung des Sozialismus aus SED-Sicht, so wurde im Gegenzug oft primär die negative Bewertung des anderen, feindlichen, kapitalistischen Systems betrieben. Die
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Schulbücher als Herrschaftsinstrumente
Anwendung kommenden Mechanismen funktionierten hier nur unter einem anderen Vorzeichen und waren ins Gegenteil verkehrt. Der Kapitalismus wurde zudem als im Lenin´schen Sinne imperialistisch, aggressiv und ausbeuterisch abqualifiziert sowie als unmittelbar vor seinem Kollaps stehend dargestellt. So offenkundig prächtig die Beschreibung des eigenen Systems war, so kläglich und unrühmlich die des Kapitalismus. So wenig wie Kritik am Sozialismus geübt wurde, so stark traten hier Herabwürdigung und Geringschätzung hervor. Aus dem Lehrbuch für Staatsbürgerkunde triefte es: „Die sozialistischen Staaten, besonders die Sowjetunion, haben vielfältige Schritte vorgeschlagen, um in der Welt zur Abrüstung zu gelangen […] Im Gegensatz dazu beschleunigen die Regierungen der USA, der BRD, Großbritanniens und anderer NATO-Staaten die Hochrüstung.“17 Grundsätzlich in gleicher Weise war die Bundesrepublik verstärkt negativen Titulierungen ausgesetzt. Doch geriet der Tonfall hier nochmals feindseliger. Eine Probe aus dem Geschichtslehrbuch: „Am 13. August 1961, als die imperialistischen Klassenkräfte, die bereits zwei Weltkriege auf dem Gewissen hatten, die DDR militärisch ‚heimholen’ wollten und dafür den dritten Weltkrieg riskierten, wurde die Staatsgrenze der DDR zuverlässig gesichert. Das rettete den Frieden in Europa und legte den Grundstein für das weitere Aufblühen der Deutschen Demokratischen Republik.“18 Klassenkampf und Revolution Die marxistisch-leninistische Kampfund Revolutionsidee mitsamt Romantisierung kommunistisch-revolutionärer Ansichten nahm einen besonderen Bereich ein. Gerade der Kampf angeblich unterdrückter Staaten fand große Aufmerksamkeit und heftige Solidarität. Insbesondere Arbeiterlieder und -gedichte vermittelten dabei kämpferische und geradezu martialische Botschaften: „Als er so dalag, nahmen die Genossen/ Ein Tuch und deckten ihm zu das Gesicht./ Das Tuch war bald von Blut durchflossen/ Von dem zerschossenen Gesicht./ So lag er da. Er hatte kein Gesicht./ Wo sein Gesicht war lag die rote Fahne./ Genosse, lebe wohl! Als Fahne/ Weht uns voraus von jetztab dein Gesicht.“19
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Faschismus Der Themenkomplex Faschismus wurde in erster Linie benutzt, um den Sozialismus als antifaschistisch und antikapitalistisch zu charakterisieren. In der geschichtlichen Singularität nationalsozialistischer bzw. faschistischer Verbrechen erkannte die SED offenkundig ein enormes normatives Potenzial, was sie in den Schulbüchern, der kommunistischen Faschismustheorie folgend, massiv instrumentalisierte. So klang es beispielsweise: „Aus Furcht vor den organisierten Arbeitern wählten die herrschenden großen Kapitalisten die offene faschistische Diktatur.“20 An anderer Stelle: „(…) wenn die Faschisten fielen, war es sogar recht lustig. Fielen aber Sowjetsoldaten, dann meinte er, sie müßten gleich wieder aufstehen.“21 Im Fach Astronomie war zu finden: „Im Kapitalismus sind die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften der Raumfahrt den Machtund Profitinteressen der Monopole untergeordnet.“22
Bild-Quelle: Geschichte Klasse 9, 1989, S. 87
Marxismus-Leninismus Der Marxismus-Leninismus beinhaltet ein Weltbild im besten Wortsinn, aus dem Aussagen zu nahezu jedem Lebensbereich ableitbar sind. Dementsprechend lagen die marxistisch-leninistischen Lehren mehr oder weniger deutlich allen denkbaren Schulbuchäußerungen als Legitimation zugrunde, insbesondere den bisher beschriebenen Themengruppen. Zusätzlich ließ die SED in den Schulbüchern den Marxismus-Leninismus direkt bewerben. Aus dem Fundus an unzähligen Beispielen geradezu dialektisch: „Auf die Frage, die ein Schüler stellte, ob man alles glauben müsse, was Marx, Engels und Lenin geschrieben haben, kann man nur antworten, daß es nicht auf das Glauben ankommt. Man muß vielmehr davon überzeugt sein.“23 Und als Angebot formuliert: „Der MarxismusLeninismus, die Weltanschauung der Arbeiterklasse, bietet jedem eine solide geistige Grundlage, bewährte und feste Maßstäbe, ein sicheres wissenschaftliches Fundament.“24
Herrschaftssicherndes Potenzial der Unterrichtsfächer Ferner fällt auf, dass Aspekten des SEDeigenen Sozialismus monopolhaft positive Eigenschaften wie Friedensliebe, Modernität oder Fortschrittlichkeit attestiert wurden. Dies geschah fern jeglicher inhaltlicher Notwendigkeit, wenn etwa Karl Marx im Astronomieunterricht eingeflochten oder römische Zahlzeichen im Mathematikunterricht am Beispiel der Nummerierung von SED-Parteitagen eingeübt wurden.25 Im Fall der als kapitalistisch verschlagworteten Staaten verhielt es sich exakt umgekehrt: Diesen Ländern wurden ausschließlich negative Eigenschaften wie Kriegstreiberei, Krisenhaftigkeit oder historische Überlebtheit zugeschrieben. Bemerkenswert bleibt, dass die Schulbuchbestände dabei über Fächer- und Altersgrenzen hinweg zusammenwirkten. Was in der Fibel der 1. Klasse noch kindgerecht mit vielen Bildern transportiert wurde, sieht sich in den höheren Klassen immer enger an der SED- Diktion orientiert, dann allenfalls textlastiger dargeboten. Während ideologische Botschaften im Musikunterricht in Form von Liedern und im Lesebuch im Format von Gedichten vermittelt wurden, steuerten die Mathematik- und Physikbücher optisch passende Rechenaufgaben bei. Im Mutterspracheunterricht wurden Lückentexte genutzt. Im Geographieunterricht gab die Auseinandersetzung mit dem asiatischen Kontinent Gelegenheit für viel Lob an der Sowjetunion. Während dessen zeichnete der Astronomieunterricht das Bild einer US-Raumfahrt, die ausschließlich von kriegerischen Motiven geleitet ist. Auf diese Weise erfuhren die Schüler in ihrer jeweiligen Altersstufe immer wieder gleichförmige Botschaften: Das Bild einer menschenfreundlichen, zukunfts- und erfolgssicheren sozialistischen Gesellschaft im krassen Gegensatz zur aggressiven, krisenhaften und kapitalistischen Gesellschaft, der eine Zukunft abgesprochen wurde. Schließlich wurden die Schüler noch direkt zur Gefolgschaft aufgerufen: „Vorwärts, Freie Deutsche Jugend! Der Partei unser Vertraun!“26 Eine unverblümte Demonstration der Vereinnahmung des DDR-Schulwesens durch die SED und ihrer loyalen Schulbuchschreiber.
Titelthema Fazit Über alle untersuchten DDR-Schulbücher hinweg wird ein Weltbild aufgebaut, zu dem sämtliche Fächer anteilig beitrugen. Die immer gleichen ideologischen Botschaften wurden in unterschiedlichen Kontexten, Darbietungsformen und Sprachebenen wiederholt und ausgebreitet. Die Konfrontation der damaligen Schüler mit jenen manipulativen Inhalten war daher unvermeidlich. Obwohl die Instrumentalisierung oft dichotom, undifferenziert und stereotyp daher kam, war sie doch variantenreich und tiefgehend, was ein völliges Ignorieren erschwerte. Die Begegnung in der jugendlichen Prägungsphase mit dem DDR-Herrschaftssystem war somit unausweichlich, auch wenn mit zunehmendem Alter einzelne Schulbuchinhalte offene Ablehnung fanden oder zumindest Zweifel wachriefen. Anhand der Schulbücher wird evident, dass das DDR-Schulwesen an wesentlicher Stelle versagte. Schulische Bildung erstarrte in den Grenzen eines unantastbaren Weltbildes: Hier wurden keineswegs selbstbewusste, kritische, kreative oder mündige Köpfe gefördert. Im Verlauf des DDRSchulsystems wollte die SED keine selbstbestimmten Persönlichkeiten formen, sondern ,sozialistische Kader’ rekrutieren.
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5 Bildquellen: 1 Unsere Fibel, 1988, S. 73 2 Mathematik Klasse 1, 1984, S. 28 3 Mathematik Klasse 2, 1988, S. 79 4 Lesebuch Klasse 9/10, 1988, S. 114 5 Geschichte Klasse 9, 1989, S. 243
Dr. Lars Knopke, Erziehungswissenschaftler, Hohenmölsen
Quellennachweise / Anmerkungen
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1 Zu Theorie und Funktion der Schule und ihrer herrschaftlichen Instrumentalisierung vgl. Fend, Helmut: Neue Theorie der Schule, Wiesbaden 2006. 2 Auch in westlichen Schulbüchern sind immer wieder Verzerrungen, undifferenzierte Darstellungen oder Vorurteile nachgewiesen worden. Vgl. hierzu: Siebert, Horst: Der andere Teil Deutschlands in Schulbüchern der DDR und der BRD, Hamburg 1970; Füllberg-Stolberg, Claus: Die Darstellung der UdSSR nach 1945 in Geschichtsbüchern der BRD, Göttingen 1981; Markom, Christa / Weinhäupl, Heidi: Die Anderen im Schulbuch, Wien 2007. 3 Vgl. zu weiterführenden Untersuchungsergebnissen Knopke, Lars: Schulbücher als Herrschaftssicherungsinstrumente der SED. Wiesbaden 2011, sowie Knopke, Lars: Kinder im Visier der SED. Eine Untersuchung zur marxistisch-leninistischen Ideologisierung von Kindern und Jugendlichen im DDR-Schulwesen und darüber hinaus. Studien zur Zeitgeschichte, Hamburg 2007. 4 Unterrichtsmittel wurden durch das Ministerium für Volksbildung zugelassen (Hauptverwaltung Unterrichtsmittel u. Schulversorgung). 5 Zur Rolle der DDR-Schulbücher vgl. bei Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur, Bonn 1998; als zeitgenössische Quelle: Autorenkollektiv (Hg.): Schulbuchgestaltung in der DDR, Berlin(Ost) 1984. 6 Geschichte Klasse 9, 1989, S. 14. 7 Muttersprache Klasse 9/10, 1987, S. 80. 8 Musik Klasse 4, 1989, S. 9. 9 Muttersprache Klasse 7, 1990, S. 39, DSF = Deutsch-sowjetische Freundschaft. 10 Lesebuch Klasse 4, 1990, S. 8. 11 Geographie Klasse 10, 1988, S. 95. 12 Musik Klasse 9/10, 1986, S. 11. 13 Muttersprache Klasse 3, 1989, S. 17. 14 Physik Klasse 6, 1988, S. 21. 15 Musik Klasse 7/8, 1985, S. 38. 16 Musik Klasse 7/8, 1985, S. 170. 17 Staatsbürgerkunde Klasse 8, 1986, S. 78. 18 Geschichte Klasse 10, 1989, S. 8 f. 19 Lesebuch Klasse 8, 1986, S. 210. 20 Staatsbürgerkunde Klasse 7, 1985, S. 15. 21 Lesebuch Klasse 8, 1986, S. 227. 22 Astronomie Klasse 10, 1990, S. 51. 23 Muttersprache Klasse 9/10 ,1987, S. 18. 24 Staatsbürgerkunde Klasse 10, 1989, S. 183. 25 Astronomie Klasse 10, 1990, S. 7 bzw. Mathematik Klasse 4, 1986, S. 38. 26 Musik Klasse 4, 1989, S. 11./ Ausgabe 1/2012 / 19
Interview
Feuerzangenbowle und schreiende Ungerechtigkeiten Interview mit Rüdiger Schütz (Direktor der IGS „Grete Unrein“)
Die Integrierte Gesamtschule „Grete Unrein“ feierte im April 2012 ihr hundertjähriges Schuljubiläum. Wir sprachen mit Direktor Rüdiger Schütz, Jahrgang 1954, der in Jena zur Schule ging, hier studierte und seit 1980 Lehrer für Geschichte und Deutsch ist. Herr Schütz, wie haben Sie den historischen Abschnitt der DDR im Rahmen ihres Schuljubiläums eingeordnet? Wir haben keine Epoche besonders hervorgehoben. Für die Festwoche hatten wir zum Beispiel ein Schulmuseum eingerichtet. Zur Festveranstaltung wurden Geschichten aus hundert Jahren Schulhistorie vorgetragen, natürlich auch aus der DDR-Zeit. Dazu zählten plastische Augenzeugenberichte über die Ereignisse am 17. Juni 1953. Diese Erlebnisse waren für die damaligen Schüler ein ganz tiefer Einschnitt. Zum Teil waren in den Tagen danach die Klassen halbleer, ein großer Prozentsatz fehlte, weil manche Jenaer Familie die DDR in Richtung Westdeutschland verlassen hatte. Damalige Schüler und Schülerinnen haben diese Vorgänge direkt miterlebt, weil sie aus den Schulräumen einen Blick auf das Untersuchungsgefängnis am Steiger hatten und die gesamte Szenerie unmittelbar mitbekommen haben. Zum anderen beschäftigten sich die einzelnen Klassenstufen in der Festwoche mit der Geschichte ihrer Schule im Unterricht. Viele Zeitzeugengespräche wurden geführt, zahlreiche Ehemalige kamen im Vorfeld und brachten Erlebnisse oder persönliche Erinnerungsstücke mit. Viele reisten auch aus dem Westen Deutschlands an und wollten sich gemeinsam am Ort ihrer Schulzeit, aber ohne Groll, erinnern oder frühere Mitschüler wiedersehen. Wie gelingt der Umgang mit sehr unterschiedlichen Schulund Jugenderinnerungen? Wenn man sich an die eigene Schulzeit zurückerinnert, muss man selbst sehr gut aufpassen. Auf der einen Seite ist es ein Rückblick auf Zeiten, die oftmals verklärt sind und einen nostalgischen Charme erhalten. Bei Klassentreffen werden natürlich, das merke ich heute an mir selbst, meist nur die lustigen und schönen Begebenheiten erzählt. So eine Art „Feuerzangenbowlen-Gen“. Erst beim zweiten Hinhören kommen die Dinge hervor, die einen selbst in dieser Phase mächtig geärgert haben. Wahrscheinlich muss man die Schulzeit teilen. Die ersten Jahre sind meist von Unbedarftheit geprägt, wichtig und schwierig wurde es mit dem Pubertätsalter. Da erinnere ich mich beispielsweise an Folgendes: Vor dem Übergang an die Erweiterte Oberschule wurden wir zusammengerufen und vom Schulleiter instruiert: „Wenn ihr zur EOS geht, gibt es zwei große Regeln: Keine Jeans und keine langen Haare!“ Dann ist mit Abstand von 30 oder 40 Jahren wichtig, sehr individuell vorzugehen. Ich rate dazu: „Schaut genau hin. Wer ist mit Euch wie umgegangen?“ Auch an den Jenaer Schulen herrschte ein unterschiedliches Klima. Man konnte an eine Schule geraten, wo man sofort in die Mühlen der Politik geriet und gnadenlos zerstört wurde. Aber es konnte ebenso eine Schule sein, wo es relativ, ich betone „relativ“, friedlich und
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anständig zuging. Dabei war ein politischer Druck gewiss an allen Schulen vorhanden, aber mit unterschiedlicher Ausprägung und Auswüchsen. Wie erinnern Sie selbst die politisch motivierte Auswahl von Abiturienten? Für mich war es ein Privileg, ohne größere Hindernisse das Abitur zu machen. Aber zum Beispiel in der Verwandtschaft spürte ich den Widerspruch zwischen Leistungen und Herkunft frühzeitig. Es war wohl etwa die Regelung, zwei bis drei pro Klasse durften zur EOS und Abitur machen, etwa 12% aller Schüler und Schülerinnen. Aus unserer Sicht waren das schreiende Ungerechtigkeiten. Da gab es oft wochenlang Eingaben, aber letztlich hat es nichts genutzt. Das hat die Leben und Biographien derjenigen bis heute geprägt und sich tief eingebrannt. Doch heute ist es nicht wieder gutzumachen oder nachträglich aufzuklären. Später sind Sie selbst Lehrer geworden. Was waren Ihre Motive? Ich bin damals eher unbefangen an das Lehrer-Studium heran gegangen. Hier haben vor allem die biographischen Prägungen durch meinen Vater eine Rolle gespielt, der mir, trotz heftiger Konflikte und Brüche mit der DDR, ein differenziertes und spannendes Geschichtsbild vermittelt hat. Daher habe ich mich beinahe bewusst auf das Fach Geschichte eingelassen, nicht ahnend, was uns da erwartete. Aber auch die späteren Erfahrungen waren von Zweiseitigkeit geprägt. Wir haben dort gnadenlos indoktrinierende Leute und ihre Lehrmeinungen kennen gelernt, aber auch Personen, wie Prof. Peter Schäfer, erlebt, den ich bis heute verehre, weil er eine ganz andere, unverfälschte Sichtweise hatte. Wir haben also beide Extreme mitbekommen. Unter welchen Prämissen stand die Lehrerausbildung in den 1970er Jahren hier in Jena? Die Ausbildung war eindeutig und zielgerichtet angelegt. Man wollte uns zu jungen Geschichtslehrern erziehen, die später in der Praxis im Sinne des Staates unterrichten sollten. Das ist auch schnell deutlich geworden. Es waren teilweise harte Auseinandersetzungen. Damals wurden der Seminargruppe Unterschriftenlisten zur Exmatrikulation anderer Studenten oder für die Ausbürgerung von Wolf Biermann vorgelegt. Ich kam damals gerade frisch von der Armee, habe mich unwissend gestellt und einfach nicht unterschrieben. Mir ist nichts passiert und ich wurde nicht weiter belangt, aber andere flogen raus. Ich kannte Siegfried Reiprich noch aus der EOS „Johannes R. Becher“, auch von Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs wusste ich. Aus heutiger Sicht haben wir als Studenten sicher unbedarft reagiert und versucht, die Schlaglöcher die auf unserem Weg lagen, zu umschiffen. Ich habe keinen Widerstand geleistet, dazu zähle ich mich nicht, da war ich anders sozialisiert. In Repressionsmaßnahmen bin ich nicht geraten, manch-
Foto: GWS
Titelthema
mal aus Glück, manchmal vielleicht auch aus Nichtwissen. Wie informierten Sie sich über historische Zusammenhänge, die nicht in DDR-Büchern vorkamen? Erstens muss ich ehrlich sein, denn das Meiste haben wir so hingenommen und geglaubt. Wenn das heute einer abstreitet, dann lügt er einfach. Kritische Nachfragen wurden seltener gestellt. Manchmal gelang eine Diskussion mit dem Lehrkörper über historische Sachverhalte, wo es Fragezeichen gab. Stichwort: Massenmord von Katyn (1940). Als wir mit der Seminargruppe in Minsk waren, haben wir versucht, bei den russischen Professoren nachzufragen und sind auf ein eisiges Schweigen getroffen, haben keine Antwort erhalten, was freilich auch eine Antwort war. Welchen Alltag erlebten Sie als Lehrer? 1980, als ich hier anfing, sollten wir nach Wunsch der Schulleitung ein FDJ-Lehrerkollegium bilden. Und jetzt fangen wieder die feinen Unterschiede an. An einer anderen Schule wäre ich wohl in die Mangel genommen worden, doch auch andere junge Kollegen haben das damals abgelehnt und wollten auf keinen Fall im FDJ-Hemd auftreten. Nach ein paar Wochen Diskussion war das Thema durch. Solche Unterschiede innerhalb Jenas gab es auch in Bezug auf SED-Mitglieder im Kollegenkreis, an der POS „Grete Unrein“ waren es zum Beispiel weniger als die Hälfte der Lehrerschaft. Ab Mitte der 1980er Jahre gab es lebhafte Diskussionen, nicht unbedingt offene, aber Diskussionen, die man unbeschadet führen konnte. Ich habe daraufhin schlechte Beurteilungen bekommen, weil ich einen „bürgerlichen Standpunkt“ vertrat, aber mir ist nichts passiert. Ernst wurde es ab 1985, mit Beginn der Ära Gorbatschow, als wir nach der faulen Wurzel fragten. Diese Phase ist dann durch immer drängendere Fragen geprägt gewesen, insgesamt eine wilde Zeit. Ab 1988 flogen die Fetzen und nach den gefälschten Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 war der Damm gebrochen, ein Vorzeichen der Agonie des gesamten Systems. Unsere Klassen waren zum Beispiel bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Jena komplett vor Ort. In welcher Form gehen Sie als Lehrer mit der eigenen Vergangenheit um? Im Leistungskurs Geschichte stellen mir die Schüler auch heute noch kritische Fragen zur damaligen Zeit. Wenn ich Geschichte unterrichte, kann ich zum eigenen Anteil nicht nur mit den Schultern zucken. Ich stelle mich diesen Fragen. Deshalb ist es traurig, wenn Lehrer über diesen Zeitraum schweigen oder die DDR-Geschichte im Unterricht sogar meiden. Was waren in der Umbruchphase 1990 die wesentlichen Herausforderungen einer neuen Schul- und Bildungslandschaft für Jena? Ich habe zum Glück nicht alles weggeworfen, und wenn ich mir die Unterlagen dieser Zeit anschaue, dann galt es zunächst
die Tagesaufgaben zu bewältigen und die extremen Auswüchse zu beseitigen. Damals wurde der unabhängige „Interessenverband Bildung und Erziehung“ in Jena gegründet. Hier gab es drei ganz klare Aufgaben: Staatsbürgerkunde abschaffen, Wehrkundeunterricht abschaffen und eine Klärung der Schulleiterfrage. Alle Jenaer Schulleiter sollten freiwillig zurücktreten, was letztlich auch passierte. In die praktischen und bürokratischen Fragestellungen wurde sich Stück für Stück hinein gearbeitet. Es gab ja immer mehr Dinge, die wir selbstkritisch in Frage gestellt haben. Es galt neues Wissen wie ein Schwamm aufzusaugen und mit Selbsterlebtem abzugleichen. Es ging in nächtelangen Diskussionen um zeitgemäße Bildungspolitik und pädagogische Grundfragen. Aber da war auch ein Wutpotential vorhanden und wenig Gnade, das war ganz natürlich. In Jena verlief der Übergang eigentlich in friedlichen und gelenkten Bahnen. Aus dem Abstand von über 20 Jahren und mit mehr Gelassenheit stellt sich allerdings die Gerechtigkeitsfrage, die heute keiner mehr hören will: Mancher Parteibonze machte eine steile Wirtschaftskarriere und einige Lehrer mussten gehen. Aber der öffentliche Dienst ist nun mal der öffentliche Dienst, in dem es solche Umbrüche geben muss. Wo will man da den Maßstab anlegen? Welche Stellung hat die DDR-Zeit im Geschichtsunterricht für Sie heute? Da könnte ich mich heiß reden. Der Geschichtsunterricht im Ganzen befindet sich in einem totalen Umbruch. Wir können mit den bisherigen Mitteln und Methoden nicht so weiter machen. Wir denken noch immer, wir beginnen irgendwann in der „Urgesellschaft“ und kommen schließlich bei der Wiedervereinigung an, wo der Lehrplan offiziell aufhört. Gerade der Geschichtsunterricht befindet sich im Dilemma, weil ständig Wissen dazu kommt und nur eine begrenzte Stundenzahl übrig bleibt. Wir müssen junge Leute vielmehr fragen, was Geschichte für sie ist? Wir Älteren haben unsere eingefahrenen Vorstellungen, aber für junge Menschen bedeutet Geschichte vielleicht etwas ganz anderes. Ich merke, wenn es gelingt, Geschichte zu vermitteln, dann ist es das Menschliche daran, wenn es um Personen, Motivationen oder Handlungsweisen geht. Auch die DDR-Geschichte muss ich erst einmal genauso einordnen wie den Dreißigjährigen Krieg und Spartakus. Die Zeit von 1949 bis 1989 hat für mich keinen besonderen Bonus. Denn wenn ich mit meinen Schülern die DDR behandle, zum Beispiel den Herbst ´89, dann schauen die mich erst einmal genauso mit großen Augen an, als wenn ich vom Alten Fritz rede. Die emotionale Bindung ist nicht vorhanden. Ich muss also von meinem hohen Ross herunter kommen und versuchen, auf Augenhöhe zu reden und herausfinden, was sie an Geschichte interessiert. Und fragen: Was kann dir Geschichte geben und was bringt sie dir für dein Leben? Deshalb kann ich die ständigen Umfragen zum niedrigen Schulwissen nicht verstehen und bezweifle sie regelmäßig, etwa wenn es dort heißt, die jungen Leute wissen nicht mehr, wer Konrad Adenauer oder Erich Honecker ist. Das passiert, weil der Fokus heute ein anderer ist und Geschichte nicht den Lebensmittelpunkt darstellt. Allein die Fülle an Informationen, aus denen heutzutage ausgewählt werden muss, wird immer größer. Wenn diesen Prozess niemand vorbereitet und berät, dann kann er auch schiefgehen. Unsere Generation hatte damals ein Kofferradio und hörte auf Kurzwelle Radio Luxemburg, das war der ganze Stolz. Das Interview führte Daniel Börner.
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Schulalltag in der DDR
Gedichte zur Wahlberichtsversammlung Ein „besonderes Vorkommnis“ im Schuljahr 1987 Die kulturelle Umrahmung einer SEDParteiwahlversammlung an einer Jenaer Oberschule endete 1987 für eine Lehrerin mit fristloser Entlassung und einem Disziplinarverfahren. Ihr Plan, die in einem DDR-Verlag 1986 erschienenen, zeitkritischen Gedichte der Autoren Ralph Grüneberger und Steffen Mensching durch zwei Schüler rezitieren zu lassen, wurde vorab durch eine „operative Kontrolle“ unterbunden. Die Schul- und Parteileitung hatten sich einen „einheitlichen Standpunkt“ gebildet und die Gedichte für ungeeignet befunden. Die betroffene Lehrerin und Genossin rechtfertigte ihre literarische Auswahl für das Kulturprogramm daraufhin umfassend. In den Gedichten sei erstens der „revolutionäre Kampf der Arbeiterbewegung aufgegriffen in seiner Größe und Härte“, zweitens „die Hoffnung auf Frieden und Abrüstung“ sowie drittens „die positive Haltung der
Arbeiterklasse der DDR zu ihrer täglichen Arbeit zum Ausdruck gebracht“. Weiterhin appellierte sie an die Rezeptionsbereitschaft der Hörer und Leser, die einen „aktiven Aufnahmeprozess“ und „geistige Mitarbeit“ verlange. Der Literaturbegriff der Jenaer Lehrerin stieß allerdings nicht auf interessierte Rezipienten im Kollegenkreis. Nach ihrer Auffassung habe Literatur „nie nur eine ausschmückende, gefällig-umrahmende Funktion“, sondern solle mit „Wirklichkeit konfrontieren, zum Nachdenken über sich selbst, seine Haltung im Alltag, seinen Standort im gesellschaftlichen Umfeld anregen.“ Abschließend vermerkte sie, „Literatur und Lyrik sollten den Menschen auch dazu bewegen, sich zu bewegen. Eine Parteiwahlversammlung erschien mir dafür als ein nicht zu geringer Ort!“ Es gelang dem „Pädagogenkollektiv“ nicht mehr, ihre nunmehr ehemalige
Steffen Mensching
Tuchfühlung
Eine Rotzfahne, dieses Tuch, sagten sie, spuckten hinein und konnten es nicht beschmutzen, nur wir zogen es in den Dreck. Blutige Säuberungen. Vergaßen es und gruben es wieder aus und einige, die es beschworen, hatten es schon verloren, und einer besaß nichts weiter, eine Decke, im Schlaf, im Versteck, und ein anderer, oder derselbe, der ein anderer wurde, benutzte es als Serviette auf der Cocktail-Party, und einer bespritzte es mit Sperma, ein zweiter mit Urin, ein dritter mit Erdöl, und einer hißte es, von Scharfschützen umstellt, auf dem Dach des Hauptquartiers, und ein anderer küßte es in der Talkshow, und einige versteckten es im Keller, andere in der Brust, und wiederum andere versteckten sich dahinter, und andere verbrannten es, als es ihnen zu heiß wurde, und andere verbrannten sich selbst, und ganz andere zerrissen es nach einem Parteitag, während andere es zerrissen nach einem Gefecht, um die Wunden zu binden. Und einer stopfte es sich in den Mund, um nicht zu verraten, und kaute später darauf herum, um zu verraten, und kotzte heimlich hinein, denn er hatte verraten, und drehte sich daraus einen Strick, um sich nicht zu verraten, und wurde zu Grabe getragen, und auf seinem Sarg lag ausgebreitet das Tuch das Tuch, das wir immer wieder an den Ort schleppten, wo die drei Quellen zusammenfließen, um es zu waschen, seltsam, nur so verblaßte es nicht und erhielt seine Farbe zurück. 22 /
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Kollegin zu „einsichtigen und klassenmäßigen Positionen zu führen“. „Sie vertritt den Standpunkt, daß in unserer Partei Kritik geübt und die Wahrheit gesagt werden müsse, da es in unserer Partei Leute gäbe, die sich hinter Fehlern bewußt verstecken.“, heißt es in der abschließenden Stellungsnahme für den Stadtschulrat. Beide Poeten haben die seinerzeit inkriminierten Gedichte auf Anfrage zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Steffen Mensching (geb. 1958), berühmt geworden durch sein Liedtheater und das Zusammenspiel mit Hans-Eckardt Wenzel, ist seit 2008 Intendant am Theater Rudolstadt. Ralph Grüneberger (geb. 1951), seit fast drei Jahrzehnten umfassend im literarischen Feld tätig; als Autor, Organisator und Herausgeber, u. a. der Lyrikanthologie „Poesiealbum neu“. Daniel Börner
Ist dir aufgefallen, daß der amerikanische Soldat im Buchladen an der Kasse ein Bilderbuch kaufte für Kinder ab fünf Jahre, mit bunten Affen und Nashörnern, daß er dich anlächelte und an seinem Uniformknopf fummelte, als du zurücklächeltest, und daß dieser Augenblick, eine Sekunde oder zwei, sehr seltsam war, so verzweifelt, utopisch, blödsinnig hoffnungsvoll zeitlos kurz entwaffnend (Erstdruck beider Gedichte 1986.)
Ralph Grüneberger
Erich Prometheus Ich winke nicht mit dem Parteibuch Aufzusteigen, wie I. Karus aus der Schmelzerei. Ich weiß, wem ich anhänge. Das sage ich dir gradezu. Auch Wenn unser Organ, das beschwingte Was anderes ausscheidet. – Den Platz hier, Kaukasus? Den hab ich von der Gewerkschaft. Meine Kollegen sagen: Ich Wär mit dem Arsch an die Wand gekommen. Aber gucke du mal mit Dem Gesicht aus der Bestenstraße Und halt den Hintern nach vorn. Ich mache meine Arbeit Und einmal die Woche geh ich Zum Fußball. Aber nur zur zweiten Halbzeit. Ich kann nicht sehn Wenn einer die Seite wechselt. Jetzt Muß ich aber Schluß machen, meine Leber. (Erstdruck 1986.)
Titelthema
„Lernen, Lernen, nochmals Lenen“ Bemerkungen zu den neuerlichen Erinnerungen einer ehemaligen Ministerin für Volksbildung „Seit der Durchsetzung eines parteioffiziellen Deutungsmonopols in den Gesellschaftswissenschaften, darunter auch in den pädagogischen Disziplinen, Anfang der fünfziger Jahre, basiert die Darstellung des Bildungswesens in der DDR, also des eigenen Systems, auf den ideologischen Grundsätzen des Marxismus-Leninismus“ , beschreibt Oskar Anweiler die Grundlagen der Selbstreflexion von DDR-Wissenschaftlern in Bezug auf das in 40 Jahren zielgerichtet entwickelte Bildungssystem. Weiter stellt er in seinem im Jahr 1988 in der Bundesrepublik erschienenen Buch „Schulpolitik und Schulsystem in der DDR“ fest: „Dieser monistische Anspruch der herrschenden Ideologie, der eine Anpassung an die jeweils gültige Parteilinie einschließt, bestimmt bis zur Gegenwart auch den Charakter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Schulwesen im eigenen Lande […].“ Was hat die damals verantwortliche Ministerin für Volksbildung der DDR, Margot Honecker, von solcher Pauschalbewertung gehalten? Besser: Was hätte sie davon gehalten, wenn sie sich mit solchen Analysen aus dem Reich des direkt benachbarten Klassenfeindes befasst hätte? Wenn man aus dem Jahr 2012 zurückblickt auf dieses „System“ von Bildung und Erziehung, von Schule, Berufsbildung und Universitäten stechen zwei Phänomene hervor: Zum ersten haben sich Bildungsforscher und -soziologen, Erziehungswissenschaftler und Zeithistoriker auf Seiten der Bundesrepublik schon sehr früh und intensiv, auch bis zum überraschenden Ende des DDR-Staates mit dem Bildungswesen ihres sozialistischen Nachbarlandes auseinandergesetzt; die Mehrzahl dieser Beschreibungen und Analysen kann man rückschauend als durchaus freundlich „vergleichend“ bezeichnen. Nachzulesen ist dies unter anderem in den Werken von Dietmar Waterkamp und Wolfgang Hörner . Den Gipfelpunkt dieses offensichlichen (und öffentlichen) Interesses bil-
Jugendweihe der 31. Oberschule in Dresden, 1962, Foto: Martin Morgner/ThürAZ
det die von einer wissenschaftlichen Kommission (wiederum unter Leitung von Prof. Anweiler) erarbeitete umfassende Analyse der Bildung und Erziehung, die vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zwar erst 1990 herausgegeben, aber selbstverständlich schon zwei Jahre zuvor in Auftrag gegeben wurde.4 Aus dem Vorwort der damaligen Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, spricht die Bereitschaft zum Systemvergleich: „Beide Bildungssysteme werden nach dem Grad verwirklichter Chancengleichheit sowie nach dem Maß befragt, in dem das Bürgerrecht auf Bildung ernstgenommen wurde.“5 Die Ministerin scheute hier keine Forschungsergebnisse der rund 70 beteiligten Wissenschaftler, die der Volksbildung der DDR auch Vorteile oder gar Vorsprung im Systemwettbewerb zugestehen könnten. In diesem umfangreichen Werk von gut 700 Seiten wurde versucht, Realität darzustellen, nicht aber den monistischen Anspruch einer herrschenden Ideologie auf die alleinige „Wahrheit“, wie dies im SEDStaatswesen üblich war. Die für das Bildungssystem der DDR Verantwortlichen agierten am Ende der 1980er Jahre bereits mit eingeschränkter Wahrnehmung (als vorsichtigste Beschreibung von sozialer Schizophrenie und Heuchelei), die stets nur das „Positive“ des eigenen Systems in den Mittelpunkt stellten. Hätten sie sich um eine objektive, realistischere Perspektive bemüht, wäre ihnen die eigentliche Bedrohung des Untergangs ihres Systems be-
wusst geworden beim folgenden Satz der zuständigen Ministerin aus dem Westen: „In einer Untersuchung über das Verhältnis zwischen Bildungspolitik und Beschäftigungssystem wird der Gegensatz zwischen einer freiheitlichen Bildungsverfassung, die zugunsten der freien individuellen Wahl des Bildungsweges auch eine Überproduktion an Wissen und Qualifikationen in Kauf nimmt, und einer kontingentierenden staatlichen Bildungsplanung, die auchdie akademische Ausbildung eng an den vermeintlich berechenbaren Qualifikationsbedarf der Wirtschaft zu koppeln versuchte, eindrucksvoll verdeutlicht.“6 Zum zweiten fällt auf, dass sich die Erziehungswissenschaftler, Bildungshistoriker und Pädagogen in der DDR vor allem seit der Ära Erich Honeckers mit sich selbst beschäftigten, nicht nur eitle Nabelschau betrieben, sondern ihr DDR-Bildungssystem für das erstaunlichste und erfolgreichste der Welt hielten. Diese Eitelkeit war nicht nur ideologisch bedingt und nach außen penetrant, sondern beinhaltete sogar einen Ansatz von Wahrheitsgehalt. Mit Blick auf die Zeit zwischen 1945 und 1989 gab es bedeutende Fortschritte in der Bildungspolitik, die auch im Strudel des Untergangs des gesellschaftlichen Gesamtsystems DDR noch stolz resümiert wurden.7 Der klassenbewusste Stolz auf das Eigene war geprägt von Ignoranz gegenüber internationalen Entwicklungen (auch denen in der Sowjetunion!) und, noch bedenklicher, gegenüber den Vorgängen im eigenen
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„Lernen, lernen, nochmals lernen“
Land, die die ökonomische und politische Auflösung bereits signalisierten. „Jeder hat das gleiche Recht auf Bildung. Die Bildungsstätten stehen jedermann offen. Das einheitliche sozialistische Bildungswesen bietet allen Bürgern die Gewähr für eine kontinuierliche Erziehung, Bildung und Weiterbildung.“8 Gewiss klingen diese Sätze aus der Verfassung hoffnungsvoll, versprechen einen Bildungshimmel auf Erden – die mitteldeutsche Erde rutschte aber unter den Füßen der Belehrten stetig weg, ob man sich zu diesem ‚ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden‘ bekannte oder nicht oder auf dessen Zusammenbruch wartete oder gar etwas mehr dafür tat als das in der DDR von Anfang an übliche Entziehen in eine der blühenden Nischen. „Die Veränderung des Menschen, seiner Auffassungen und Haltungen, seines Bewußtseins und seiner Moral ist die größte historische Leistung, die der Sozialismus hervorbringt“9, erhoffte sich die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker noch 1986. Wie denkt sie heute, im Jahre 2012, zurück an die Utopie solcher wahrlich großartigen Zielsetzung? Bedenkt sie (auch für sich selbst) Lenins weisen und allgemeingültigen programmatischen Satz: „Lernen, lernen, nochmals lernen“? In dem soeben erschienenen, auf einem ausführlichen Interview basierenden Buch „Zur Volksbildung“, ergreift sie das Wort aus ihrem Exil im fernen Chile.10 Neben einer biographischen Einleitung versucht ihr Gesprächspartner und Vertrauter Frank Schumann – ehemals Journalist bei „Junger Welt“, IM „Karl“ und nun rühriger Verleger einer DDR-affinen Verlagsgruppe – alles so tiefgründig wie möglich zum Thema „Volksbildung in der DDR“ zur Sprache zu bringen. Erstaunliche bildungspolitisch-historische Überlegungen sind in den Antworten von M. Honecker nachzulesen: „Wir […] wollten eine umfassende Bildung, in der all das aufgehoben war, was in der Geschichte der Menschheit an Geist, Kultur, an ethisch-sittlichen Werten hervorgebracht worden war. Daraus leitete sich die nächste Frage ab: Reicht es, allgemein-menschliche Werte und Ideale in der Schule zu vermitteln? Verharrt man dabei nicht auf dem bildungsbürgerlichen Niveau? So sind schließlich auch Hitler, Himmler, Heydrich erzogen worden. Hitler wanderte regelmäßig nach
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Bayreuth und hörte Wagner, Himmler war Sohn des Rektors des humanistischen Wittelsbacher-Gymnasiums in München, Heydrichs Vater betrieb in meiner Heimatstadt Halle ein Konservatorium. Hat sie diese bürgerliche Erziehung daran gehindert, Barbaren zu werden?“11 Margot Honeckers ideologisch-geschichtlichen Ausflug in den deutschen Faschismus – da kennt sie sich aus – versucht Zuhörer Schumann ins Anthropologische zu erheben mit der Frage: „Kann aber Erziehung Barbarei verhindern?“ Hierauf schlägt die ehemalige Ministerin einen nachvollziehbaren Haken zur Machtfrage: „Nein, natürlich nicht. Da könnte man auch gleich der Auffassung folgen, dass beispielsweise Kriege und andere Verbrechen ausschließlich Resultat charakterlicher Defizite seien. Das ist nicht so: Geschichte ist Menschenwerk, sie wird allerdings nicht von einzelnen Personen, sondern von Klassen gemacht. Und die herrschende Klasse diktiert und setzt Ziele, sie schafft sich auch die Instrumente.“12 Dass in der DDR (angeblich) die Arbeiterklasse „diktiert“ und sich „die Instrumente“ geschaffen hat, ist eine historische Binsenweisheit. In der Diskussion bleibt weiterhin, welche Gründe und Ursachen das Scheitern des SED-Staates hatte. Fraglos war einer der Gründe, dass die (komplett) aus dem Bildungssystem der DDR entlassenen Staatsbürger sich danach nur halbherzig (auch halbköpfig) für die „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ engagierten, wie es aber notwendig gewesen wäre, um sie zu erhalten. Wenn aus den Absolventen der DDRVolksbildung auch keine Barbaren wurden, so teilten sie sich in den 1980er Jahren doch in wesentliche „Volks-Blöcke“ auf: Die einen wiesen erschrocken, kritisch auf die untergehenden Städte und verkommenen Landschaften hin; die zweiten beobachteten sie dabei und waren also sehr unproduktiv. Das Gros der Dritten machte mehr oder weniger willig die tägliche Arbeit und schielte dabei interessiert und neidisch auf die westlichen Nachbarn. Ob man diese Aufteilung des DDR-Volkes nun nachvollziehen kann oder nicht: Es war (bittere?) Realität. Freilich konnte man davor aus dem inneren Exil in Wandlitz die Augen verschließen und sich so an alte Träume und Illusionen klammern.
Pädagogische Gedanken aus Santiago de Chile, im März 2012 erschienen.
Heute schließt die inzwischen 85-jährige Margot Honecker rückwirkend die Augen vor der Einsicht, dass ein Bildungssystem nicht im luftleeren Raum existieren kann. Ihre Erinnerung wäre von klugen Lehrern im Fach Staatsbürgerkunde sicher als „undialektisch“ eingestuft worden. Begeistert äußert sie sich dazu, dass das heute pädagogisch führende finnische Schulsystem doch vieles von der DDR-Volksbildung übernommen und gelernt habe. Ihr Gesprächspartner nennt hier etwa die „Meldung bei Stundenbeginn an den Lehrer, die angespannt-angenehme Ruhe im Haus während des Unterrichts, sogar Wandzeitungen und eine ‚Straße der Besten‘“.13 Selbst die von den Schülern wenig geliebten „Fahnenappelle“ rechtfertigt sie, mit einem Anflug von Ironie: „Vielleicht gab es nur wegen der niedrigen Temperaturen in Finnland keinen Fahnenappell. Scherz beiseite: Ich verstehe nicht diese eigentümliche Aversion. Bei den Appellen handelte es sich doch nicht um eine militärische Übung, sondern es war eine Form der öffentlichen Zusammenkunft aller Schüler und Lehrer zur gemeinschaftlichen Verständigung. Jede wiederkehrende Form wird zum Ritual. Wo ist das Problem? Allenfalls dass Rituale verschleißen können und ihre Wirkung verlieren.“14 Nach dem Zusammenbruch der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ des SED-Staates DDR war – das kann nicht anders sein – auch das dort entwickelte „einheitliche sozialistische Bildungssystem“ nicht zu halten, wurde überflüssig, verschwand und ging auf in dem zum Teil ähnlichen, teilweise aber auch konträrem Bildungssystem derBundesrepublik. Darüber wurden einige scharfsinnige, einsichtige Analysen und Reflexionen verfasst und veröffentlicht.15 In einer übersichtlichen und leicht lesbaren Reflexion schreibt der Bildungsforscher Andreas Fischer: „Fast alles, was im Positiven wie im Fragwürdigen
Titelthema das Bildungssystem der DDR gekennzeichnet hat, gehört der Vergangenheit an – unter vielem anderen auch der für jeden Absolventen gesicherte Arbeitsplatz, die verglichen mit der ‚alten‘ Bundesrepublik traumhaft anmutenden Lehrer-Schüler- bzw. Lehrer-StudentenRelationen, die materielle Absicherung des Studiums durch Stipendien, wohl auch die institutionelle Verbindung von Lernen und Arbeit unter Produktionsbedingungen.“16 Wenn diese ambivalent angelegte Erinnerung (eines Westdeutschen) an das DDR-Bildungssystem auch sehr nivellierend und pauschal ausfällt, so scheint doch auch Wehmut mitzuschwingen. Auch dem Bildungswesen der BRD fehlte nach dem Untergang der DDR ein ‚Spiegel‘ für Erfolge und Missstände im eigenen System. Erstaunt liest man die (allzu späte) Einsicht eines der Protagonisten des DDR-Bildungssystems, des Präsidenten der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Gerhart Neuner. In einem Interview am 29. November 1989 (!) äußerte er: „Kommunistische Erziehung, von der wir seit Mitte der 70er Jahre gesprochen haben, oder Erziehung zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung, zur kommunistischen Moral, auch zum Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse, war einfach für eine Schule, die eine Einrichtung für alle Kinder des Volkes sein muß, nicht realistisch und zu eng.“17 Aus dem Zusammenbruch eines Gesellschaftssystems, auch aus dem Scheitern eines seiner Teilsysteme, kann und darf man Schlüsse ziehen, ja: Muss daraus lernen. Lenins kluges Wort von der Pflicht des Menschen zum Lernen sollte gerade für eine ehemalige Ministerin gelten. Es kann aber durchaus anregend sein, aus dem Bildungssystem der implodierten DDR zu lernen – denn „Es war doch nicht alles schlecht!“, wie der Volksmund gern und naiv wiederholt. Falsch muss das nicht sein, auch wenn dieser Volksmund die DDR-Volksbildung genossen hat. Martin Morgner, Historiker, Jena/Weimar
Quellennachweise / Anmerkungen
Fotografische Schulerinnerungen des Autors, Kreuzschule in Dresden, 1965; Foto: Martin Morgner/ThürAZ
Der Autor bietet im Sommersemester 2012 am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine freie Übung zum Thema an: „Das Bildungssystem der DDR zwischen Anspruch und Wirklichkeit“.
„Gammlertour“, Sommer 1966, Fotos: Martin Morgner/ThürAZ
1 Anweiler, Oskar: Schulpolitik und Schulsystem in der DDR, Opladen 1988, S. 15. 2 Ebenda. 3 Vgl. zum Beispiel Waterkamp, Dietmar: Das Einheitsprinzip im Bildungswesen der DDR (Bildung und Erziehung, Beiheft 3), Köln/Wien 1983; Wolfgang Hörner: Reflexionen zur Theorie und Praxis des intersystemaren Vergleichs – Vergleichende Erziehungswissenschaft, Methodologiediskussion und DDR-Forschung, in: Vergleichende Bildungsforschung. Festschrift für Oskar Anweiler, Berlin 1986, S. 47-60. 4 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, (= Materialien zur Lage der Nation), Köln/Bonn 1990. 5 Ebenda, S. X. 6 Ebenda. 7 Vgl. dazu: Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik: Das Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1989. 8 Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik: Das Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1989, S. 8. 9 Margot Honecker: Zur Bildungspolitik und Pädagogik in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1986, S. 523. 10 Margot Honecker: Zur Volksbildung. Gespräch mit Frank Schumann, Berlin 2012. 11 Ebenda, S. 38. 12 Ebenda, S. 39. 13 Vgl. Ebenda, S. 46. 14 Ebenda, S. 46f. 15 Vgl. u.a. Neuner, Gerhart: Pädagogik zwischen Allmacht und Ohnmacht. Referat auf der Tagung der Marx-Engels-Stiftung e.V. am 17./18. Oktober 1992 in Wuppertal. – Cloer, Ernst/ Wernstedt, Rolf (Hg.): Pädagogik in der DDR. Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung, Weinheim 1994. – Krüger, Heinz-Hermann/ Marotzki, Winfried (Hg.): Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Zwischen Systemvorgaben und Pluralität, Opladen 1994. – Döbert, Hans: Das Bildungswesen der DDR in Stichworten. Inhaltliche und administrative Sachverhalte und ihre Rechtsgrundlagen, Neuwied (u.a.) 1996. – Geißler, Gert/ Wiegmann, Ulrich: Pädagogik und Herrschaft in der DDR. Die parteilichen, geheimdienstlichen und vormilitärischen Erziehungsverhältnisse, Frankfurt a.M. (u.a.) 1996. – Häder, Sonja/ Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext (Bibliothek für Bildungsforschung, Bd.6), Weinheim 1997. – Wiegmann, Ulrich: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend in der Erziehungsideologie und -praxis des DDR-Geheimdienstes, Berlin 2007. 16 Fischer, Andreas: Das Bildungssystem der DDR. Entwicklung, Umbruch und Neugestaltung seit 1989, Darmstadt 1992, S. XI. 17 Ebenda.
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Interview
„Die Todesliste wird Jahr für Jahr länger“ Interview mit Ines Geipel (Autorin/ehem. Leistungssportlerin)
Ines Geipel, geboren 1960 in Dresden, hat als Autorin und Schriftstellerin zahlreiche tabuisierte, unterdrückte und verschwiegene Aspekte der DDR-Vergangenheit behandelt: Literarisch, wissenschaftlich, biographisch und auch autobiographisch. Seit 2001 ist sie Professorin für Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. Als ehemalige Leistungssportlerin war sie kürzlich Gast einer Diskussionsrunde im Rahmen der Ausstellung „KörperKämpfe. Jenaer Sportgeschichte(n)“ im Stadtmuseum Jena. Wir sprachen mit ihr über eigene Schulerinnerungen, die Sinnhaftigkeit sportlicher Vorbilder sowie die Rolle von Sportschulen damals und heute. Vor Ihrer Schulzeit in Jena waren Sie auf der Internatsschule in Wickersdorf, am Rande des Thüringer Waldes. Welche Erinnerungen haben Sie daran? Wickersdorf war eine Spezialschule für Russisch, ein Ort also, an den kein Jugendlicher der DDR normalerweise freiwillig hinwollte, ich aber musste. Ich litt unter der Trennung von zu Hause, verstand nicht, warum ich mit 14 Jahren von da weg sollte. Ich ging dahin als durch-und-durch indoktriniertes Kind. Heute denke ich, dass diese Trennung meine Rettung war. So ein Satz erklärt sich insbesondere durch meine obskure Familie und einen Vater, der Terroragent war. Davon erfuhr ich allerdings erst viel später, konkret im Jahr 2005. Aber wohin rettet man sich eigentlich, wenn man in einer sozialistischen Erziehungsdiktatur in Reinkultur wie Wickersdorf landet? Diese Schule hatte einen Patenschaftsvertrag mit der Staatssicherheit in Saalfeld. Mein Klassenlehrer war der Haupt-IM der Schule. Sein tragischer Suizid nach 1989 spricht Bände. Als ich in den neunziger Jahren im Zusammenhang mit meinem ersten Roman „Das Heft“ in der Stasi-Unterlagenbehörde in Gera anfing, zu Wickersdorf zu recherchieren, knallte mir der Sachberater einen Packen mit Akten auf den Tisch, die alle die handgeschriebene Banderole „erledigt“ hatten. Es ging um Minderjährige, die sich infolge von Stasi-Anwerbungen alle ebenfalls umgebracht hatten. Schrecklich. Aber das war meine Einflugschneise in der Beschäftigung mit Wickersdorf. Später kamen Sie an die Kinder- und Jugendsportschule Jena, auch wieder eine sogenannte Spezialschule. Worin unterschied oder ähnelte sich der Schulalltag in Wickersdorf und an der KJS? Auf den Punkt gebracht: Wickersdorf ging punktgenau gegen die Köpfe und Seelen der Jungen, die KJS gegen ihre Körper und Seelen. Beide Erziehungs-Konzepte wurden derart massiv umgesetzt, dass die Schüler sich davon oft nicht erholt haben. Wenn ich heute Wickersdörfler oder KJS-ler bei Lesungen oder Veranstaltungen treffe, fällt mir auf, wie sichtbar sich diese Zeit bei vielen eingezeichnet hat. Das zeigt sich insbesondere in der Verleugnung dessen, was da an Gewalt geschehen ist. Sehr weite Trauma-Felder.
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Postkarte 1977, Quelle: Archiv GWS
Die Sportschulen der DDR galten als Medaillenschmieden. Mit welchen Erwartungen, Wünschen und Träumen kamen Sie damals in Jena an? In erster Linie wollte ich weg von Wickersdorf. Denn dort musste ich unterschreiben, dass man Russischlehrerin wird. Das konnte ich nicht. Und na klar: Der Traum im Sport war vermutlich immer derselbe: Jungsein in der DDR und trotzdem was von der Welt sehen. Das Sportsystem im Osten funktionierte auch deshalb so gut, weil es diesen Köder gab. Das war die offene Flanke. Eine Trainingswoche war zwischen Unterricht und Sport aufgeteilt. Wie war beides im Alltag miteinander verzahnt und welche Wechselwirkungen bestanden? Es gab letzten Endes keine Verzahnung. Was im Training oder in der Wettkampfphase relevant war, fand statt, ohne Wenn und Aber. Die Schule spielte überhaupt keine Rolle, sondern passte sich irgendwie ein. Die Lehrer wurden meist gar nicht erst gefragt. Am besten war sowieso, man war als Athlet so unselbstständig wie nur irgend möglich. Dann wurde für einen alles schön passgerecht gemacht. Welche Reibungspunkte oder Konflikte erlebten Sie als Jugendliche bzw. junge Athletin innerhalb des DDR-Leistungssportsystems? Das ist eine lange Geschichte und hat viel mit dem eigenen Weg zu tun. Ich kam als absolut Gutgläubige, sicherlich Naive, und wurde am Ende als Politische stante pede rauskatapultiert. Dazwischen gab es jede Menge Tribunale, Bespitzelungen und Zersetzungsmaßnahmen. Das Ende meiner Sportkarriere hieß: Zehn Minuten Zeit, um die Klamotten zu packen und das Clubgelände zu verlassen. Die Frage nach der Vergabepraxis von „unterstützenden Mitteln“, also Doping-Präparaten wie Oral-Turinabol, ist Ihnen sicher schon hundertfach gestellt worden. Aber wie funktionierte die Einnahme praktisch: Von wem wurde sie vorgenommen, d.h. begründet und wie wurden Sie selbst als leistungsbereite Sportlerin „überzeugt“? Ich war 17, als ich beim Sportclub Motor Jena anlandete. Ich kam aus dem Wald, war also nicht der übliche KJS-Fall.
Ines Geipel während einer Veranstaltung der Geschichtswerkstatt, 2010, Foto: Baldur Haase
Aus der medizinischen Akte geht hervor, dass die Chemie von Anfang an eine Rolle spielte. Begründet wurde das damit, dass ich zu spät dran war und schnell an die Spitze rangeführt werden sollte. Die unsäglichen Faktoren des Medaillenregens sind heute offengelegt, eine geringe Entschädigung für DDR-Dopingopfer wurde erst vor wenigen Jahren mühsam ausgehandelt. Welchen Preis zahlen die tausenden Opfer, meist ehemalige KJS-Schüler/-innen, für jenen Medaillenwahn bis heute? Die Todesliste wird Jahr für Jahr länger, das Irreversible der körperlichen Schäden immer unabweisbarer, von der psychischen Dimension ganz zu schweigen. Viele ehemalige Athleten sind heute Hartz IV-Empfänger, eben, weil sie oft schlechte Abschlüsse haben. Man muss schon auf seltsame Art gesegnet sein, um sich diesen immensen Preis fern halten zu können. 1984 liefen Sie einen bis heute gültigen 4x100-Meter-Vereinsweltrekord, 2006 haben Sie, nach heftiger Diskussion, Ihren Namen aus den Statistiken streichen lassen. Wie begegnen Ihnen ehemalige Mitschüler/-innen oder Sprinterinnen heute? Es liegt wohl auf der Hand, dass sich die Begeisterung da in Grenzen hält. Durch Ihre Forschungen zum Staatsdoping in der DDR sind Sie mit unzähligen Biographien in Berührung oder auch in persönlichen Kontakt gekommen. Wie ist die gesellschaftliche und justizielle „Aufarbeitung“ in diesem Bereich gelungen? Es bleibt ein zweischneidiges Schwert: Einerseits war es politisch immens wichtig, dass die Prozesse stattfanden und sich Täter und Opfer an der Stelle endlich trennten. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Ja, es wurde zu der Zeit weltweit gedopt. Ja, es gab und gibt jede Menge Chemie im Sport. Aber kein anderes Sportsystem stellte ein so durchkalkuliertes Zwangsdopingsystem mit jeder Menge Menschenversu-
chen auf wie die DDR. Da bleibt ein deutlicher Unterschied, auch in den Schäden. Und das ist gesellschaftlich, aber auch juristisch völlig unaufgefangen. Ehemalige DDR-Athleten stehen heute weinend vor einem, sind seit Jahren auf der Suche nach ihren Akten und mit ihren körperlichen und seelischen Schmerzen völlig allein. Was sagen Sie denen? Die Sportstadt Jena spiegelt sich bis heute gern in vergangenen Erfolgen, ob Europapokalspiele oder Goldmedaillen. Eine Infragestellung der Umstände und Hintergründe trifft bei vielen auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Wie erklären Sie sich diese unverhohlene „Sport-(N)Ostalgie“? Es gibt ja diese Verklärung nicht nur im Sport. In meinen Augen ist das zuallererst ein Reflex auf eine verbaute Gegenwart. Wenn man mit dem Jetzt nicht klar kommt, vollziehen sich zwangsläufig Emigrationen ins Innere. Eins der inneren Märchen ist mittlerweile die DDR. Das Verleugnungskarussell dreht sich und vollführt mitunter bizarre Eiertänze. In den ansehnlich renovierten „Eliteschulen des Sports“ der jungen Bundesländer gibt es heute wieder „Lehrertrainer“ und sehnsuchtsvolle Rückblicke auf einstige Siege. Bisweilen fungieren die DDR-Sportschulen als gesamtdeutsche Modelle für erfolgreichen Leistungssport. Wie beeinflussen solche vermeintlichen Erfolgsentwürfe die momentan diskutierten Sport- und Leistungsgedanken? Die neuen Konzepte sagen: Reibungsverluste verhindern, mehr Effizienz, mehr Erfolg, weniger Unterricht. Man sagt freilich nicht mehr DDR, aber bei Lichte besehen, liegt unter dem schönen, neuen Vokabular das alte Sprachmaterial und so auch unangeschaut die Missbrauchskultur der DDR. Die Schulen heute sind alle bestens saniert, vieles ist anders, die Verhältnisse gemischter. Aber ja. Doch ich sehe den wirklichen Bruch nicht, zumal sich heute noch immer etliches altes Personal – Ost wie West – in der Nähe von jungen Talenten tummelt, das bisher keinen einzigen Satz zur eigenen Geschichte gefunden hat. Ein unerträgliches Risiko. Das Interview führte Daniel Börner.
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Schulalltag in der DDR
Unterwürfiger Ton an der EOS „Johannes R. Becher“ Wie in den 1970er Jahren Schüler diszipliniert wurden Dass die Jenaer Ostschule, die ehemalige Werner-Seelenbinder-Oberschule, heute den Namen Anger-Gymnasium trägt, hat seinen guten Grund. Als das AngerGymnasium geschlossen wurde und samt Lehrerschaft und Schülern in die Ostschule umzog, nahm man der Einfachheit halber den guten Namen mit, den sich diese Schule bereits ab 1990 erwarb. Der Name Erweiterte Oberschule „Johannes R. Becher“ wurde schon recht früh abgelegt. Der Abiturientenjahrgang 1989/90 erlebte sehr bewusst den politischen Umbruch in der DDR, und es ist Schülern dieser Schule zu verdanken, dass am 4. Dezember 1989 das Jenaer Bürgerkomitee alarmiert wurde, denn jene Schüler sahen dichte Rauchwolken aus dem Schornstein der gegenüberliegenden Stasi-Kreisdienststelle aufsteigen und vermuteten zu Recht weitere Aktenvernichtung. So konnten auch Aktenbestände, die Jenaer Volksbildung betreffend, glücklicherweise gerettet werden. Hier handelt es sich um eine wahre Fundgrube, geht doch aus den Konvoluten eindeutig hervor, wie dicht das Spitzelsystem an den Jenaer Schulen geknüpft war. Darunter befanden sich viele Schuldirektoren bzw. deren Stellvertreter, Schulinspektoren und außerdem ein Stadtschulrat. Ein Hauptfeind: Die Junge Gemeinde Die Volksbildung galt in den Reihen der MfS-Offiziere als besonders sensibler Bereich, etwa nach dem Motto: Wehret den Anfängen, also Widerspruch oder gar oppositionelles Verhalten, selbst in der Unterstufe nicht zuzulassen bzw. zu bekämpfen. Insofern war es keine Überraschung, dass auch Rudolf Merbach, Direktor der Johannes-R.-Becher-Oberschule bis zum Schuljahresende 1988, sich später als Stasi-Spitzel entpuppte. Ein Hauptfeind der Jenaer Staatssicherheit war die evangelische Kirche und deren Junge Gemeinde. Aus den nachfolgenden Protokollen lässt sich ablesen, wie „Schild und Schwert der
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Partei“ die SED-Ideologie in der Praxis umsetzte. Am 5. Juni 1969 fand im Dienstzimmer des Jenaer Stadtschulrates Kurt Geyer in Anwesenheit des Stasi-Unterleutnants Gellert eine Aussprache mit den drei Direktoren der Erweiterten Oberschulen (EOS) statt. Was die drei Direktoren, Rudolf Merbach (EOS „Becher“), Müller (Spezialschule „Carl Zeiss“) und Arnold (EOS „Grete Unrein“), zu diesem Zeitpunkt nicht wussten: Kurt Geyer, seit 1966 Stadtschulrat, hatte schon lange Kontakte zum MfS, ohne allerdings verpflichteter Spitzel zu sein. Das erfolgte erst Jahre später. Aber das Ergebnis dieser Aussprache war, dass sich alle drei Direktoren vorbehaltlos bereit erklärten, mit dem MfS zusammenzuarbeiten. „Das Thema [der Beratung] war das ständige Anwachsen der Mitgliederzahl der ‚Jungen Gemeinde’ unter den Schülern der EOS und die damit verbundenen Aufgaben der Volksbildung in der politisch-ideologischen Erziehung der Schüler und die Aufgabenstellung des MfS in dieser Hinsicht unter Einbeziehung patriotischer Kräfte der Lehrerschaft.“ Dabei führte Geyer aus, dass es viele Probleme mit Eltern gegeben habe, da sie die „Erziehung zum Hass auf den Imperialismus“ nicht mittragen wollten. Und in aller Deutlichkeit ist dem Bericht des Unterleutnants Gellert zu entnehmen, dass sich das MfS nicht scheute, auch Minderjährige als Inoffizielle Mitarbeiter zu gewinnen: „Im weiteren Verlauf der Aussprache kamen wir dann darauf zu sprechen, wie wir gemeinsam vorgehen können, mit der Zielstellung, innerhalb der Schüler, die Mitglieder der ‚Jungen Gemeinde’ sind, Vertrauensschüler zu finden. Anmerkung: Das heißt für uns, dieses wurde in der Aussprache von dem Unterzeichneten nicht gesagt, diese Schüler als IM zu gewinnen ... Alle drei Direktoren erklärten sich zur Zusammenarbeit mit dem MfS bereit, weil sie erkannten, dass nur im gemeinsamen Vorgehen der Volksbildung und MfS die Probleme der Jugend, jeder auf seiner Ebene, gelöst werden können.“ Schon Mitte 1970 wurde Rudolf Merbach als
GMS geführt, wobei aus den erhaltenen Akten nicht hervorgeht, wann er berufen worden war. Ein Ergebnis der oben genannten Aussprache: Er benannte am 22. Juli 1970 drei Schüler einer 11. Klasse, die nach seiner Meinung geeignet waren, in die Reihen der Jungen Gemeinde geschleust zu werden. Handschriftlich vermerkte Unterleutnant Schmidt: „Der X wird überprüft, ob möglicher Einsatz als IM besteht.“ (Ob eine Werbung erfolgte, geht aus den Merbach-Akten nicht hervor.) Am 4. Juni 1971 wurde der GMS Merbach in das FIM-System „Sachse“ eingegliedert. Bei „Sachse“ handelte es sich um den 1970 eingesetzten Direktor der Carl-Zeiss-Spezialschule, Dr. Winfried Leiterer, Reg.-Nr. X/568/69). Merbach war nicht sonderlich überrascht, seinem Duzfreund unterstellt zu werden und ihm fortan seine Berichte zu liefern. Was Merbach nicht wusste, aber möglicherweise ahnte: FIM „Sachse“ hatte noch weitere Inoffizielle zu beschäftigen. Im Jahre 1971 waren es bereits dreizehn. „Sachse“ war 1969 geworben worden und für das MfS von solchem Wert, dass man ihn 1972 zum FIM umregistrierte. Die Arbeit erledigte er „äußerst gewissenhaft und sauber“ – bis zum politischen Umbruch 1989. Unter seinen IM befanden sich auch zwei Schüler der EOS „Johannes R. Becher“, dazu Spitzel in seiner eigenen Schule, der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) und der Polytechnischen Oberschule (POS) „Adolf Reichwein“. Die Spitzeldichte dieses FIM-Systems blieb im wesentlichen bis 1989 konstant. Die Hauptaufgabe dieser beiden Direktoren war es, jene Schüler zu benennen, die in politischer Hinsicht negativ auffielen und nicht einsehen wollten, dass der Marxismus allmächtig, weil wahr sei. Religiöse Bindungen galt es besonders auszuschnüffeln, weil es nach allgemeiner DDR-Lesart schon genügte, in die Nähe des Staatsfeindes gerückt zu werden. Ein weiteres Hauptthema: Schüler, die sich bereits in der 8. Klasse mündlich oder sogar schriftlich verpflichtet hatten, nach ihrem Abitur NVA-Offizier oder
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zumindest Soldat auf Zeit (drei Jahre Wehrdienst) zu werden, erfuhren bei mangelnden schulischen Leistungen gesonderte Förderung oder man sah großzügig über Verfehlungen hinweg. Jene Ungerechtigkeiten, auch was die Zulassung zur EOS anging, brachten so manche Familie dazu, einen Ausreiseantrag zu stellen, zumindest damit zu drohen oder (eines der probatesten Mittel, die DDR zu „erpressen“) den Volkskammerwahlen fernzubleiben. In einigen Fällen führte letzteres sogar zum Erfolg, doch hier gibt es nur wenige Aussagen und kaum verwertbare Aktenvermerke. Schulverweis wegen eines kritischen Gedichts So wie sein Führungs-IM „Sachse“ arbeitete auch Merbach außerordentlich zuverlässig und wurde am 10. Februar 1972 verpflichtet, sich einen Decknamen auszusuchen: „Um zu gewährleisten, dass der Informationsfluss auf der inoffiziellen Basis zwischen FIM und GMS tiefgründiger wird, wurde beschlossen, dass der GMS sich einen Decknamen zulegt“, heißt es in der Akte. Was unter „tiefgründigerem Informationsfluss“ zu verstehen ist, bleibt das Geheimnis des Führungsoffiziers, Unterleutnant Schmidt, der diesen fortan als GMS „Max Herfurth“ zu bearbeiten hatte. Wie es zuging an der EOS „Johannes R. Becher“ zeigt ein Beispiel aus dem Jahre 1975. Die Stasiakten haben den „Vorfall“ getreulich überliefert: Die Schülerin Silke F. (Klasse 10/1) sollte als Fazit der obligatorischen Johannes-R.-Becher-Festtage im April 1975 ein Gedicht ihres Klassenkameraden Matthias B. vortragen, aber dazu kam es nicht, weil der Klassenlehrer dies untersagte und das Gedicht sofort an seinen Direktor weiterleitete. Zwei der Strophen lauteten: „VIII. J.-R.-Becher Festwoche – Rammeln von Veranstaltung zu Veranstaltung. Die einige mehr, die andere weniger interessant. Insgesamt: Kraft, Nerven, Zeit – vergeudet.“
„Johannes-R.-Becher-Oberschule“, ab 1990 „Anger-Gymnasium“. Das Gebäude gehört heute zur Jenaer Stadtverwaltung. Foto: Stadtarchiv Jena
Oder: „Gespräch mit NVA-Angehörigen: Reines Agitationsgefasel. Woll’n uns wohl für doof verkaufen. Blöde Fratzen mit Topfschnitt. Allgemein: Alles rein politischer Quatsch!“ Matthias B., übrigens FDJ-Sekretär seiner Klasse, wollte sein Gedicht, so das Protokoll des Direktors Merbach, nach eigenem Bekunden als Denkanstoß verstanden wissen, die Festtage künftig inhaltlich besser zu gestalten. Doch GMS „Max Herfurth“ war nicht zu überzeugen. Nach einer Beratung mit seinem FIM wurde B., ohne weitere Diskussion, sofort der Schule verwiesen. In allen Klassen fanden entsprechende Versammlungen statt, wobei sich nahezu alle Schüler, meist nicht mal den genauen Inhalt des Gedichts kennend, von B. zu distanzieren und den Schulverweis zu begrüßen hatten. Haupttenor der schriftlichen Stellungnahmen und Äußerungen: Heuchler bzw. Schüler mit zwei Gesichtern. Alle Klassenlehrer waren angehalten, bei Merbach zunächst mündlich Stellung zu nehmen und dann eine schriftliche Distanzierung der jeweiligen KO-Leitung (Klassenorganisation der FDJ) nachzureichen. Merbach übergab die gesammelten Äußerungen an FIM „Sachse“, der die Meinung der Lehrer und Lehrerinnen in seiner Handschrift getreulich notierte: „Er hat sich entlarvt.“ – „Welche Beweggründe haben ihn zur Schauspielerei bewogen? Der hat doch zwei Gesichter.“ – „Heuchler können wir nicht
gebrauchen.“ – „Wir brauchen karakterfeste und starke Menschen, wollen solche erziehen und bilden. Ein solch labiler Schüler ist bei uns fehl am Platze.“ Zum Schluss notierte FIM „Sachse“: „Der größte Teil aller Schüler bejahte die Handlungsweise des Direktors. In weiteren Diskussionen wurde kritisch bemerkt, dass Matthias B. nicht früher ‚erkannt’ worden ist.“ Dies alles spielte sich im April 1975 ab. Vier Jahre zuvor war Erich Honecker in der Nachfolge Walter Ulbrichts auf dem VIII. SED-Parteitag mit den Slogans angetreten: „Sachlich, kritisch, optimistisch“ und „Alle erreichen, keinen zurücklassen“. Die Worthülsen entpuppten sich schon wenig später als solche. Spätestens 1973 hatte Honecker diesem vermeintlichen Liberalismus im Umgang mit „negativen Elementen“ abgeschworen. Was mit Matthias B. an der Jenaer EOS „Johannes R. Becher“ geschah, war nichts anderes als ein altes stalinistisches Ritual, kollektiv einen „Volksfeind“ zu entlarven (bezeichnender Sprachgebrauch „zwei Gesichter“), ihn kollektiv zu verurteilen, mit Schmutz zu bewerfen und schließlich noch zu erhöhter Wachsamkeit aufzurufen. Merbach, alias „Max Herfurth“, hatte nichts anderes gelernt. 1946, gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, besuchte er einen elfmonatigen Lehrgang für künftige Pädagogen und wurde bereits 1951 Direktor der Jenaer Nordschule, erhielt 1962 den Titel „Oberlehrer“, wurde Schulinspektor und schließlich Direktor der gerade erbauten EOS mit Namen des
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Unterwürfiger Ton an der EOS „Johannes R. Becher“
1958 verstorbenen Staatsdichters und Kulturministers. In einer Stasi-Beurteilung vom 16. September 1980 heißt es dementsprechend: „Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, dass es sich bei Genossen Merbach um einen klassenbewussten Genossen unserer Partei handelt, der in der Vergangenheit und in der Gegenwart bewiesen hat, dass er seiner Aufgabe als sozialistischer Erzieher unserer Jugend in jeder Weise gerecht wird“. Inzwischen waren jedoch Lehrer-Generationen herangewachsen, die als Grundvoraussetzung für den Beruf eine Universität, eine Pädagogische Hochschule oder ein Institut für Lehrerbildung (Unterstufe) absolvieren mussten, also solchen Direktoren wie Merbach in Wissen und Bildung überlegen waren. Dennoch wurden Merbach & Co. bis zum Schluss in ihren Ämtern belassen. Sie waren unverzichtbare Parteiarbeiter und wurden mit Auszeichnungen und Geldprämien geradezu überschüttet. Zum Schluss trug Merbach sogar den Titel Oberstudienrat. Solche Pädagogen erhielten übrigens und zusätzlich zum üppigen Direktorengehalt vom MfS eine monatliche Zuwendung, Leiterer 200 Mark, Merbach 150 Mark. Leiterer war übrigens gleich zweimal Träger der „Medaille für treue Dienste“ in Bronze (1974)
und in Silber (1979). In der Begründung für den Silber-Orden heißt es auch: „Der FIM fühlt sich mit unserem Organ verbunden und sieht es als eine Ehre an, mit uns zusammenzuarbeiten.“ Schon sehr früh mit der Stasi verbandelt Ein weiteres FIM-System in der Jenaer Volksbildung war nicht minder effektiv als das System „Sachse“. Es wurde 1984 installiert und hatte insofern große Bedeutung, als ihm kein Geringerer vorstand als Oberstudienrat i. R. Kurt Geyer (FIM „Fritz Lehmann“, Reg.-Nr. X/783/84), von 1966 bis 1984 Stadtschulrat und bereits offiziell mit der Stasi verbandelt. Geyer, mit allen Wassern der Volksbildung gewaschen, war 1946 auf SED-Kurs gegangen, nach einem mehrmonatigen Neulehrerkurs zunächst Grundschullehrer und stieg nach dem dreijährigen Besuch der SEDParteihochschule „Karl Marx“ in Berlin als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler vom stellvertretenden zum Stadtschulrat in Saalfeld auf, bis er 1966 nach Jena berufen wurde. Da er als rüstiger Rentner nun mehr Zeit als vorher in seiner Funktion hatte und nahezu alle Lehrer der Stadt mehr
Alle Klassen, von der 9. bis zur 12., mussten derartige „Stellungnahmen“ zum Verhalten und zum Gedicht ihres Mitschülers Matthias B. abgeben. Hervorzuheben ist der unterwürfige Ton im zweiten Absatz: „Matthias, würde er an der Schule bleiben, könnte später in einer leitenden Funktion seine konterrevolutionäre Meinung auf andere übertragen.“, Quelle: BStU Gera
Thema der Aussprache: Das ständige Anwachsen der Mitgliederzahl der Jungen Gemeinde, Quelle: BStU Gera
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oder minder gut kannte, war er für das neue FIM-System der wohl geeignetste Mann. Er führte bis 1989 folgende Inoffzielle Mitarbeiter: „Heinz Liebert“, (Reg.-Nr. VIII/1042/76), Klarname Hartmut Lorenz, stellvertretender Direktor der Polytechnischen Oberschule „Clara Zetkin“. Die Direktorin der POS „Rosa Luxemburg“, Gabriele Wennek, die 1986 geworben wurde und den Decknamen „Janine“ (Reg.-Nr. X/294/86) führte. Helga Grätzer als Direktorin der POS „Karl Liebknecht“, die sich 1986 als GMS „Siggi“ verpflichtet hatte (Reg.-Nr. X/13/86). Die GMS „Vera Bach“ (Reg.Nr. X/910/86) hieß im wirklichen Leben Eva Wachs und war stellvertretende Direktorin der POS „Wilhelm Pieck“. Die POS „Friedrich Wolf“ wurde von Christa Plehn geleitet, die sich ebenfalls 1986 verpflichtete und den Decknamen „Erika Lysenkow“ erwählte (Reg.-Nr. X/236/86). Zum Schluss kam noch der GMS „Rudolf Hauptmann“ (Reg.-Nr. X/100/85) hinzu. Er hieß Jörg Janßen und war als Fachgruppenleiter „Wehrerziehung“ in der Abteilung Volksbildung des Rates der Stadt Jena tätig, wechselte 1988 als Museumspädagoge ins Stadtmuseum. Ob auch Sieglinde Schubert, Geyers Nachfolgerin im Amt des Stadtschulrates diesem erlauchten Kreis angehörte,
Titelthema muss noch recherchiert werden. Zumindest war ihr erster Stellvertreter, KlausPeter Geßner, unter dem Decknamen GMS „Kämpfer“ (Reg.-Nr. X/679/87) ein eifriger Zuträger. Von weiteren Jenaer Schuldirektoren, die entweder zum FIM-System „Sachse“ gehörten oder direkt von einem hauptamtlichen Führungsoffizier der Jenaer Kreisdienststelle geführt wurden, ist eine MfS-Tätigkeit hinreichend bekannt und durch Akten belegt. Es waren dies beispielsweise Lutz Geisendorf, mehrfach stellvertretender Direktor an anderen Schulen und 1987 zum Direktor der POS „Fichte II“ berufen (GMS „Dieter Schulz“ – Reg.-Nr. X/1327/88), Michael Liebeskind, Leiter der Schulinspektion (GMS „Walther Scharf“ - Reg.-Nr. X/905/89), der am 14. Juli 1989 zum GMS berufen worden war. Sein Vorgänger, Horst Thieme (GMS „Dieter Thiem“ – Reg.-Nr. X/1676/80) gehörte ebenso dazu wie Gerda Pawlik, die bereits 1971 angeworben worden war und sich den Decknamen „Petra Müller“ zulegte (Reg.-Nr. X/738/70), 1985 nach mehreren Stellvertreterposten Direktorin der POS „Schaxel II“ wurde. Auch sie arbeitete sofort mit „Sachse“ zusammen und war dermaßen erfolgreich, dass sie bereits 1972 ein eigenes FIM-Netz mit vier Spitzeln leitete, und zwar bis 1979.
Diese Aufzählung ist nach Lage der Dinge bei weitem nicht vollständig, zumal hier viele Fachlehrer bzw. andere Direktoren, die sich als GMS oder IM verpflichtet hatten, aus Platzgründen keine Berückichtigung finden konnten. Fakt aber ist: Die meisten Stasi-Werbungen unter den Jenaer Pädagogen fanden auf Empfehlung von „Sachse“, „Max Herfurth“ bzw. „Fritz Lehmann“ statt – für die Jenaer MfS-Kreisdienststelle allemal eine Garantie, dass eine künftige Zusammenarbeit aus „politischer Überzeugung“ erfolgen würde. In der Tat: Keiner der auf diese Weise empfohlenen künftigen Spitzel, ließ eine ablehnende Haltung erkennen oder sagte gar Nein. Im Gegenteil: Jeder ließ sofort entsprechende Begeisterung erkennen, so dass sich der „Plan zur Werbung“ zumeist auf ein einziges Kontaktgespräch beschränken konnte.
Rockstars Jimi Hendrix aufmerksam. Nach den Umständen befragt, gaben sie an, seine Musik zu lieben. Ein namentlich nicht bekannter IM ließ seinen Bericht dem FIM „Sachse“ zukommen, der ihn unkommentiert an seinen Führungsoffizier, Unterleutnant Schmidt, weiterleitete, der ebenfalls ein völlig ahnungsloser Musikbanause war. Der Spitzel hatte herausgefunden, dass sich der Vorfall auf eine „über das Westfernsehen ausgestrahlte Gedenksendung bzw. Nachrichten zum einjährigen Todestag des bekannten westdeutschen Schlagersängers Jimi Hendrix“ bezog. Es macht natürlich ein gewisses Vergnügen, die offensichtliche Ignoranz dieser Pädagogen zu belegen. Es stimmt jedoch nachdenklich, dass solcherart Lehrer einst auf DDR-Schüler losgelassen wurden. Heinz Voigt, Journalist, Jena
Jimi Hendrix – ein westdeutscher Schlagersänger Zum Schluss noch was Besonderes. Am 18. September 1971 waren drei Schüler der Erich-Weinert-Schule (Westschule) im weißen Hemd und schwarzer Krawatte zum Unterricht erschienen. Sie machten damit, so hatten sie das zuvor verabredet, auf den ersten Todestag des
Quellennachweise / Anmerkungen 1 In Jena gab es seinerzeit nur drei Schulen, die das Abitur und damit die Möglichkeit für ein späteres Studium anboten. Zur EOS zugelassen zu werden, unterlag strengen Richtlinien. Bevorzugt wurden in den Jahren bis etwa 1975 Jugendliche aus Arbeiterfamilien, auch wenn deren schulische Leistungen unter der Norm lagen. Kindern von Pfarrern oder Intellektuellen gelang es nur mit Mühe und über mehrfache Einsprüche, an eine EOS aufgenommen zu werden. Das änderte sich erst nach Honeckers Machtantritt 1971, als seine Gattin, Volksbildungsministerin Margot Honecker, das geistige Potenzial der Akademikerfamilien erkannte. Aber dennoch blieb Grundvoraussetzung für die EOS-Zulassung: Zumindest vordergründig zur Schau gestellte Treue zur DDR. Männliche Bewerber wurden gesondert bevorzugt, wenn sie sich schon in der 8. Klasse bereit erklärt hatten, nach dem Abitur als Offizier der Nationalen Volksarmee zu dienen. Jeder, der bis 1989 eine EOS besuchte, wird diese Praxis (und deren spätere Umgehung) bestätigen können. 2 Bericht des Stasi-Unterleutnants Gellert vom
6. Juni 1969 in der GMS-Akte „Max-Herfurth“ (X/1680/80). 3 Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit. 4 FIM bedeutet Führungs-IM, d. h. er steuerte gleichzeitig mehrere Spitzel, die ihm Berichte zuleiteten, welche er wiederum seinem Führungsoffizier übergab. 5 Es war dies bis November 1989 Praxis, auch wenn die Unterschrift eines Minderjährigen gegen geltendes DDR-Recht verstieß. Auf diese Weise konnte so mancher das Abitur ablegen – im Hintergrund jedoch der Plan, die Verpflichtung bald zu widerrufen. Das wiederum hatte in aller Regel zur Folge, dass diese Abiturienten entweder sofort zur NVA eingezogen wurden oder das geplante Studium erst viel später aufnehmen konnten, wenn sie dann überhaupt einen Studienplatz erhielten. 6 Gerade vor anstehenden Wahlen machten zahlreiche DDR-Bürger von dieser Drohung Gebrauch. Einige erhielten tatsächlich eine bessere Wohnung, einen Telefonanschluss oder – die Krönung – etwas eher als andere einen Trabi oder einen Wartburg.
Jimi Hendrix (1942-1970), seine Musik war unter Jenaer Lehrern um 1970 eher unbekannt, Foto: Sammlung Voigt
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Zeitgeschichte
Autoritär und gewalttätig Die geistigen Wurzeln des Neonazismus in der späten DDR Die rechtsextreme Mördertruppe stammte aus Jena. In den östlichen Bundesländern sitzt die NPD in vielen kommunalen Parlamenten. Das Risiko für einen Ausländer, hier Opfer einer Gewalttat zu werden, ist um ein Vielfaches höher als im Westen. Dennoch will man keine spezifische Problemlage anerkennen. Eilig werden solche Stimmen als „Ossi-Schelte“ abgewehrt. Schließlich gebe es auch im Westen die NPD und überhaupt, ist die nicht erst 1990 aus dem Westen in den Osten rüber gekommen? Aber kann man ignorieren, dass schon am Anfang der 1980er Jahre in den MfSBüros operative Vorgänge angelegt wurden, um rechtsextreme Jugendgruppen zu bearbeiten? Schüler und Absolventen des antifaschistischen Schulsystems provozierten Schlägereien mit mosambikanischen und algerischen Vertragsarbeitern, aber auch mit westdeutschen Besuchergruppen. Sie artikulierten ihren Protest mit aggressiven, neonazistischen und DDR-kritischen Parolen. „Hängt alle Roten“ wird mit einem Hakenkreuz kombiniert, neben „Juden raus“ stand „Russen raus“. In einer Lehrlingsgruppe wurden im März 1989 der FDJ-Sekretär und sein Stellvertreter, Sohn eines MfS-Offiziers, regelrecht gefoltert. Die Täter bekannten sich offen als Skinheads. Einer trug ein Eisernes Kreuz, ermittelte das MfS. Aber auch unter den Älteren im „Blankenhainer Schrebergarten“ mischte sich das Gemecker über den Staat mit Zitaten aus „Mein Kampf“ und dem Absingen faschistischer Lieder. In der NVA fanden sich Gruppen zusammen, in denen man sich mit NS-Rangbezeichnungen ansprach, Großdeutschland in den Grenzen von 1937 und am 20. April Hitlers Geburtstag feierte. Diese Einstellungen sind bis heute nicht verschwunden. Die jährlichen Thüringen-Monitore ermitteln seit über zehn Jahren nahezu stabile Werte an ausländerfeindlichen, nationalistischen Einstellungen bis weit in die Mitte der Bevölkerung hinein. Kann man ernsthaft annehmen, dass zwei Diktaturen
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mit menschenrechtsfeindlicher, ideologischer Beeinflussung keine Spuren hinterlassen haben? Widerstand und aktive geistige Gegenwehr wurden immer nur von kleinen Minderheiten getragen. Die große Mehrheit begnügte sich doch eher mit dem weltanschaulichen Angebot der Mächtigen. Rechtsextremisten tragen in Ost und West die gleichen politischen Forderungen vor, sind gewalttätig, verüben Verbrechen mit den gleichen Zielen und Mitteln. Aber das geistig-ideologische Umfeld, aus dem sie sich rekrutieren und in dem sie auf Akzeptanz stoßen, hat in den neuen Ländern Wurzeln in der marxistisch-leninistischen SED-Ideologie. Eine Analyse dieser Ideologie ist unerlässlich, wenn man Methoden ersinnen will, sie endlich erfolgreich zu überwinden. In der Wahrheit leben Václav Havel beschreibt in seinem Buch „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ die geistige Welt der Machthaber in der damaligen Tschechoslowakei als eine „logisch strukturierte, allgemein verständliche und in ihrem Wesen sehr elastische Ideologie, die in ihrer Komplexität und Geschlossenheit den Charakter einer säkularisierten Religion erreichte. […] Wird sie akzeptiert, greift sie tief in die menschliche Existenz ein. Sie bietet dem irrenden Menschen eine leicht erreichbare ‚Heimat‘. Man braucht sie nur zu akzeptieren und gleich wird alles wieder klar, das Leben bekommt einen Sinn und es gibt keine Geheimnisse mehr, keine Fragen, keine Unruhe und keine Einsamkeit. Für diese billige ‚Heimat‘ muss der Mensch freilich teuer bezahlen: Mit der Absage an seinen eigenen Verstand, sein Gewissen und seine Verantwortung: Ein integrativer Bestandteil der übernommenen Ideologie ist das Delegieren des Verstandes und des Gewissens an die Vorgesetzten, das heißt das Prinzip der Identifizierung des Machtzentrums mit dem Zentrum der Wahrheit.“ Solch eine Ideologie, wie sie auch die DDR beherrschte, bietet Welterklärung und
Identifikationsmuster, die zwar der vorfindlichen Wirklichkeit nicht immer genügen, innerhalb ihrer eigenen Grenzen aber flexibel reagieren können, mit Tauwetter oder Frostperioden, oder mit neuen Ideologemen wie der „Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft“, in der nunmal noch ein paar „Widersprüche“ existieren, die es zu überwinden gilt. Wesentlich aber ist, dass die Ideologie hinreichend plausibel ist, damit Menschen, die sich selber für vernünftig halten, noch ohne Peinlichkeit Gefolgschaft leisten können. Der Antifaschismus war in der Ideologie der DDR-Kommunisten ein wesentliches Mittel der Plausibilität und der Beheimatung. Antifaschismus und Frieden, die oft als Wortpaar auftraten, waren die übergreifenden, nicht hinterfragbaren Setzungen, denen sich niemand entziehen, denen niemand widersprechen konnte und die allen ein gutes Gewissen verschafften. Die SED und der Nationalsozialismus – instrumentalisierter Antifaschismus Im Erschrecken über die Nazi-Verbrechen und die Kriegsniederlage war der Antifaschismus attraktiv, „er band zahlreiche Intellektuelle moralisch an die Kommunisten“ . Natürlich distanzierten sich die neuen Machthaber vom NSRegime, das Kommunisten verfolgt, den Krieg ausgelöst und die Sowjetunion überfallen hatte. Der Judenmord spielte dabei kaum eine Rolle. Aber mit der Abkehr vom alten System verknüpfen sich viele große Hoffnungen. Doch die neuen Machthaber verwendeten den Antifaschismus als Drohung und als Lockung. So wurden die Hoffnungen alsbald enttäuscht. Die Denunziation blühte erneut, die Denunzianten waren nicht selten dieselben und die Wahrheit spielte kaum noch eine Rolle. Der kam am besten durch, der schnell die neuen Vokabeln und Lieder lernte. Und schnell nahmen die Leute wahr, dass es nicht vor allem gegen belastete Nazis ging, sondern um diejenigen, die die SED kritisierten und ihre Vorrang-
Zeitgeschichte
stellung hinterfragten. Nach zwölf Jahren Leben in der Diktatur gab es kein Fragen nach Verstrickung und Schuld, keine Aufarbeitung, denn per Definition wurde das Problem in den Westen abgeschoben: Dort herrschte weiter der Kapitalismus, der Nährboden des Faschismus, und alle Flüchtenden, die dorthin gingen, seien ohnehin Nazis gewesen. Konrad Weiß sieht darin den Anfang der „braunen Stafette“, wie er 1989 in einer Samisdatzeitschrift notierte. Scham und Reue wurden nicht zugelassen. „Dem lauthals verkündeten humanistischen Anspruch […] stand alsbald der stalinistische Terror […] entgegen. Das diskreditierte die antifaschistische Idee.“ Da gab es keine innere Abkehr der Bürger von den nationalsozialistischen, rassistischen Überlegenheitsphantasien. Sie lebten als „politisch indifferente oder sich sozialistisch gebärdende Bürger“, aber in den Denkund Handlungsmustern vermittelten sich Dünkel und Selbstgerechtigkeit an die Enkel weiter. Vor allem war der Antifaschismus ein Angebot der SED an die Verstrickten, die Verführten, die Gleichgültigen, die Wegseher, die Denunzianten und sogar die Mittäter des Dritten Reiches, um Unterwerfung zu signalisieren. Während die Blockparteien CDU und LDPD ein striktes Verbot hatten, ehemalige NSDAP-Mitglieder aufzunehmen, lud die gerade zusammengegründete SED NSDAP-Genossen zur Mitgliedschaft ein: „Nomineller PG, die SED ruft Dich zur Mithilfe am Neuaufbau Deutschlands“, heißt es 1946 in einem Schreiben der SED Sonneberg an ehemalige NSDAPMitglieder. „Wenn Du […] aus Überzeugung und Idealismus einstmals zur NSDAP gegangen bist […] im Glauben, das Gute, den Sozialismus zu finden, dann komme zu uns! […] Wenn Du Hitler gefolgt bist, um Deutschland zu dienen, so bist Du unser Mann.“ Aber man musste nicht gleich in die SED eintreten, um sich reinzuwaschen. Die SED gründete 1948 die NDPD als Angebot an die „Klein-Nazis“ zur Mitarbeit im „demokratischen Block“. Bis 1989 blieb dieses
Bild Seite 33/35 Lesebuch für die Jüngsten, Quelle: Unsere Fibel, 16. Aufl., Berlin: Volk und Wissen, 1989.
Kunstprodukt völlig von der SED abhängig. „Wir verlangen nicht den negativen Nachweis des nicht Belastetseins, des Neutralseins, sondern den positiven Nachweis des Mitmachens.“ sagte Wilhelm Zaisser, der erste MfS-Chef 1949. Dieser Beweis war auf vielfältige Weise möglich. Das MfS bot zum Beispiel die Chance zur Wiedergutmachung durch inoffizielle Mitarbeit. Aber auch beim Aufbau der NVA, der Justiz, der Medizin, der Polizei und des Bildungswesens konnten Nazifunktionäre sich bewähren. Für die überlebenden jüdischen Bürger in der DDR brachen bald wieder schwierige Zeiten an. In der Sowjetunion verfolgte Stalin die Juden unter dem Vorwurf des Kosmopolitismus, der inhaltlich der Nazipropaganda über das jüdische, weltweite Finanzmonopol durchaus ähnlich war. In der Tschechoslowakei liefen 1952 die Slansky-Prozesse, in denen parteiinterne Machtkämpfe mit antisemitischen Auswüchsen gefochten wurden. Auch in der DDR gab es Maßnahmen gegen Juden. „Die Räume der jüdischen Gemeinden wurden durchsucht, Gemeindevorsteher verhört und zahlreiche Juden verhaftet. Sie sollten in ähnlichen Schauprozessen als „Werkzeuge der in-
ternationalen Finanzoligarchie“ entlarvt und als „Agenten der jüdischen Weltverschwörung“ verurteilt werden.“10 Dies veranlasste „führende Vertreter der kleinen jüdischen Gemeinden, die Juden in der DDR aufzufordern, das Land zu verlassen.“11, woraufhin mindestens 500 Juden sofort ausreisten. Da die DDR sich weder rechtlich noch moralisch in der Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten sah, wurden die Enteignungen und „Arisierungen“ jüdischen Eigentums weder rückgängig gemacht noch entschädigt. Als „Opfer des Naziregimes“ erhielten verfolgte Juden eine deutlich geringere Unterstützung als die als „Verfolgte des Naziregimes“ qualifizierten kommunistischen Widerstandskämpfer. Am Ende der DDR umfassten die jüdischen Kultgemeinden weniger als 1500 Menschen, in den Gemeinden konnten oft die vorgeschriebenen zehn Männer für den Gottesdienst nicht mehr gefunden werden. In den nach der Auflösung der sowjetischen Speziallager an den KZ-Standorten entstehenden „Mahn- und Gedenkstätten“ spielte die Ermordung der Juden kaum eine Rolle. Dagegen wurde – bis zur Überdehnung der historischen Fakten – der kommunistische Wider-
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Autoritär und gewaltätig
stand gegen das NS-Regime hervorgehoben. Für die schulische Erziehung der „sozialistischen Persönlichkeiten“ spielte der Antifaschismus eine wichtige Rolle. Schon in der Grundschule lernten die Pioniere ihr großes Vorbild Ernst Thälmann als Helden, liebevollen Freund Teddy und Verfolgten des Naziregimes kennen. In der Pflichtlektüre des Deutschunterrichts (Bruno Apitz: Nackt unter Wölfen oder Anna Seghers: Das Siebte Kreuz), im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht, im Heimatkundeunterricht der Grundschulen waren die kommunistischen Antifaschisten Hauptthema. Nicht selten wurden (instruierte) Zeitzeugen eingeladen. Einen Abglanz solcher Zeitzeugenstunden konnte man am 27. Januar 2012 im Thüringer Landtag erleben. Mit Stentorstimme beschwor ein neunzigjähriger Überlebender des KZ Buchenwald, der in den 1970er Jahren der erste Leiter der pädagogischen Abteilung der DDR-„Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“ wurde, den antifaschistischen Block. Eine tiefere Reflektion über die Ursachen fehlte ebenso wie jede solidarische Geste zu den GULagHäftlingen, die seine Vorredner zu diesem Anlass stets gefunden hatten. Fast alle Jugendlichen in der DDR besuchten diese Mahn- und Gedenkstätten. Ich selber habe den Besuch als Achtklässlerin (1974/75) in Buchenwald in traumatischer Erinnerung. Ohne reflektierende Einführung waren wir Installationen des Grauens ausgesetzt, kontrastiert von übermenschlichen Heldengeschichten kommunistischen Widerstands. Viele Klassenkameraden flüchteten sich in emotionale Abschottung und Zynismus, ich selber – und wohl auch einige andere – hatte lange Alpträume und konnte glücklicherweise durch Gesprächsmöglichkeiten im Elternhaus an der Bewältigung dieser Eindrücke arbeiten. In der Schule war nur Verurteilung, kein Nachfragen möglich. Die einzige angebotene Handlungsoption war der „antiimperialistische Kampf“.
sozialistischen Vaterlandes gegen imperialistische Aggressoren“, der „nationale Befreiungskrieg“ und der „revolutionäre Bürgerkrieg gegen reaktionäre und konterrevolutionäre Kräfte“ gerechte Kriege, wogegen imperialistische und konterrevolutionäre Kräfte grundsätzlich ungerechte Kriege führten. Man sieht schon: „keine Fragen, keine Unruhe und keine Einsamkeit, sondern die billige ‚Heimat‘. Die Botschaft heißt: Gewalt, die „wir“ ausüben, ist immer gerechtfertigt. Geschichtsphilosophisch beschrieb der Marxismus-Leninismus die Historie als einen ständigen Klassenkampf. Immer wieder hätten sich die unterdrückten Klassen und Schichten erhoben, um die Herrschenden hinwegzufegen. Die Klassenkampfsituation habe sich verschärft, seit mit dem Auftreten des Kommunismus in der Welt die Unterdrücker ihr Ende vor Augen hätten, was allerdings nur ihre Aggressivität und Gefährlichkeit gesteigert habe. Im Schulbuch klingt das so: „Für den Klassenkampf gibt es keine wichtigere Frage als die Erhaltung des Friedens, die Verhinderung eines von den reaktionären Kräften des Imperialismus vorbereiteten nuklearen Weltbrandes“12 oder „Da der Imperialismus seinem Wesen nach aggressiv ist, müssen wir auch mit einer realen Kriegsgefahr rechnen.“13 Der mit diesem Feindbild verbundene Anti-Amerikanismus hatte sehr konkrete Auswirkungen auf jugendliche Leser. Denn die Bedrohung existierte nicht nur durch Feinde von außen, sondern diese fänden ihre Verbündeten ebenso im Inneren. Westliche Musiktitel durften anfangs öffentlich gar nicht, später nur streng quotiert gespielt werden. Fanclubs, Langhaarige und Jeansträger wurden bis in die 1970er Jahre
hinein an den Schulen diszipliniert oder vom MfS verfolgt. Mit einer ständigen Bedrohungskulisse wurde die Militarisierung der gesamten Gesellschaft voran getrieben. Im Kindergartenalter wurden NVA-Soldaten als große Brüder und lustige Beschützer in Bilderbüchern präsentiert. Schon im Lesebuch der ersten Klasse liegen Soldaten auf Friedenswacht oder schreiben nette Briefe von der Grenze. Die paramilitärische Organisation „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST), die auch über eigene Uniformen verfügte, hatte das Monopol auf alle technischen Hobbies wie Funken, Flugmodellbau, Segel- und Motorflug. Kinder, die technisch interessiert waren, mussten der Organisation beitreten, um ihr Hobby ausüben zu können. Der Zivilverteidigung wurde das Deutsche Rote Kreuz unterstellt. Diese Organisationen waren auch an der militärischen Ausbildung der Schulkinder beteiligt. Während die diensttauglichen Jungen in der 9. Klasse ein Wehrerziehungslager zu absolvieren hatten, wurden die Mädchen in einem Zivilverteidigungslager militärisch und in Grundbegriffen der Ersten Hilfe ausgebildet. Dabei spielte die angebliche amerikanische (wahlweise NATO-) Bedrohung mit einem Atomwaffenangriff eine zentrale Rolle. Die große Masse der Jugendlichen durchlief ab 1978 diese Ausbildungsabschnitte. Gegen das Übermaß an „Rotlichtbestrahlung“ gab es eine gewisse Überdruss-Immunisierung, aber die Ideologen konnten doch auch in die Herzen und Hirne eindringen. Die Angst vor dem Atomkrieg war weltweit verbreitet und sich mit unterdrückten Menschen lidarisieren, ist ein humanitärer Impuls.
Gewalt ist erlaubt – gegen die Klassenfeinde „Der Krieg entwickelte sich mit der Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln.“, heißt es im Kleinen politischen Wörterbuch von 1973. Demnach sind der „Krieg zur Verteidigung des
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Israel als Maschinengewehr der USA, Quelle: Geschichte in Übersichten. Wissensspeicher für den Unterricht, Berlin: Volk und Wissen, 1988, S. 501.
Zeitgeschichte
Aus einem Kinderbuch, Quelle: Ich freu mich auf den nächsten Tag. Geschichten, Gedichte und Zeichnungen von Kindern aus der „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“, Berlin: Kinderbuchverlag, 1977.
Aber diese Gefühle wurden durch Halb wahrheiten und ganze Lügen erzeugt und instrumentalisiert. So haben FDJler durchaus mit Engagement für Nicaragua oder Mosambik gesammelt, ohne sich darüber klar zu sein, dass mit dem Geld Waffen geliefert wurden. Die Verlogenheit des Antifaschismus und die innere Aufrüstung trafen sich im Anti-Israelismus. Der Staat Israel wurde als Satellitenstaat der USA dargestellt, der das palästinensische Volk, das eine „sozialistische Orientierung“ habe, angreift, unterdrückt und ermordet. In den Schulbüchern wurden die Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn allesamt als Aggressionskriege im Auftrag der USA interpretiert. Kein Wort von der existentiellen Bedrohung des jüdischen Staates, keine Regung eines besonderen deutschen Verhältnisses zu diesem Staat. Konrad Weiß spricht von einer regelrechten Feindschaft der DDR zu Israel: „Deutsche haben nach Auschwitz wiederum Juden verfolgt und aus dem Land getrieben, haben sich mit den blutigen Feinden Israels solidarisiert und ihnen Geld, Waffen und brüderliche Hilfe für den Kampf gegen die Überlebenden der Shoah gegeben.“14 Dorothea Höck zitierte 1988 das soeben erschienene „Taschenlexikon für Zeitungsleser“: „Holocaust steht heute vor allem als Synonym für Völkermord. […] Mit
Holocaust wird gelegentlich auch der Ausrottungsfeldzug der israelischen Imperialisten gegen das palästinensische Volk beschrieben.“15 Antisemitismus, Antijudaismus waren also durchaus erwünschte Geisteshaltungen und „Du Jude“ als Schimpfwort auf dem Schulhof fand selten offiziellen Einspruch. So war der Antifaschismus der DDR ein „gebrochener Antifaschismus – gebrochen, wie man sein Wort bricht. Gebrochen, wie Ideale zerbrechen.“16 Ideologische Gesetzmäßigkeiten Ein langlebiges Ideologem der DDR ist das von der „Gesetzmäßigkeit der Geschichte“. In den immerwährenden Fortschritt durch Klassenkampf kann sich der einzelne nur einordnen, zusehen, dass er auf der richtigen Seite steht. Die bipolare Einteilung der Welt, in Unterdrücker und Unterdrückte, in Böse und Gute erleichterte die Orientierung. Selbstverständlich sind „die Guten“ berechtigt, jede Art von Gewalt gegen „die Bösen“ anzuwenden, die selbstverständlich immer nur eine Reaktion auf die Aggression oder aggressiven Absichten der „Bösen“ ist. Das geschieht am besten unter der Führung derjenigen, die alles durchschaut haben, die Bescheid wissen, die einem Ruhe und Ordnung im Gang der Geschichte (und des eigenen Lebens)
garantieren. Die totalitären Propagandisten fangen damit auch die Zukunftsangst auf. „Im Bündnis mit den unfehlbar verläßlichen Kräften der Geschichte […] ermöglichen sie die Flucht aus der Wirklichkeit in die Einbildung, von dem Ereignis in den notwendigen Ablauf der Geschichte“17. Eigenverantwortliches Handeln aus individueller Einsicht war daher überflüssig, barg Risiken und konnte unversehens in die Isolation führen. Nun darf man sicher nicht davon ausgehen, dass die ideologischen Setzungen vollständig von den Schülerinnen und Schülern des DDR-Schul-Systems übernommen wurden. Allgemein wurden die Zustimmungsrituale auf den Schulhofappellen, auf FDJ-Veranstaltungen und bei der Jugendweihe überwiegend als peinlich empfunden und vor allem aus Gründen der Konfliktvermeidung absolviert. Es muss aber bedacht werden, dass andere geistige Angebote stark verknappt, für viele Jugendliche daher unerreichbar waren. Die Zeitschriften und Blätter des Samisdat erschienen in kleinsten Auflagen und auch wenn jedes Exemplar viele Male weitergereicht wurde, konnte nicht von einer Breitenwirkung gesprochen werden. An wie vielen Abendbrottischen wurde wirklich über diese Fragen diskutiert? Waren hier nicht vielmehr die alltäglichen Sorgen an
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Autoritär und gewaltätig Quellennachweise / Anmerkungen
der Reihe: Beschaffungsprobleme, das Fortkommen der Kinder, die Situation im Betrieb? Und wir wissen heute, dass viele Eltern, sogar politische Gefangene und Opfer des Kinderheimsystems, geschwiegen haben, um ihre Kinder nicht in Gewissenskonflikte zu stürzen. Dieses Ideologiegebäude des kommunistischen Systems verlor in den 1980er Jahren zunehmend an Plausibilität. Im gleichen Zeitraum tauchen unter Jugendlichen immer stärker neonazistische Parolen auf, häufig mit dem Ausdruck der totalen Ablehnung des DDR-Staates verbunden. Der jugendliche Protest bediente sich des stärksten Feindbildes und konnte sich dabei auf autoritäre Muster und zuweilen auf nazistische Überlieferungen von Älteren stützen. 1989 brachen die letzten Fassaden des kommunistischen Ideologie-Gebäudes zusammen. Viele Jugendliche erlebten ihre Eltern in den frühen 1990er Jahren als extrem verunsichert und orientierungslos. Arbeitslosigkeit, von der viele mehr oder weniger lange betroffen waren, verunsicherte und ließ so manchen in eine Sinnkrise stürzen. Die erlernten Strategien zum (Über-) Leben in der Mangelwirtschaft wurden bedeutungslos. Der Pluralismus überflutete die Menschen, von deren Maßstäben nur kleinbürgerliche Tugenden blieben. In dieser Situation hatte das Ideologie-Angebot der Neonazis etwas Vertrautes: Klare Antworten, Sinn fürs Leben, keine Fragen, keine Einsamkeit, statt zu den Siegern der Geschichte gehörte man nun zur überlegenen Rasse. Klaus Schröder hält „die Erziehung zum Klassenhass, das vereinfachende Freund-FeindDenken, das den Menschen eingebläut wurde“ für gefährlich. Es gebe „eine Fixierung auf starke Worte und starke An-
führer. Bei einigen, vor allem unter den Jüngeren, ist das auf fruchtbaren Boden gefallen. Dann verschwand die Mauer, aus Klassenhass wurde Rassenhass.“18 Eine auf Kosten anderer leicht erreichbare Heimat. Wieder konnte sich das schwache Selbstbewusstsein an externen Stützen aufrichten. Das Führerprinzip bietet die vertraute Delegierung von Gewissen und Verantwortung an „die da oben“. Diese Bilanz führt zu der Frage, ob die Instrumente, die heute gegen den nationalsozialistischen Geist eingesetzt werden, geeignet und ausreichend sind, um Freiheit und Demokratie attraktiv zu machen. Die Versuchung, der falschen Ideologie mit der einfachen Botschaft der political correctness zu begegnen, ist groß. Aber sie stößt schnell an ihre Grenzen, wenn Multikulti-Konzepte scheitern und der Dialog der Kulturen in der Unverbindlichkeit stecken bleibt, dass doch jeder Lebensentwurf seine Berechtigung habe. Vielmehr müssen wir nach Strategien suchen, wie die Freiheit, die Verantwortung für sich und die anderen übernimmt, auch in einer multikulturellen, religiös vielfältigen Gesellschaft auf tiefer reichende Fundamente gegründet werden kann. Und nach Mitteln und Wegen, die Begeisterung dafür in unseren Kindern zu wecken. Bundespräsident Joachim Gauck ist in das Amt gewählt worden, obwohl er angeblich „nur“ dieses eine Thema kennt. Am Ende seiner Amtszeit wird hoffentlich klar sein, dass es unser Zukunftsthema ist. Hildigund Neubert, Landesbeauftragte des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Erfurt
1 BStU, MfS Ast EF, BV Erfurt, KD Weimar, Nr. 128; das MfS listete aufgefundene „Hetzlosungen“ auf: „Hängt alle Roten“, Hakenkreuz, „ ScheiSS-Staat“, „das System gehört in den Mülleimer“; BStU Archiv Ast. Erfurt, KD Weimar, Nr. 1324, Information 39/89: Am 3. August 1989 sprühten Schüler der Louis-Fürnberg-Oberschule im Goethepark: „Juden raus“ neben „Russen raus“. 2 BStU, MfS, AG XXII 10, Bericht vom 26.4.1989. 3 BStU, Archiv Ast. Erfurt, KD Weimar, Nr. 218, Information vom August 1989. 4 Eisenfeld, Bernd: Formen widerständigen Verhaltens in der Nationalen Volksarmee und bei den Grenztruppen in: Neubert, Ehrhart/ Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht–Ohnmacht–Gegenmacht, Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001, S. 231 ff. 5 Havel, Václav: „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, Reinbek 1990 (Erstauflage 1980) S. 12f. 6 Neubert, Ehrhart: Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR in: Courtois, Stephane u.a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 839. 7 Weiß, Konrad: Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext, Heft 5, März 1989, zitiert nach Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, Politischer Samsidat in der DDR 1985 bis 1989, Schriftenreihe des Robert-HavemannArchivs, Berlin 2002, S. 392ff. 8 Zeitschrift Horch und Guck, Rückseite der Ausgabe Nr. 74, Dezember 2011. 9 Wilhelm Zaisser im März 1949, in: Leide, Henry: NS-Verbrechen und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2006, S. 46 f. 10 Weiß, Konrad: Antisemitismus und Israelfeindschaft in der DDR, Nicht nur ein historisches Thema, Online-Extra Nr. 34, http://www.compassinfodienst.de/Konrad_Weiss__Antisemitismus_ und_Israelfeindschaft_in_der_DDR.1452.0.html, S. 15. 11 Neubert, Ehrhart: Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR, a.a.O. 12 Staatsbürgerkunde Lehrbuch Klasse 9, Berlin 1988, S. 13. 13 Zivilverteidigung Lehrbuch Klasse 9, Berlin 1978 S. 9. 14 Weiß, Konrad: Antisemitismus und Israelfeindschaft in der DDR, Nicht nur ein historisches Thema, Online-Extra Nr. 34, http://www.compassinfodienst.de/Konrad_Weiss__Antisemitismus_ und_Israelfeindschaft_in_der_DDR.1452.0.html 15 Höck, Dorothea:„Sprache, die für dich dichtet und denkt“ – Zum Verhältnis von Propagandasprache und Herrschaft, in: Höck, Dorothea/ Mehlhorn, Ludwig (Hg.): Raster. Strukturen von Macht, Herrschaft, Gewalt, (= radixblätter), Berlin 1988, S. 3-15. Zitiert aus Kowalczuk, Ilko-Sascha: Freiheit und Öffentlichkeit, Berlin 2002, S. 238. 16 Ebenda 17 Zitate Hannah Arendts in Höck, Dorothea, a.a.O. 18 Freie Presse, „Aus Klassenhass wurde Rassenhass, 2.1.2012 zitiert nach http://www.freiepresse. de/NACHRICHTEN/BRENNPUNKT/Aus-Klassenhass-wurde-Rassenhass-artikel7864455.php
Schüler schmücken eine Gedenkstätte, Quelle: Schulgartenunterricht, Klasse 3/4, Berlin: Volk & Wissen 1975, S. 3.
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Zeitgeschichte
Versöhnung statt Aufarbeitung? Südafrikanische und deutsche Vergangenheitsbewältigung im Vergleich Wer ein vergleichendes Resümee der Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland zieht, wird zunächst festhalten dürfen: Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (engl. Truth and Reconciliation Commission, kurz: TRC) hat mit ihren rund 240 Mitarbeitern nicht weniger zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beigetragen als die zahlenmäßig bei weitem besser ausgestatteten Stränge der juristischen, politischen und aktenbezogenen Aufarbeitung in der Bundesrepublik. Von der symbolischen Kraft, die der Versöhnungsprozess gesamtgesellschaftlich in Südafrika entfaltet hat, kann immer noch ein wegweisender Impuls für unsere Bemühungen ausgehen, die unter dem wenig symbolträchtigen wie ambivalenten Begriff ‚Aufarbeitung’ gefasst werden. Auf der anderen Seite existiert die ähnlich komplizierte, philosophische Diskussion zum Wahrheitsbegriff. Quantitativ wird man als Ergebnis auf die Frage ‘Was ist an Wahrheit herausgekommen?’ antworten können: Das ‚Mehr’ an Institutionen in Deutschland (Gerichte, Enquete-Kommission und BStU) hat auch ein ‚Mehr’ an Wahrheit hervorgebracht – würde Südafrika hier als Vergleichspunkt gelten. Im Sinne der geschichtspolitisch relevanten Vermittlungsaufgabe wird man indessen fragen dürfen: Ist die erschlossene Wahrheit als gesellschaftlich verändernde Wahrheit wirksam geworden? Die einen sagen, es sind viele für Historiker interessante Fakten erschlossen worden. Andere meinen, ein ‘Weniger’ an Fakten hätte ein ‘Mehr’ an Vermittlung in der Gesellschaft transportiert. Zweifellos konnte durch den spezifischen Charakter des Systemwechsels in Deutschland das diktatorische SEDSystem bei weitem besser erforscht werden als das Apartheidsregime, das selber gar nicht zum Untersuchungsgegenstand der TRC werden konnte. Während hierzulande der Schwerpunkt auf der Erforschung des Repressionsapparats liegen konnte, hat man in Südafrika
Pretoria, 29. Oktober 1998. Desmond Tutu übergibt Nelson Mandela den Abschlussbericht der „Wahrheits-und Versöhnungskommission“, Foto: Nationalarchiv Johannesburg.
viel darüber erfahren, wie das repressive System sich auf den Lebensalltag der Menschen ausgewirkt hatte. Diese Erkenntnisse konnten eine gesellschaftliche Kraft entwickeln. Der Theologe Wolfgang Ullmann kritisierte im Blick auf den Gesamtprozess, dass es zwar nach 1989 die unterschiedlichsten Formen von Aufarbeitung gegeben habe: von der justiziellen über die historisch-politische bis hin zur archivgestützten oder rein privaten. Es fehlte aber an einem umfassenden Versuch, wenngleich dessen Definition das
nächste Problem bereiten würde. Für die künftige Transformationsforschung bleibt aus dem Vergleich mit den Vorgängen in Südafrika ein unerwartetes Ergebnis festzuhalten: Der antitotalitäre Konsens ist offenbar gesellschaftlich leichter zu verankern, wo eine Kommission die Auswirkungen eines Systems untersucht, als wenn sie das System als solches zum Gegenstand der Analyse nimmt. Die TRC ist ein Paradebeispiel für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit.
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Versöhnung statt Aufarbeitung?
Sie hat die Wahrheit über die Apartheid zunächst ans Licht gebracht und die Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins allmählich herbeigeführt. Die Formel „Versöhnung ist nicht ohne Veränderung zu haben“ scheint hier wohl aufgegangen zu sein. Die Schicksale der Opfer haben sich ins kollektive Gedächtnis der Nation auf Dauer eingebrannt. Durch die Aussagen der Täter vor dem Amnestieausschuss haben die Exzesse sowie die Alltäglichkeit der Apartheid ein Gesicht bekommen. Die TRC ist im positiven Sinne Beispiel für Geschichtspolitik, denn sie hat deutlich gemacht: Ritual und Symbolik sind kein bloßes Ornament politischen Handelns, sondern konstituierende Elemente sozialer Realität. Im positiven Sinne ist mit Geschichte Politik gemacht worden, indem mit der faktischen Wahrheit über die Apartheid gesellschaftliche Veränderung herbeigeführt wurde. „Wer sich dem TRC-Prozess verweigert, sei nicht im neuen Südafrika angekommen“, hatte die südafrikanische Journalistin Antjie Krog, die vom ersten Tag die Kommission begleitet hat, bilanzierend geäußert. Ist die Stärke des südafrikanischen Prozesses gleichzeitig die Schwäche des deutschen? Der deutsche Bundestag setzte zwei Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ein, die von 1992 bis 1998 tagten. Die erste zur Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur, die zweite zur Überwindung jener Folgen. Jedoch bleibt fraglich, ob die Kommissionen ihre Ergebnisse und Thesen so präsentiert und vermittelt haben, dass sie mittelfristig Teil des kollektiven Gedächtnisses werden können. Die eigentliche Bedeutung der Enquete-Kommission (EK) als ein Instrument der Geschichtspolitik sei in den Hintergrund getreten, bilanzierte der Historiker Manfred Wilke. In jedem Fall haben die Kommissionen keine vergleichbare geschichtspolitische Kraft entfaltet, um die dominante „Stasi-Debatte“ abzulösen, was heute bereits als geschichtswissenschaftlicher Konsens gilt. Hinzu kommt, dass die Medien anders als in Südafrika eine problematische und daher zwiespältige Rolle gespielt haben. ‚Heilung der Nation’ stand nicht auf dem Programm. Der Theologe Richard Schröder bemerkte schon kurz nach dem politischen Umbruch: „Die massenhafte Veröffentlichung menschlichen Versagens bringt
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keine heilsamen Erkenntnisse.“ Dabei gab es zeitgleich auch in der deutschen Debatte konstruktive Ansätze: Wenn man an die Besucher- und Medienresonanz auf die zweitägige Anhörung von SED-Opfern Anfang Dezember 1992 im Berliner Reichstag denkt, kann man davon sprechen, dass auch Anhörungen der EK zumindest zeitweise eine gesellschaftliche Bedeutung gewonnen haben. Denn diese Sitzung im Reichstag war sehr gut besucht. Zahllose regionale und überregionale Zeitungen haben berichtet. Achtet man darauf, was und wie zur EK berichtet wurde, so ist festzustellen, dass fast alle Zeitungen die gehörten Aussagen unvermittelt berichteten. Nicht über die Opfer wurde geschrieben, sondern ihre Geschichten nacherzählt. Spüren die Medien die „power of narrative“? „Berichten zu können, schafft Erleichterung, löst die Blockade der Verdrängung“, schrieb ein Redakteur des Tagesspiegels und beobachtete: „Der Blick zurück, im Zorn oder resigniert, fördert Biographien zutage, die auf merkwürdige Weise zufällig und zugleich exemplarisch anmuten“. EK-Kommissionsmitglied Dirk Hansen forderte unter dem Eindruck der zweitägigen Anhörung: „Für die weitere Arbeit der Kommission die direkte Befragung von Zeitzeugen – Opfern wie Tätern“. Solches leistete allenfalls die südafrikanische Wahrheitskommission. Denn indem staatlicherseits nach Wahrheit fragende Kommissionen eingerichtet werden, wird ehemaligen Opfern bei der Heilung ihrer Erinnerungen geholfen. Zumal wird ein Beitrag geleistet, dass die Geschichten in ihrer symbolischen Kraft zur Festigung des antitotalitären Konsenses in der Gesellschaft (zum: Nie wieder!) anknüpfen, also der narrativen Struktur des Menschen Rechnung getragen wird: Geschichte lernt man immer noch am besten durch Geschichten! Die geschichtspolitische Kraft von Wahrheits-und Versöhnungsprozessen Die bilanzierte Stärke im südafrikanischen Prozess sollte indessen nicht zu einer verfehlten Romantisierung der Versöhnungsbemühungen verleiten. Neben der Anerkennung der geschichtspolitischen Kraft, die der Wahrheits- und Versöhnungsprozess entfalten konnte, wird man die eingegangenen Kompromisse während der Übergangsverhand-
lungen nüchtern bilanzieren müssen: Eine strafrechtliche Aufarbeitung wurde verhindert, eine Amnestie durchgesetzt, die Wiedergutmachung auf das Moralische begrenzt und Disqualifizierungen im öffentlichen Dienst verhindert. Verlangte der politische Kompromiss, den Südafrika beim Übergang zur Demokratie eingehen musste, zugleich moralische Konzessionen? Problematisch erscheint das Verständnis von Versöhnung als ‚Integration aller’, insbesondere bei der Übernahme von belastetem Personal in den neuen Staatsapparat Südafrikas. Dabei ging es nicht nur um die Verwaltung, sondern auch um Kontinuität in Polizei und Militär. Hier haben sich fragwürdige Vorstellungen von Versöhnung durchgesetzt, man könnte von einem strategischen Missbrauch des Versöhnungsbegriffs sprechen. Strategisch-illegitim erscheint ein Sprachgebrauch, der einen unerlaubten moralischen Kompromiss voraussetzt: Einen Neuanfang um jeden Preis. Es ist fragwürdig, ob die betroffenen Soldaten und Polizisten, die gestern noch in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren, überhaupt ‚neu’ anfangen wollen oder ob sie nur unter neuen Voraussetzungen den alten Geist fortsetzen. Jüngste Studien des renommierten „Centre for the Study of Violence and Reconciliation“ in Johannesburg belegen, dass es immer noch zu schweren Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen oder auf Polizeistationen des gesamten Landes kommt. Man spricht von einer „Ontologie der Gewalt“, die aus den Tagen der Apartheid nachwirkt und die erschreckende Gewalt erklären würde, die bis heute die Kriminalität in Südafrika begleitet. Selbst wer vom Elitenwechsel absieht und einräumt, dass die TRC zu Beginn ihrer Arbeit ohne moralischen Kompromiss auskam, steht mindestens seit dem Ende der Kommissionsarbeit vor offenen Fragen. Zwar hat es Bedingungen für die Nichtverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen gegeben, nämlich, dass Straftäter individuell vor die Kommission treten und die Wahrheit schildern mussten. Zudem hat es innerhalb der TRC einen Ausschuss zur Erarbeitung differenzierter Reparationsmaßnahmen gegeben, die über die moralische Wiedergutmachung hinaus materielle Entschädigungen vorsahen. Doch was ist nach dem Ende der Kommission aus den Vorschlägen für die
Zeitgeschichte Wiedergutmachung einerseits und der angedrohten Strafverfolgung andererseits geworden? Es hat bis 2003 gedauert, bis ein einziger Reparationsvorschlag umgesetzt worden ist. Bis heute ist nicht ein Straftäter, der nicht Amnestie beantragt hat, nach Ende der Kommission strafrechtlich verfolgt worden. Das Problem liegt auf der Hand: Die TRC war zwar nicht als moralischer Kompromiss konzipiert, droht aber im Nachhinein zu einem solchen disqualifiziert zu werden. Läuft der Prozess also doch auf die Generalamnestie für die Täter und eine verspätete Wiedergutmachung für die Opfer hinaus? Deutsche Enquete-Kommission als Vorbild In dieser Hinsicht erscheint der deutsche Vorgang geradezu vorbildlich. Der Vereinigungsprozess bewirkte zunächst eine Strafverfolgung der Täter und eine – zumindest symbolische – Wiedergutmachung für die Opfer. Wenn Opferverbände zu Recht beklagen, wie schwierig die Durchsetzung der Rechtsansprüche in Einzelfällen ist – immerhin konnten Rechtsansprüche durch eine differenzierte Gesetzgebung überhaupt geltend gemacht werden, so wird man sagen dürfen: Ein strategisch-illegitimer Versöhnungsbegriff hat sich in keiner Phase der politischen Entwicklung durchsetzen können. Strafverfolgung und Wiedergutmachung werden bei aller Kritik der Einzelfälle durch den Abschlussbericht der zweiten EnqueteKommission 1998 positiv bilanziert. Individuelle Schuld konnte nicht nur festgestellt, sondern in vielen Fällen auch strafrechtlich bewertet werden. Gängige Meinung war: Man kann nicht über die Toten an der Mauer hinweg einen glaubwürdigen Neuanfang machen. In der konstruktiven Ausschöpfung des freigesetzten Potentials ist der deutsche Prozess freilich hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Hier ginge es bis heute darum, Anstöße aus dem südafrikanischen Versöhnungsprozess anzunehmen. Zwei Gesichtspunkte seien genannt: – der Mut zum Narrativen: Eine gesellschaftliche Katharsis wird nicht erreicht durch die Verbreitung wissenschaftlichhistorischer Detailanalysen, sondern durch die Ermöglichung der Teilnahme am Einzelschicksal. Zeitzeugenprojekte weisen in die richtige Richtung. Betrof-
Materialien der Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ auf rund 15.000 Seiten in 18 Teilbänden, erschienen 1995, Foto: GWS.
fene können authentisch ihre Erfahrungen weitergeben. Ehemalige Häftlinge führen Besuchergruppen durch eine Haftanstalt, zum Beispiel in BerlinHohenschönhausen; – der Mut zu einer „menschlichen“ Aufarbeitung, in deren Prozess Tätern wie Opfern ihre Würde belassen wird, ohne dass die Schuldfrage unbeantwortet bleibt und Unrecht zu Recht erklärt wird. „Versöhnung unter Menschen kann ohne Wahrheit nicht gelingen, Wahrheit ohne Aussicht auf Versöhnung aber ist unmenschlich.“ Die befreiende Kraft der Versöhnung Ein Fazit des Vergleichs der Vorgänge in Südafrika und Deutschland bringt uns zu zwei Fragen, die prinzipiell in allen Übergangsprozessen eine Antwort erfordern: 1. Wann zwingt der politische Gebrauch der Versöhnung einen unerlaubten moralischen Kompromiss auf? 2. Wann ermöglicht Versöhnung die Ausschöpfung eines Potentials, das gesellschaftlich befreien kann? Der südafrikanische Weg hat eine überzeugende Antwort auf die zweite Frage gegeben, der deutsche auf die erste. In Südafrika sollte man darauf bedacht sein, den unerlaubten politischen Kompromiss abzuwerten; in Deutschland, die befreiende Kraft der Versöhnung neu zu entdecken. Wo hat bei uns je ein Klima geherrscht, das die freie Aussprache über Schuld ermöglicht hätte? Wo ist politisch ernsthaft darüber nachgedacht worden, dass und warum gesellschaftliches Zusammenleben insgesamt auf Versöhnung angewiesen ist? Wo hat die Vergebungsbereitschaft eines Einzelnen jemals die Chance bekommen, durch die Aufmerksamkeit der Medien einen tat-
sächlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Katharsis zu leisten? Wo ist schließlich jemals in der Öffentlichkeit der Satz gewagt worden, dass Vergebung auch die Opfer frei macht und dass sie etwas anderes bedeutet als ‚Schwamm drüber’? Persönliche Schuld hat gesellschaftliche Auswirkungen. Dass ein Neubeginn dort möglich und legitim ist, wo unterschieden wird zwischen dem Menschen, der immer mehr ist als sein Tun, und dem Stasi-Mitarbeiter, der gerade um des glaubhaften Neuanfangs willen mit seinen Taten von gestern identifiziert werden muss und daher beruflich nicht weiter beschäftigt werden kann, ist für die Gesellschaft so wichtig wie für den Einzelnen. Darum aber geht es, wenn in legitimer Weise von Versöhnung die Rede ist. Prof. Dr. Ralf Wüstenberg, Theologe, Flensburg Weiterführend: „Aufarbeitung oder Versöhnung – Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika“, Potsdam: Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2008.
Sitzung der südafrikanischen Wahrheitskommission, 1996; Foto: Nationalarchiv Johannesburg.
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Zeitgeschehen / Diskussion
Die neue MDR-Intendantin Karola Wille und ihre Vergangenheit Einst linientreue DDR-Juristin, die Aufsätze zum Klassenkampf schrieb, heute mächtigste Medienmanagerin Ostdeutschlands
Transparenz stand beim Mitteldeutschen Rundfunk, der größten ARD-Anstalt in Ostdeutschland, lange Zeit nicht gerade hoch im Kurs. Das konnte man an den zahlreichen Affären der vergangenen Jahre sehen. Nur scheibchenweise kam ans Licht, was etwa der nun eine fünfjährige Haftstrafe verbüßende, einstige Herstellungsleiter Marco K. des vom MDR federführend betreuten Kinderkanals in Erfurt trieb, der insgesamt über 8 Millionen Euro hinterzogen haben soll. Oder dass der inzwischen ausgeschiedene Unterhaltungschef des MDR, Udo Foht, Produzenten zu dubiosen Zahlungen anhielt. Erinnert sei auch an den 2009 wegen Bestechlichkeit verurteilten Ex-MDR-Sportchef Wilfried Mohren, der heute freiberuflich als Pressesprecher beim FC Rot-Weiss Erfurt tätig ist. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen – durch Recherchen anderer Medien erfolgten – Enttarnungen von Ex-Stasi-Zuträgern im MDR. Darunter waren etliche Redakteure, Moderatoren, Verwaltungskräfte und auch freie Mitarbeiter, die alle mit Gebührengeldern finanziert wurden. Mit der Transparenz tut sich auch Karola Wille, seit dem 1. November 2011 amtierende und mit 32 von möglichen 39 Stimmen des Rundfunkrates kurz zuvor zur MDR-Intendantin gewählte und vorher langjährige Justitiarin des Senders, schwer. Zumindest, was ihre DDR-Vergangenheit angeht. Karola Wille wurde 1959 in Karl-MarxStadt geboren, wo sie an der Erweiterten Oberschule 1977 ihr Abitur ablegte. Nach dem Studium der sozialistischen Rechtswissenschaften ab 1978 in Jena mit dem Abschluss als Diplomjuristin, absolvierte Wille dort noch ein „Forschungsstudium“ und promovierte 1986 an der FriedrichSchiller-Universität zum Thema: „Der Rechtsverkehr in Strafsachen zwischen der DDR und anderen sozialistischen Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Übernahme der Strafverfolgung“. Auf dem Deckblatt ihrer Dissertation prangt ein typischer DDR-Stempelaufdruck: „Nur für den Dienstgebrauch“. Als Gutachter ihrer Arbeit sind neben anderen, Prof. Dr. sc. Lothar Reuter von der Sektion Staatsund Rechtswissenschaft der Universität Jena und Prof. Dr. sc. H. Luther vermerkt.
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Darin verweist Wille unter anderem auch auf die „Verwirklichung der historischen Mission der Arbeiterklasse“ und die Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern, „denen sozialökonomische und politische Gemeinsamkeiten in Gestalt des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln, der Staatsmacht der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, der Ideologie des Marxismus/Leninismus, der Interessen bei der Verteidigung ihrer Errungenschaften und ihrem Ziel, dem Aufbau des Sozialismus und Kommunismus, zugrunde liegen“. Einst war Frau Wille mit einem DDR-Militärstaatsanwalt verheiratet. Bekanntlich war das sozialistische Recht in der DDR eine „Waffe im Klassenkampf“, mit deren Hilfe die SED ihre Politik durchsetzte, ohne Rücksicht auf international anerkannte Menschenrechte. Noch 1986 wechselte Karola Wille als Wissenschaftlerin an die Karl-Marx-Universität Leipzig, zum „Institut für Internationale Studien“, wie es damals offiziell hieß. In internen Universitäts-Unterlagen wurde diese Einrichtung indes als „Institut für Imperialismusforschung“ bezeichnet. Nach dem Untergang der DDR wurde dieses Institut nicht zuletzt wegen dessen hoher ideologischen Belastung aufgelöst. Zu DDRZeiten hatte diese Forschungseinrichtung den „Klassenfeind“ – die Bundesrepublik – fest im Blick. Am Institut publizierte Frau Dr. Wille mit verschiedenen Koautoren in der DDR-Fachzeitschrift „Neue Justiz“ Aufsätze unter der Rubrik „Staat und Recht im Imperialismus“. Ende 1986 verfasste sie gemeinsam mit dem Koautor Aribert Ondrusch, den die Hauptverwaltung Aufklärung des DDR-Staatssicherheitsdienstes als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) führte, die Zusammenfassung einer „Internationalen Konferenz zu aktuellen Fragen des Revanchismus in der BRD“. Übliche Formulierungen in der DDR In der Einleitung des Textes ist zu lesen: „Im politischen und ideologischen Arsenal der aggressivsten und reaktionärsten Kräfte des Monopolkapitals nimmt der Revanchismus einen gewichtigen Platz ein. Er ist ein wesentlicher Faktor in der Strategie des
Imperialismus, eine generelle Wende in der Entwicklung des internationalen Kräfteverhältnisses herbeizuführen. Seit dem Herbst 1982 wurde die Ideologie und Politik des Revanchismus durch die herrschenden Kräfte der BRD erheblich verstärkt.“ Während eine beträchtliche Zahl von Studenten in der DDR aus politischen Gründen an Universitäten, Hoch- und Fachschulen zwangsexmatrikuliert wurden, weil sie diese Phrasen vom „Sieg des Sozialismus“ hinterfragten und die nichtvorhandene Meinungs-, Presse- und Reise-Freiheit sowie die generelle Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten einforderten, blieb die SED-Genossin und promovierte Wissenschaftlerin dem Unrechtsstaat treu verbunden. Noch für die Ausgabe der „Neuen Justiz“ vom August 1989 schrieb die damals 30-jährige Wille, mit dem Justitiar des VEB Lüftungs- und Entstaubungsanlagen Leipzig, Ulf Köppen, einen Aufsatz über „Das Wirken von BRDJuristen für Frieden und Demokratie“. Dieser Aufsatz endet mit der Einschätzung: „Die staatsmonopolistischen Entwicklungsprozesse in der BRD und ihre rechtlichen Bewegungs- und Ausdrucksformen führen somit ein Richterbild in der Gegenwart ad absurdum, das den Richter als ein von sozialen und politischen Bezügen entfernt handelndes Individuum fordert.“ Darauf vom Autor vor der Intendantenwahl angesprochen, bestätigte Wille, die Texte geschrieben zu haben. Weitere Fragen dazu sowie zu ihrer wissenschaftlichen Karriere in der DDR wollte die seit 2002 an der Universität Leipzig als Honorar-Professorin für Medienrecht tätige Juristin aber nicht beantworten. Vor fünfundzwanzig Jahren habe sie „in einem Konferenzbericht zum Revanchismus in der BRD Formulierungen gebraucht“, wie sie „damals in der DDR üblich und in Publikationen verlangt waren“. Sie glaube aber, „dass ich in den letzten zwanzig Jahren durch meine Arbeit bewiesen habe, dass ich die Chancen der deutschen Wiedervereinigung, beginnend am Runden Tisch, auch persönlich wahrgenommen und mich nachdrücklich und überzeugt in der demokratischen Gesellschaft engagiert habe“. Auf die Frage, ob und wie sie den Demokratisierungsprozess im Herbst 1989 in
Zeitgeschehen / Diskussion
Beim MDR gibt jetzt Frau Wille den Ton an, Ministerpräsidentin Lieberknecht (rechts) findet es gut. Foto: Thüringer Staatskanzlei
der DDR eventuell aktiv mitgestaltet habe, sagte sie, dass sie vom Uni-Hochhaus in der Leipziger Innenstadt von oben die Polizeiketten und die Kräfte der Kampfgruppen gesehen habe, welche die Demonstranten in Schach halten sollten. Wo und für welche Partei oder Bürgerbündnis Frau Wille am Runden Tisch damals mitgewirkt habe, dies alles wollte sie nicht beantworten. Legitimatoren des Unrechtsstaates Klaus Schroeder, dem Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, erschien das zuwenig. Auf Anfrage sagte Schroeder im Oktober 2011, es sei „ein fatales Signal für die notwendige Aufarbeitung der SED-Diktatur, wenn ehemalige Legitimatoren des Unrechtsstaates“ wie Karola Wille „Karriere beim ehemaligen Klassenfeind machen, ohne sich öffentlich ihrer Vergangenheit zu stellen“. Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse von der TU Chemnitz meinte, „die Wahl von Frau Wille wäre ein falsches Zeichen, was die nötige Aufarbeitung im MDR angeht“. Sie sei „mit ihrer Vergangenheit bisher nicht offen umgegangen“. Zudem hätten „in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre längst nicht alle Repräsentanten des wissenschaftlichen Kommunismus beziehungsweise des Marxismus-Leninismus so primitiv argumentiert, wie es Frau Wille getan hat“. Der Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe, der 1989 dem DDR-Regime
mutig die Stirn bot, gab zu bedenken: „Eine solche Person wie Frau Wille als MDR-Intendantin hat die Stadt der ‚Friedlichen Revolution’ nicht verdient.“ Der Geschäftsführer der Stiftung „Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft“, Siegfried Reiprich, sagte zur Causa Wille: „Das ist ein fatales Signal, was an die heutige Jugend geht, wenn einstige der DDR treu ergebene, opportunistische Menschen heute so problemlos Karriere machen können. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut, was man schnell verspielen kann.“ Nach dem Untergang der DDR kam die Kehrt-Wende von Karola Wille. 1991 veröffentlichte sie in der Fachzeitschrift „ZUM“ (Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht) einen Beitrag, in dem sie plötzlich zur nicht vorhandenen Pressefreiheit in der DDR schrieb: „Die in der Verfassung verankerten Medienfreiheiten blieben unverbindliche, nicht justitiable Leitsätze, wobei auch das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit begünstigend wirkte.“ Im selben Jahr erlangte Wille nach eigenen Angaben die Lehrbefähigung für das Fach Medienrecht und wechselte von der Uni für kurze Zeit in das Rechtsamt der Stadt Leipzig. Im Juni 1991 bewarb sie sich beim gerade gegründeten MDR in Leipzig als Juristin: Aufgrund ihrer „Erfahrungen und Kenntnisse besteht meinerseits erhebliches Interesse, eine Tätigkeit im MDR auf juristischem Gebiet aufzunehmen.“ Im November 1991 wurde sie dann tatsächlich 1. Referentin in der
Juristischen Direktion des neugegründeten Mitteldeutschen Rundfunks. Von November 1996 bis Ende Oktober 2011 war sie Chefin dieser wichtigen Abteilung. Die Karriere in der DDR ist für Karola Wille Vergangenheit. Sie ist längst in der kapitalistischen Gegenwart angekommen. Besonders in der ostdeutschen Regionalpresse und im MDR wurde ihre Wahl zur Intendantin von vielen bejubelt – eine Frau, noch dazu aus dem Osten an der Spitze des MDR! Wie Insider berichten, habe zwei Jahrzehnte lang „ein Klima der Verunsicherung“ geherrscht unter der Führung des MDR-Gründungs-Intendanten Udo Reiter und des ebenso 2011 in den Ruhestand gegangenen Chefredakteurs Wolfgang Kenntemich. Dies könne mit der neuen Sender-Chefin aus Sachsen nur besser werden. Doch es gibt auch Leute im MDR, die Zweifel haben, ob Karola Wille nun als Intendantin in der Lage sein wird, die internen Kontrollmechanismen, an denen sie teilhatte und die ganz offenbar versagt haben, auf Vordermann zu bringen. Dass der ehemalige Unterhaltungschef Udo Foht seltsame Zahlungen veranlasste – es geht um Summen zwischen 10.000 und 180.000 Euro –, fiel erst im Sommer 2011 auf. Wille betont stets, alles zu tun, um diese Machenschaften aufzuklären. Gewusst habe sie von all diesen Vorgängen nichts. Den Gremien des MDR, sagte der im Oktober 2011 amtierende MDR-Verwaltungsratsvorsitzende Gerd Schuchardt aus Jena, nachdem er und seine Kollegen Karola Wille im zweiten Anlauf zur Kandida-
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Die neue MDR-Intendantin Karola Wille und ihre Vergangenheit
tin gekührt hatten, Wille sei „als kompetente und engagierte Führungspersönlichkeit bekannt“. Zuvor war der damalige Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“, Bernd Hilder, und Wunschkandidat der Sächsischen Staatskanzlei kläglich bei seiner Nichtwahl durch den MDR-Rundfunkrat gescheitert. Karola Wille wolle den Sender „zukunftsfähig“ machen und die junge Generation stärker einbeziehen, sagte der Verwaltungsratschef. Sie setze auf die Aufklärung der verschiedenen
MDR-Affären und auf Transparenz. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die ZEIT“ erklärte Wille Ende Februar 2012 dann unter anderem: „Ja, sie sei damals keine Oppositionelle gewesen, sozialistisches Recht durfte in der DDR nicht jeder studieren. Mit 18 sei sie in die SED eingetreten, weil sie aus einem Elternhaus komme, was dieses System mitgetragen habe. Sie habe an die Ideale des Sozialismus geglaubt. Das System habe Unrecht produziert. Im Nachgang tue ihr vieles
leid, was in der DDR passiert sei. Sie aber habe als Juristin keinem Menschen persönlich geschadet.“ Im „ZEIT“-Interview sagte Wille auch, dass die Wendezeit für sie ein Lernprozess war, der sich nicht in einer Woche abgespielt habe. „Ich musste verstehen, was die Ursachen waren für das Scheitern des alten Systems. Und meinen Platz in der neuen Gesellschaft finden.“ Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang aus heutiger Sicht ihre damalige Realitätsferne und offensichtlich eingeschränkte rationale Analysefähigkeit. Doch ihren wissenschaftlich-juristischen Kurswechsel und parallelen Karriereaufstieg hat sie nach 1990 letztendlich doch äußerst schnell hingekriegt. Und das sogar in Leipzig, der Stadt der Friedlichen Revolution. Anfangs der neunziger Jahre hat Frau Wille dann noch ein Jura-Studium an der Fernuniversität Hagen absolviert: „Weil ich wusste: Das, was du in der DDR gelernt hast, reicht nicht aus.“ Nun bleibt abzuwarten, wie es Frau Professorin Wille in ihrer auf sechs Jahre angelegten Amtszeit als Intendantin der Drei-Länderanstalt gelingt, „dass unser krisengeschütteltes Haus wieder aus den Schlagzeilen kommt“, wie sie kurz nach ihrem Amtsantritt ankündigte. Das von ihr in den letzten Wochen oft wiederholte Motto: „Wir wollen unsere Stärken stärken“, klingt ein wenig wie die Phrasen aus ihren wissenschaftlichen, juristischen Texten der achtziger Jahre. Ohnehin hat der MDR noch immer mit dem Schunkelsender-Image zu kämpfen, angefangen bei dem hohen Volksmusikanteil, abgehalfterten DDR-Entertainern bis hin zu einer wenig kritischen Sportberichterstattung. Beim sogenannten „Erfurter Dialog“ Anfang März 2012 in der Staatskanzlei des Freistaats wartete Wille auf Einladung von Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht mit der bemerkenswerten Nachricht auf, dass der ARD-Tatort-Krimi zukünftig auch aus Thüringen kommen soll. Wenn der Drehbuchautor nur ein Teil der Affären im MDR in sein Skript einfließen lassen würde, dann könnte dies gewiss für einen spannenden und atemberaubenden Krimiabend sorgen. Thomas Purschke, Journalist Steinbach-Hallenberg
Aus dem wissenschaftlichen Frühwerk, Aufsatz in „Neue Justiz“ von 1986
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Zeitgeschehen / Diskussion
Entschädigungsfond für ehemalige Heimkinder eingerichtet Die Errichtung des Fonds für Heimerziehung (Ost) ist der vorläufige Endpunkt eines langen (und zunächst aussichtslos erscheinenden) Ringens, sich einem verschwiegenen und versteckten Teil der DDRGeschichte verantwortungsvoll zu stellen. Es ist gleichzeitig ein längst überfälliges Signal und kann nun als Anfang gelten, sich den Heimkinderschicksalen zuzuwenden. Um den jetzt erreichten Status zu würdigen, ist es wichtig, wenigstens einige Marksteine im Umgang mit dem Thema „Erziehung in Einrichtungen der DDRJugendhilfe“ knapp zu rekapitulieren: 1994 wurde das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) dahin gehend geändert, dass grundsätzlich auch die Rehabilitierung von in Jugendwerkhöfe eingewiesenen Jugendlichen möglich ist. Die Beschlusspraxis der damit befassten Reha-Senate ist und bleibt bis heute uneinheitlich. Entscheidend für die Erfolgschancen sind die jeweils individuell zu prüfenden Gründe/Begründungen für die damalige Einweisung. 2004 erreichte das ehemalige Heimkind Ralf Weber im Beschwerdeverfahren vor dem Kammergericht Berlin einen grundsätzlichen Beschluss, wonach jede Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau (GJWH) unabhängig von früheren Gründen oder Angaben zu rehabilitieren ist. 2008 reagierte der Deutsche Bundestag auf die Petition ehemaliger Heimkinder (West) und richtete einen „Runden Tisch“ ein, der sich mit der Aufarbeitung der Heimerziehung in den alten Bundesländern der 1950er und 1960er Jahre befasste. Der Vorstoß, DDR-Heimschicksale ebenfalls an diesem Runden Tisch behandeln zu lassen, scheiterte zunächst. 2009 ist es wiederum Ralf Weber, der mit einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe durchdrang. Vor allem das Medienecho auf die positive Entscheidung war es, was die ehemalige DDR-Heimkinder in kaum vorstellbarer Größenordnung zum Sprechen brachte. Doch nach wie vor ist das StrRehaG die einzige Möglichkeit zur Rehabilitierung, um damit zu einer Entschädigung für die vom Gericht festgestellte „rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung“ zu gelangen. Jedoch ist die Erfolgsquote bisher außerordentlich gering geblieben. In den neuen Bundesländern beträgt sie weiterhin nur wenige Prozent. Nach Aussage des Oberlandesgerichts liegt sie in Thüringen aller dings bei rund 10 bis 15 Prozent. Die Zahl kann vor allem auf die funktionierende
Innenansicht aus dem ehemaligen Jugendwerkhof ,,Ehre der Arbeit‘‘ in Hummelshain bei Jena Foto: Manfred Buchta
und qualitätvolle Arbeit der Beratungsinitiative des Freistaats (gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung und dem Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit) unter Fachaufsicht der TLStU zurückgeführt werden. Seit 2009 gibt es faktisch eine Beratung für ehemalige Heimkinder, seit 2010 einen landeseigenen Runden Tisch bzw. Arbeitskreis, der sich mit der Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, aber auch mit Prävention und Intervention anhand der heutigen stationären Heimerziehung beschäftigt. Damit wurde ein zentrales Anliegen ehemaliger Heimkinder erfüllt: „Was uns geschehen ist, darf sich nicht wiederholen!“ Im Juli 2011 fasste der Deutsche Bundestag einen Beschluss, nach dem Hilfen für ehemalige Heimkinder in Ost und West gleichzeitig und gleichwertig gewährt werden sollen. Die praktische Umsetzung dieses Beschlusses ist der Fonds Heimerziehung. Er ist für die alten Bundesländer seit 1. Januar 2012 wirksam. Für die neuen Bundesländer wurde er am 26. März diesen Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt. Leistungen sollen ab 1. Juli 2012 fließen können. Der Fonds soll unter anderem Rentenausgleiche für die in Jugendwerkhöfen geleistete und nicht oder nur ungenügend in die Rentenberechnung eingeflossene Arbeit herstellen. Er soll zudem dort helfen,
wo sich die in Heimen und Jugendwerkhöfen verbrachte Lebenszeit in gesundheitlichen, beruflichen und/oder sozialen Beeinträchtigungen bis heute auswirkt. Diese Hilfen sollen individuell und auf die jeweilige Lebenssituation der Betroffenen zugeschnitten werden. Die Errichtung des Fonds wurde begleitet durch drei Expertisen, die das System der DDR-Heimerziehung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten: 1. in juristischer Hinsicht, 2. mit Betrachtung des „Erziehungskonzeptes“ und 3. die psychischen Folgen betreffend. Alle drei Expertisen sind als Schriftstücke nachlesbar (als pdf-Dokumente auf www.fondsheimerziehung.de). Der Fonds Heimerziehung tritt in den neuen Bundesländern unabhängig vom StrRehaG in Erscheinung. Erklärter Wunsch der Betroffenen ist es, dass der Fonds keine Argumente gegen die verbesserte Anwendung des StrRehaG auf Heimkinderschicksale liefert. Hilfeleistungen durch den Fonds basieren auf dem Prinzip Geld- vor Sachleistungen. Akzeptanz und Erfolg der zur Umsetzung des Fonds in allen deutschen Bundesländern einzurichtenden Anlaufstellen macht sich vor allem vom vorhandenen Vertrauen in die in den Anlaufstellen Beschäftigten abhängig. Manfred May, Suhl
Telefon: 0 36 81 / 73 46 91 E-Mail: may@tlstu.thueringen.de
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Zeitgeschehen / Diskussion
Freiheit keine Floskel Zur Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten Foto: Bundespräsidialamt Nr. 687.
Joachim Gauck bewährt sich nun schon einige Wochen als Bundespräsident. Dennoch ist dieses Politikum für die Beobachter noch nicht zur politischen Alltäglichkeit geworden. Irgendwie liegt es quer zu den jahrelang eingeprägten Wahrnehmungsmustern. Mit Müh und Not hat sich die deutsche Öffentlichkeit daran gewöhnt, dass im Bundeskanzleramt eine ostdeutsche Pfarrerstochter sitzt. Nun hat das höchste Staatsamt auch noch ein ostdeutscher Pfarrer inne. Es ist noch nicht so lange her, dass ostdeutsche Larmoyanz über die vielen importierten westdeutschen Politiker klagte, die hier das Heft in die Hand nahmen. Und immer noch ist es aktuell, dass gebürtige Westdeutsche die Wiedervereinigung vorwiegend als Finanzproblem sehen. Solche Einlassungen stimmen nicht mehr so recht. Auch die Kommunisten, ihre Nachfolger und ihre westdeutsche Gefolgschaft haben jahrelang versucht, eine Art ostdeutsche Identität aufzubauen. Sie versuchten die Schwierigkeiten der sozialen und wirtschaftlichen Transformation des Sozialismus in die Normalität zu nutzen, um ein Unbehagen an der gewonnenen 44 /
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Freiheit zu erzeugen. Inzwischen ersetzen sie selbst zunehmend ihre Kader durch Westdeutsche. Die neue ost-westdeutsche Gemengelage zeigt sich aber vor allem an Angela Merkel und Joachim Gauck. Sie repräsentieren jeweils durch ihre Person und politische Karriere die revolutionäre Entmachtung der Kommunisten und die dadurch möglich gewordene Wiedervereinigung. Das hat sie auch nach „oben“ in der neuen deutschen Republik gebracht. Ein westdeutscher Journalist meinte scherzhaft, dass nun „die Ostdeutschen“ die Bundesrepublik übernommen hätten. Richtig ist aber, dass die Friedliche Revolution von 1989/90 nun zu einem politisch-historischen Fundament Deutschlands geworden ist. Bisher hatten Ost- und Westdeutsche eine gemeinsame negative Geschichtserzählung, den NS-Staat mit seinen ungeheuren Verbrechen. Das lastet und belastet bis heute. Aber wir haben auch eine gemeinsame positive Nationalerzählung: Die Befreiung 1989 und die Befestigung der Freiheit 1990. Das ist ein Thema von Joachim Gauck.
Die Erfahrung der gewonnenen Freiheit ist mehr als nur rhetorische Floskel. Sie verleiht eine unverwüstliche Legitimation, die ein Quell von verantwortungsvoll eingesetzter Macht ist. Auch deswegen hat Gauck dieses Amt. Und es zeigt sich ein weiterer Aspekt im Vergleich mit vergangenen Diktaturen. Die Gewaltrevolution aus diktatorischem Geist frisst ihre Kinder. Die demokratische Revolution gebiert die politischen Personen, die Verantwortung übernehmen. Dr. Ehrhart Neubert, Erfurt
Zeitgeschehen / Diskussion
Die DDR-Vergangenheit im historischen Deutungskampf Bericht von der Geschichtsmesse in Suhl Die nunmehr 5. Auflage der Geschichtsmesse vom 8. bis 10. März stand in diesem Jahr unter dem Motto „Demokratie und Diktatur in Deutschland und Europa nach 1945“. Zum Publikum zählten neben Historikern, Nachwuchswissenschaftlern verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen auch Geschichtslehrer sowie Repräsentanten von Opferverbänden, Gedenkstätten und Online-Portalen, wie beispielsweise „Lernen aus der Geschichte“. In drei Tagen stellten sich in der von der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur“ organisierten Veranstaltung über 50 Geschichtsprojekte und historisch-politische Bildungsinitiativen aus ganz Deutschland vor, welche in Form von Parallelveranstalungen und Workshops die Besucher über die neuesten Angebote von Ausstellungen, Schülerprojekten oder aktuelle Trends zur Bildungs- und Zeitzeugenarbeit informierten. Im Zentrum des reichhaltigen Tagungsprogramms standen bildungsund erinnerungspolitische Fragen anhand konkurrierender Deutungsfragen und -kämpfe, welche es generationsübergreifend auszutauschen galt. Die impulsgebenden Plenarvorträge des Politikwissenschaftlers Prof. Helmut König (Aachen) und des stellvertretenden Vorsitzenden der Bundesstiftung Aufarbeitung, Prof. Bernd Faulenbach (Bochum) bildeten das Rahmenprogramm. Angesprochen wurden nicht nur die vielseitigen Formen des historischen und kollektiven Gedächtnisses von europäischen Erinnerungskulturen, sondern vor allem die möglichen Auswirkungen konkurrierender Erinnerungen zur DDR-Geschichte in nationaler wie auch internationaler Perspektive. Wesentliche Fragen seien aber, laut Faulenbach und König, von kommenden Forschergenerationen zu klären: Wie gelingt es beispielsweise, den vielfältigen, heterogenen (ost-)europäischen Erfahrungsgemeinschaften von kommunistischen Gewalt- und Diktaturregimen zu begegnen und einen dialogfähigen und dabei identitätsstiftenden Erinnerungsdiskurs (im europäischen Geist) zu initiieren? Beide stimmten dahingehend überein, dass die erinnerungspolitischen Deu-
tungskämpfe im transnationalen Zeitalter neue Herausforderungen für die Politik des 21. Jahrhunderts darstellen werden und dass sich erst noch zeigen muss, welchen Raum lokale, nationale und transnationale, gruppenspezifische Erinnerungskulturen einnehmen werden. Ziel sollte es bleiben, die multiplen Perspektiven einzufangen, indem nicht nur „Sieger“ und „Verlierer“, „AngeIn einem thüringischen Dorf, 1983, Foto: Bundesstiftung Aufarbeitung Bestand Uwe Gerig, Nr. 687.
passte“ und „Widerstandskämpfer“ eines Unrechtsregimes, sondern auch politisch-religiöse Randgruppen im vergangenheitspolitischen Diskurs Gehör finden, um ein umfassendes und unverzerrtes Geschichtsbild für die Nachwelt zu konzipieren. Nur ein offener (medialer) Diskurs kann ein neues Gerechtigkeitsverständnis in den Köpfen der Menschen verankern, indem er eine bewusste Abgrenzung zum vergangenen Unrecht schafft und zugleich eine legitimatorische Basis für den demokratischen Staat begründet. Dabei ist es die Aufgabe der aktuellen politischen Landschaften, jenen Raum zur Auseinandersetzung zu schaffen, indem sie unterschiedlichen Stimmen und Meinungen die Möglichkeit zur Äußerung über die (mit-)erlebte Vergangenheit bietet. Weiterhin gaben Faulenbach und König zu bedenken, dass ferner zu klären bleibe, welche gemeinsamen Grundsätze und Werte die multikulturelle Erinnerungsgemeinschaft in Europa als Erkenntnis aus der gemeinschaftlichen kommunistischen Vergangenheit bestimmen werden. Künftige Forschergenerationen sind angehalten, sich den verschiedenartigen, nationalen Perspek-
tiven zu stellen, sie zu reflektieren, zu vergleichen und in die internationalen historischen Kontinuitätslinien der Kommunismusforschung einzuordnen. Als Grundlage für die Auseinandersetzung sollte ein gegenseitiges Verständnis für die jeweilig andere Wahrnehmung der (DDR-)Geschichte geschaffen werden. Neben den historisch-politischen Fragestellungen bildete die Konzertlesung des Liedermachers Stephan Krawczyk den künstlerisch Höhepunkt. Er begeisterte vor allem mit seinen gesungenen Geschichten aus dem Alltagsleben der DDR, was dem Publikum gerade durch seine „Innensicht“ der Dinge einen speziellen Zugang zur Vergangenheit in der Diktatur gewährte. Im Abschlussvortrag der Geschichtsmesse kam der ungarische Referent, Prof. Fazakas (Debrecen/Würzburg), zu Wort, der auf die internationalen Tendenzen von Vergangenheitsbewältigung einging und auf neue Wege für die historische Aufarbeitung verwies. Er merkte an, dass sich neben der europäischen Tradition des „strafenden Erinnerns“ im Umgang mit der Vergangenheit von Unrechtsregimen seit den 1970er Jahren eine Trendwende in der Transitionsforschung (vgl. Huntington: Third Wave Democratization) abzeichnete, welche auch alternative Ansätze in der Auseinandersetzung mit Diktaturen zuließe. Neben dem Konsens vom „Vergessen“ über begangenes Unrecht als Form der Legitimation eines demokratischen Neuanfangs (z.B. Spanien in Folge der Franco-Diktatur) stehe das Modell der dialogfähigen Wahrheitskommissionen als Akt der Versöhnung zwischen Opfer-und Tätergruppen, wie in Südafrika (1992-2002). Letztendlich plädierten nicht nur König und Fazakas, sondern auch der an der anschließenden Podiumsdiskussion teilnehmende amtierende Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, für mehr Mut unter jungen Wissenschaftlern, bei der Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen auch Blicke über den Tellerrand zu wagen, das heißt verstärkt länderübergreifende Forschungen aus dem internationalen Referenzrahmen als Vergleichsmodell zu wagen. Maria Palme, Historikerin, Jena / Ausgabe 1/2012 / 45
Interview
Rückblick auf fünf Jahre als Redakteur der „Gerbergasse 18“ und aktuelle Fragen zur Geschichtsvermittlung Ein Interview mit Dr. Henning Pietzsch
Herr Dr. Pietzsch, nach fünf Jahren als Projektmanager der Geschichtswerkstatt verlassen Sie Jena. Welche Bilanz können Sie ziehen? Meine persönliche Bilanz fällt positiv aus. Die Geschichtswerkstatt konnte durch zahlreiche Projekte und Veranstaltungen ihr Anliegen in der Öffentlichkeit voranbringen, mit Zeitzeugen und Menschen ins Gespräch kommen und die Zusammenarbeit mit vielen regionalen und überregionalen Partnern stärken. Es gelang, die Geschichtswerkstatt aus ihrem vorherigen „Nischendasein“ herauszuholen, sie und ihre Themen wurden zum Stadtgespräch. Welches Potenzial sehen Sie in der Zukunft für Aufarbeitungsinitiativen zur SED-Diktatur? Und welchen Beitrag sollte die Geschichtswerkstatt Jena dazu leisten? Die Geschichtswerkstatt ist vor allem eine regionale, auf Jena bezogene Initiative. Zukünftig sollte die Geschichtswerkstatt auch Inhalte aufgreifen, die die Oppositions- und Widerstandsgeschichte in Jena in der SED-Diktatur thematisieren. Das ist in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen. Jena besitzt mit seiner Oppositions- und Widerstandsgeschichte ein besonderes historisches Potenzial, das vielen Menschen in der Region nicht bewusst ist, auch weil viele ihr eigenes Handeln nach wie vor verdrängen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Diktatur beginnt jedoch meines Erachtens mit der sehr persönlichen Frage, wie habe ich mich selbst verhalten und warum? Weiterhin sollte die regionale Zusammenarbeit mit dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ gefördert und gesucht werden. Beide Jenaer Einrichtungen haben sich der Auseinandersetzung und Aufarbeitung der SED-Diktatur verschrieben. Das jahrelange Nebeneinander hat eine Konkurrenzsituation geschaffen, die vor dem Hintergrund der jeweils geringen finanziellen Ressourcen kaum Sinn macht. Das Archiv und die Geschichtswerkstatt sollten daher zukünftig, bezogen vor allem auf die Oppositions- und Widerstandsgeschichte, gemeinsame Projekte planen und umsetzen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die 2009 begonnene Zeitzeugenarbeit. Dem Charakter einer Werkstatt entspricht es, Menschen der Region in die Auseinandersetzung einzubeziehen und nicht von außen oder gar „oben herab“ ihr Leben in der DDR zu erklären. Hierzu können Zeitzeugenprojekte wesentlich beitragen. Die Zeitschrift „Gerbergasse 18“ war bisher das wichtigste „Aushängeschild“ der Geschichtswerkstatt. Sie ist weit über regionale Grenzen hinaus bekannt und geschätzt. In den ersten Jahren interessierten besonders Geschichten und Fälle, die persönliche Verstrickungen zum Schaden anderer aufzeigten. Unter meiner Redaktion verschob sich dieser Schwerpunkt hin zu Themen, die sich fachlich fundiert mit der SED-Diktatur auseinandersetzten und von allgemeinerem Interesse waren beziehungsweise sind. Hier liegt einer der Schlüssel zum Erfolg der Zeitschrift in den letzten Jahren. Zukünftig sollten die Redakteure versuchen, die Zeitschrift weiter für den Thüringer Raum zu öffnen, hier auch als „Dienstleister“ für die im Geschichtsverbund Thüringen vertretenen Einrichtungen agieren.
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Blicken wir zurück auf die Entstehung der Geschichtswerkstatt. Der Verein wurde symbolträchtig am 17. Juni 1995, dem Jahrestag des Arbeiteraufstandes in der DDR, gegründet. Ihren Sitz hatte er bezeichnenderweise bis 2006 im Gebäude der ehemaligen Kreisdienststelle des MfS. Welche Motive und Visionen bewegten die Urheber des Vereins? Die ursprüngliche Motivation zur Gründung der Geschichtswerkstatt war die herausragende Oppositions- und Widerstandsgeschichte Jenas während der gesamten DDR-Zeit. Die daraus abgeleitete Vision war die öffentliche Auseinandersetzung mit den ehemaligen Verantwortlichen dieser Diktatur. Letzteres wurde dank der verschiedenen Mitstreiter in unterschiedlichem Maß umgesetzt. Die Oppositions- und Widerstandsgeschichte dagegen wurde meines Erachtens unterschiedlich vernachlässigt und gehört deshalb mit Blick auf die Gründungsmotive zu den zukünftigen Herausforderungen. Welche Möglichkeiten zur Betreuung und Beratung von Betroffenen des DDR Unrechtsregimes bietet die Geschichtswerkstatt? Die tatsächlichen Folgen für die politisch Verfolgten sind bis heute nicht wirklich ab- und einschätzbar. Viele Betroffene haben sich bis heute nicht gewagt, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen, stehen zumeist mit ihren Problemen allein, auch, weil oft nach so vielen Jahren die ursächlichen Zusammenhänge nicht mehr eindeutig recherchierbar sind. Für die Betreuung dieser Menschen gibt es in Thüringen mindestens drei Anlaufstellen, die insbesondere von der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR getragen werden, so in Erfurt, Gera und Suhl. Die Geschichtswerkstatt Jena kann aus eigener Kompetenz keine professionelle Betreuung anbieten. Die zukünftigen Mitarbeiter sollten aber immer bereit sein, zuzuhören und wenn nötig die Vermittlung zu den Betreuungsstellen organisieren. Welche Bedeutung sehen Sie für die Arbeit und Kooperation mit Jenaer Schulen im Rahmen des Geschichts- und Sozialkundeunterrichtes? 2009 konnte im Rahmen eines Projektes eine kleine Studie zur Situation der Vermittlungsarbeit der DDR-Geschichte an Jenaer Schulen durchgeführt werden. Dies geschah vor dem Hintergrund, in Jena einen von der Geschichtswerkstatt Jena getragenen regionalen Schülerwettbewerb zu organisieren. Die Ergebnisse der Studie spiegelten im Wesentlichen das, was in den großen Studien öffentlich diskutiert wurde – die unzureichende Beschäftigung mit der SED-Diktatur im Rahmen des Schulunterrichts. Ursachen dafür waren und sind eine Vermischung verschiedener struktureller und individueller Umstände. Der Thüringer Lehrplan macht eindeutige Vorgaben. Gleichzeitig wurden 2009 die wöchentlichen Stundenzahlen für den Geschichtsunterricht im Rahmen einer Schulreform gekürzt. Viele Lehrer hielten und halten vor dem Hintergrund der begrenzten Anzahl an Schulstunden die Vermittlung von Lehrstoff über die NS-Diktatur für wichtiger, in den Neuen Bundesländern zum Teil vor dem Hintergrund der eigenen Biographie. Der Spielraum der Lehrer für außerschulische
Projekte und Aufgaben war und ist zugleich insgesamt eher gering, die Umsetzung von Themen zur DDR an wichtige Jahrestage gebunden oder eher persönlich motiviert. Ein anderer Grund für die schwierige Umsetzung von außerschulisch organisierten oder angebundenen Projekten war und ist die inzwischen unüberschaubar gewordene Anzahl an außerschulischen Angeboten. Dort, wo engagierte Lehrer sich die Mühe machen, die Angebote zu sondieren, funktioniert die regionale Zusammenarbeit zwischen Schulen und Anbietern in der Regel ganz gut. Dort wo Hemmnisse bestehen, zum Beispiel bei der Beschaffung von finanziellen Ressourcen zur Umsetzung von Projekten, gelingt die Zusammenarbeit oft nur sporadisch mit den Schulen. Häufige Wechsel von Ansprechpartnern in den Schulen erschweren zusätzlich den Aufbau von kontinuierlichen Kontakten. Mein Fazit lautet: Der seit 2008 jährlich durchgeführte regionale Schülerwettbewerb der Geschichtswerkstatt Jena hatte in den vergangenen Jahren trotz großer Anstrengungen und des Vorteils, inhaltlich niederschwellig und regional zu agieren, aus meiner Sicht insgesamt zu wenig Resonanz, war überwiegend angewiesen auf persönliche Kontakte zu Lehrern oder Jahrestage. Aufwand und Nutzen sollten daher einer Überprüfung unterzogen und nach meiner Einschätzung eine Zusammenarbeit mit anderen Anbietern in Thüringen angestrebt werden, auch um die Konkurrenzsituation aufzulösen. Ich plädiere daher dafür, eine Zusammenarbeit mit der Stiftung Ettersberg in Betracht zu ziehen. Sie bestreitet in Thüringen seit vielen Jahren einen Schülerwettbewerb, der die gleiche Zielgruppe anspricht, verfügt über entsprechende Erfahrungen und Ressourcen, und sie würde in Ergänzung zum Anliegen der Geschichtswerkstatt ein beachtlicher Partner sein. Wie sehen Sie in Zukunft die Zusammenarbeit mit der Jenaer Universität bei der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit? Die Zusammenarbeit mit der hiesigen Universität war und ist ein schwieriges Kapitel für die Geschichtswerkstatt. Einerseits betonte der bisherige Vereinsvorstand stets, man wolle keine wissenschaftliche Arbeit leisten, sich also in „Konkurrenz“ zur Wissenschaft begeben. Andererseits wurde der Geschichtswerkstatt von Seiten der Wissenschaft in Jena immer wieder eine „einseitige Darstellung“ der SED-Diktatur unterstellt, ohne die Täter-Opfer-Perspektive anzuerkennen. Dass Opfer die Diktatur anders sehen und bewerten als „Mitläufer“ und „Angepasste“ erklärt sich von selbst. Noch 2009 schrieb ein renommierter Universitätsprofessor für Geschichte im Vorwort zu einem Buch anderer Autoren zur „revolutionären“ Geschichte der Universität in den Jahren 1989/90, dass die Geschichtswerkstatt Jena, die sich der Aufarbeitung der SEDDiktatur verschrieben habe, schon kurz nach ihrer Gründung Mitte der neunziger Jahre zu einer „antikommunistischen Propagandatribüne“ verkommen sei. Solche Sichtweisen erlaubten bisher keine Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut, wohl auch, weil sie von einigen meinungsführenden Historikern der FSU aus persönlichen Gründen abgelehnt wurde. Die Geschichtswerkstatt sollte trotz solcher Anfeindungen aus dem universitären Raum die Zusammenarbeit mit der Universität suchen. Es gab und gibt auch positive Beispiele. Eines ist die hervorragende Zusammenarbeit
Dr. Henning Pietzsch ist ab Mai 2012 als stellvertretender Direktor der Point-Alpha-Stiftung in Geisa tätig.
Gedenkveranstaltung zum 30. Todestag von Matthias Domaschk, 2011, Foto: Baldur Haase.
mit dem „Collegium Europaeum Jenense“ (CEJ). Hier ist es besonders Prof. Martin Hermann zu verdanken, dass die bisherige Zusammenarbeit sehr fruchtbar war in ihren Ergebnissen für beide Seiten. Zuletzt konnte im November 2011 ein gemeinsamer Tagungsband zu einem Symposium von 2010 aus Anlass des 60. Geburtstages des 1999 verstorbenen Schriftstellers und Dissidenten Jürgen Fuchs veröffentlicht werden. Zusammenfassend kann gesagt werden: Schwerpunkte der zukünftigen inhaltlichen Arbeit der Geschichtswerkstatt sollten die weiterführende und zu intensivierende Zusammenarbeit mit regionalen und überregionalen Partnern sein, die inhaltliche Öffnung der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ auch als „Dienstleister“, die konsequente Fortführung der Zeitzeugenarbeit sowie die Anwendung fachwissenschaftlicher Standards und Methoden im Sinne einer weiteren Professionalisierung. Um einen langfristigen Fortbestand der Geschichtswerkstatt als Verein zu sichern, ist es aus meiner Sicht unbedingt notwendig, die Vereinsarbeit zu restrukturieren, Mitglieder zu reaktivieren sowie die künftige Projektarbeit weitgehend von Verwaltungsaufgaben abzukoppeln. Das kann jedoch nur mit einer erweiterten Mitarbeiterbasis gelingen. Die personelle Mindestanforderung sind zwei (bezahlte) Mitarbeiter - ein Projektmanager und ein/e fachlich qualifizierte(r) Büromitarbeiter/in für Verwaltungsaufgaben. Mitgliederbeiträge, Spenden und Rücklagen des Vereins sollten vorübergehend für die Bewältigung der Verwaltungsaufgaben genutzt und die Geschäftsführung des Vereins dem designierten Vorstand zeitnah übergeben werden, der durch Mitgliederwahl noch bestätigt werden muss. Zu prüfen ist, inwieweit der vom bisherigen Vorstand gegründete Förderverein arbeitsfähig ist und die zukünftige Arbeit der Geschichtswerkstatt unterstützen kann. Dem designierten Vorstand wünsche ich Erfolg und danke für sein bisheriges ehrenamtliches Engagement. Als Mitglied der Geschichtswerkstatt bleibe ich auch zukünftig der Geschichtswerkstatt als Ansprechpartner und Unterstützer erhalten. Das Interview führten Maria Palme und Daniel Börner.
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Geschichte(n) aus der Region
Der Studentenklub „Rosenkeller“ im Griff der Stasi Schnüffeln im Gewölbe – 4. und letzter Teil
Fast immer hatte die Staatssicherheit in den 1970er Jahren Glück, kluge und gebildete Spitzelkandidaten zu finden, wenn es um den so genannten Jenaer Sicherungsbereich „Studentische Freizeit“ ging. Das meinte die Durchdringung und Überwachung des FDJStudentenclubs „Rosenkeller“ und der anderen Jenaer Clubs. Überaus hoch war der Anteil der Zuträger unter den angehenden Juristen, die sich in aller Regel durch besondere Staatstreue auszeichneten, wollten oder sollten sie doch Richter bzw. Staatsanwälte werden. Wenn es Absolventen der Sektion Staat und Recht gelang, sich als freie Rechtsanwälte niederzulassen, war das in aller Regel nur möglich, wenn sie sich der Stasi verpflichteten. So waren von den insgesamt sechs in Jena tätigen Rechtsanwälten des Jahres 1989 nur zwei nicht für „die Firma“ tätig: Brigitta Kögler und Hermann-Michael Drechsler. Bei anderen, etwa Hans-Peter Richter, ahnte man zumindest eine Stasi-Mitarbeit, was sich nach der Aktenöffnung auch bestätigen sollte. Richter, langjähriger Ökonomie-Chef des Rosenkellers, verdiente sich seine Stasi-Sporen seit dem 21. Juni 1972, als er sich unter dem Decknamen „Hans Rose“ zur inoffiziellen Zusammenarbeit verpflichtete (Reg.-Nr. X/93/72). Bis 1979 berichtete er regelmäßig und intensiv über Ereignisse und Personen im Keller. Dabei war er auf Jura-Studenten, also seine Kommilitonen, angesetzt und auf besonders auffällige Gäste des Clubs. Später, als er bereits wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sektion war, berichtete er auch aus diesem Bereich. Im Falle des Operativen Vorgangs „Revisionist“ spielte er eine äußerst zwielichtige Rolle. Der Jenaer Psychologe Jochen-Anton Friedel war Mitbegründer des Kellers, hatte das erste Rosen-Signet entworfen und zahlreiche originelle Veranstaltungsplakate gestaltet. Ins Visier der Stasi war Friedel geraten, weil er angeblich trotzkistischen Ideen anhing und daher mit allen Mitteln zersetzt werden musste. Ziel war, den Psychologen systematisch in den Wahnsinn zu treiben, bis dieser entnervt seinen Widerstand aufgab und 1982 einen Ausreiseantrag stellte.1 „Hans Rose“ war es gelungen, Friedels Vertrauen zu gewinnen, wie er auch anderen Klubgästen, auf die er angesetzt war, freundlich und sogar hilfsbereit entgegen kam. 1987 beendete die Stasi die inoffizielle Zusammenarbeit, denn Richter war inzwischen Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte des Bezirkes Gera geworden und in die SED-Bezirksleitung Gera berufen. So trug denn der weitere Kontakt zu seinem Führungsoffizier offiziellen Charakter. Nach Aktenöffnung 1991/92 ließ sich „Hans Rose“ kaum noch in der Öffentlichkeit bli-
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cken, rang sich aber durch, in aller Form bei Friedel und einigen anderen um Entschuldigung zu bitten. Eine durchaus beachtenswerte Verhaltensweise, die man bei den sonstigen, entdeckten Inoffiziellen des Rosenkellers und seines Umfeldes bis heute vermisst. Und so begegnet man ihm zu den Kellergeburtstagen, jeweils am 3. Mai, nicht unbedingt mit Feindseligkeit. Allerdings war „Hans Rose“ in seiner aktiven Kellerzeit der absolute Glücksfall. Denn er besaß, politisch bestens geschult, den ideologischen Überblick. So beklagte er im Herbst 1973 in einem Bericht an den Hauptamtlichen Führungs-IM (HFIM) Horst Köhler (Deckname „Gerhard Röse“, Reg.-Nr. X 104/68), zuständig für „Studentische Freizeit“, die ungenügende politische Ausstrahlungskraft auf das Klubleben. Seine Informationen hierzu flossen über diverse andere Kanäle der FDJ-Hochschulgruppenleitung (HSGL) und der SED-Universitäts-Parteileitung (UPL) zu, die ihrerseits erhöhten Handlungsbedarf für aktuell-politische Veranstaltungen sahen, beispielsweise Diskussionen zu wichtigen SEDBeschlüssen nach diversen ZK-Plenen. Hier beklagte „Rose“ wiederum nur „mäßiges Interesse“. Das war aus Sicht der Stasi und der verknöcherten SED-Funktionäre die Crux des Kellers und vieler anderer Studentenclubs in der DDR, die nach dem Vorbild des Weimarer Kasseturms und der Jenaer Clubs entstanden waren. Denn die staatlich verordnete Freizeit mit Marxismus-Leninismus-Anteil wurde nur deshalb in Kauf genommen, weil man nach diesen „Veranstaltungen“ kommunizieren, tanzen und im geselligen Kreis vor allem Alkoholika konsumieren konnte. Aber das Beispiel „Hans Rose“ zeigt, dass die Staatssicherheit nichts unversucht ließ, die absolute Kontrolle auszuüben, zu behalten und ihre Meute in so genannten Schlüsselpositionen entsprechend zu vergüten. Für seine zuverlässige Arbeit erhielt IM „Rose“ mehrfach Geldprämien, einmal sogar als Geschenk einen Heißwasserspeicher im Wert von 310,40 DDR-Mark. Auch wurde er am 8. Februar 1976 mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Bronze geehrt. Im Nachhinein ist man klüger Bis zum Mauerfall ließ die Kontrolle nicht nach, obschon das als Faschingsgruppe getarnte Amateurkabarett kaum noch Zensur spürte bzw. sie geschickt umgehen konnte. Im Februar des Jahres 1989 konnte zum Neurosenfasching beispielsweise ungehindert über die Bühne gehen: „Volkswahlen stark gefährdet. Durch eine verheerende Brandkatastrophe im VEB Schrank & Wand Bützow ist der Betrieb, der einzige Hersteller von
DDR-Wahlkabinen, bedauerlicherweise bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Über eine Verschiebung der Volkswahlen wird deshalb an verantwortlicher Stelle intensiv nachgedacht.“ Nach verschiedenen anderen Szenen wurde ein Dia eingeblendet. „Protest gegen die Verschiebung der Volkswahlen“ (zeigend eine lange Schlange am Einlass des Kellers) mit dem Verweis, dass diese FDJ-ler und Genossen alle an den Wahlen teilnehmen wollten, auch ohne Kabinen. Ganz zum Schluss des Programms die im Stil der Aktuellen Kamera verlesene Meldung: „Volkswahlen nicht mehr gefährdet. Nach der Nachricht von der verheerenden Brandkatastrophe im VEB Schrank & Wand Bützow haben sich die Werktätigen des VEB Aquarien- und Terrarienbaus Jena in einem Gegenplan bereit erklärt, alle benötigten Wahlkabinen herzustellen, gefertigt aus einheimischen Rohstoffen und flächendeckend in der DDR zu verteilen.“ Merkwürdigerweise blieben diese Szenen, und das waren beileibe nicht die allerschärfsten, für die beteiligten Kabarettisten ohne Folgen.2 Unter der Ägide von „Hans Rose“ und der anderen in Schlüsselpositionen tätigen IM wären solche Ausfälle gegen den DDR-Alltag allerdings undenkbar gewesen. Im Nachhinein ist man natürlich klüger – schon 1988, das zeigen die Akten heute, waren der Stasi die Fäden entglitten. Die Tschekisten hatten alle Hände voll zu tun, die ihrer Meinung nach „rechtswidrigen Ersuchen“3 auf Übersiedlung in die Bundesrepublik zu erfassen. Diese so genannten „Antragsteller“ wurden fast immer sofort mit Berufs- oder Studienverbot belegt und gesondert überwacht. Aber die Stasi und ihre Spitzel wussten (zumindest 1988/89), dass viele Antragsteller nach wie vor ungehindert den Rosenkeller besuchten. Die Barmannschaften drückten entweder alle Augen zu oder waren, wie bereits in vorhergehenden Beiträgen beschrieben, auf „klassische Weise bestechlich“. Ein Hort des politischen Untergrunds Aus heutiger Sicht – und durch die Kenntnis der Akten – lässt sich konstatieren, dass die Staatssicherheit kaum noch in der Lage war, dieselbe zu beherrschen oder gar zu steuern. Dennoch ließ sie nichts unversucht, die „Studentische Freizeit“ als Hort des „politischen Untergrunds“ mit geeigneten IM zu durchsetzen. Waren es in den 1970er bis Mitte der 1980er Jahre noch viele Studenten, so hatte die Jenaer Kreisdienststelle spätestens ab Ende 1988 unendliche Mühe, geeignete Kandidaten zu finden, um die aktuell-politische Situation zu durchleuchten. Dies war umso dringlicher,
Geschichte(n) aus der Region
als die Diskussionen nach dem Sputnikverbot (November 1988) und vor allem nach den gefälschten Kommunalwahlen (Mai 1989) immer offener und hitziger wurden. Beispielsweise gab es in der Faschingsgruppe die einhellige Meinung, die Wahlen entweder zu boykottieren oder eine gültige Nein-Stimme abzugeben. Die Stimmung im Clubkern kann der Stasi nicht verborgen geblieben sein, aber merkwürdigerweise finden sich von den namentlich bekannten Spitzeln in ihren IM-Akten so gut wie keine Informationen über jene Debatten, diezum Teil, und daran können sich die Beteiligten noch sehr gut erinnern, bereits „staatsfeindlichen Charakter“ angenommen hatten. Inzwischen wurde im Keller auch offen spekuliert, wer von den Clubmitgliedern für die Stasi tätig sein könnte. Zuvor war das immer nur im kleinen Kreis geschehen. Und einigen, von denen man wusste, dass sie SED-Genossen waren, begegnete man/frau mit teils schroffer Ablehnung. Zu diesem Kreis gehörte auch der Physikstudent Manfred Ehrhardt, dem die etwas zweifelhafte Ehre zukam, der letzte im Rosenkeller für dessen Überwachung angeworbene Stasi-Spitzel gewesen zu sein. Am 6. Juli 1989 verpflichtete sich Erhardt unter dem Decknamen „Manfred Eichler“ (Reg.-Nr. X 1033/89), weil ihm unter anderem in Aussicht gestellt worden war, nach seinem Diplom als Berufssoldat in die Reihen des MfS aufgenommen zu werden, allerdings frühestens im September/Oktober 1990.4 Das spricht immerhin für eine weitsichtige Planung des Führungsoffiziers Unterleutnant Heiderich, der wegen der langen Sommerpause seinen finalen IM, die Stimmung im Rosenkeller betreffend, kaum noch nutzen konnte. So datiert sein erster Bericht vom 16. September 1989, ein zweiter (undatiert) über die Keller-Veranstaltung, als sich die Interessengemeinschaft (IG) Stadtökologie vorstellte, dabei ihre Arbeit und Ziele erläuterte. Diese IG, im März 1988 gegründet, war nur außerordentlich widerwillig zugelassen worden, musste sich zwangsläufig unter die Schirmherrschaft des DDR-Kulturbundes begeben und wurde wegen der kritischen Haltung zur Umweltsituation in Jena und der DDR besonders überwacht, schikaniert und vielfach behindert. Dass sie im September 1989 ungeniert auftreten und heftige Kritik vorbringen konnte, hatte sie vor allem der Chemiker-Barmannschaft zu danken, die zum Teil Mitinitiatoren dieser IG gewesen waren. Diese Art von Öffentlichkeit, noch dazu im Hort des „politischen Untergrunds“ war bis dato undenkbar. Seinen letzten Bericht verfasste „Manfred Eichler“ am 6. Oktober 1989 mit detaillierten Angaben zum Neuen Forum, einigen Aktiven und
Alltägliches Bild im „Keller“: Der stets dicht umlagerte Tresen. Die Ecke mit dem Zapfhahn wurde intern „Quelle“ genannt, Foto: Heinz Voigt.
dass, nach seiner Einschätzung, in der Woche bis zum 15. Oktober keine Demonstrationen zu erwarten seien. Unterleutnant Heiderich leitete den Bericht am 10. Oktober weiter, sah keinen Handlungsbedarf und hat sicherlich resignativ zur Kenntnis genommen, dass just am 15. Oktober 1989 sich in und vor der Jenaer Stadtkirche Hunderte versammelten. Was weiter mit „Eichler“ geschah, ist unbekannt, denn mit dem 10. Oktober 1989 endet seine Akte. Zentralakte ist bis heute nicht aufzufinden Während in der DDR-Endzeit „Manfred Eichler“ noch von gewissem Wert für die Stasi war, gab es zum Beispiel IM „Bernd Maier“ (Reg.-Nr. X680/77), der sich am 18. Januar 1978 schriftlich verpflichtete, aber in den 1980er Jahren strikt weigerte, „Informationen zu seinen Kumpels“ zu erarbeiten oder Fotos aus dem Keller an seinen Führungsoffizier zu übergeben. Allerdings hatte Harald Kotte zuvor bei einigen OPK-Realisierungen gute Arbeit geleistet und hierfür auch Geld erhalten. Es wirkten im FDJ-Studentenclub „Rosenkeller“ noch viele weitere Stasi-Spitzel, so zum Beispiel Matthias Mergner (IM „Andreas Lüder“ – Reg.-Nr. XVIII 3283/78) oder die IM „Michael Ziegel“ und „Dieter Klein“, den GMS „Jolle“, in der Frühzeit den IM „Bert“ und andere, wobei zu bemerken ist, dass es eine Zentralakte „Studentische Freizeit“ nicht gibt, zumindest nicht in der Außenstelle Gera des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Doch bei den Recherchen zum Thema stießen wir immer wieder auf entsprechende Hinweise. So spielt, was die weitere Aufarbeitung zum Schnüffeln im alten Gewölbe angeht, noch immer der Zufall eine große Rolle bzw. Betroffene entdecken in ihren Akten bislang unbekannte Denunzianten und Denunziationen. Fakt ist: Die These, dass der Klub quasi im Auftrag der Staatssicherheit gegründet worden ist, wie sie bereits 1990 formuliert wurde, kann bis zum Beweis des Gegenteils nicht
aufrecht erhalten werden. Unbestreitbar ist wohl die Tatsache, dass von Beginn an, das heißt sogar bereits in der Bauphase bis zur Eröffnung am 3. Mai 1966, die Staatssicherheit immer vor Ort war, kontrollierte, auf das Programm Einfluss nahm und auf ihre Weisung hin missliebige Personen wegen ihres Kellerengagements exmatrikuliert und im Falle des Clubchefs Gunter Oeser (1980) mit Promotionsverbot belegt wurden. Dennoch bleibt zu konstatieren: Obwohl der Keller von oben bis unten mit Spitzeln durchsetzt war, haben die kreativen Clubleute der SED-Ideologie des öfteren Phantasie und Witz entgegen setzen können und „Studentische Freizeit“, anders als von der Uni-Parteileitung, der FDJ und der Stasi gewollt, selbst gestalten können. Heinz Voigt, Journalist, Jena
Anmerkungen 1 Allerdings muss bemerkt werden, dass „Hans Rose“ in die Strategie zur systematischen Zersetzung Friedels nicht eingeweiht gewesen, sondern nur eines der Instrumente war. Das Wissen um die Zusammenhänge und Konsequenzen hätte ihn, trotz seiner Bereitwilligkeit, das MfS in jeder Hinsicht zu unterstützen, möglicherweise abgeschreckt. 2 Diese und viele andere Szenen des RosenkellerKabaretts der Jahre 1987 bis 1989 sind bereits dem Jenaer Uni-Archiv übereignet worden und harren noch der Aufarbeitung. 3 Diese Sprachregelung wurde bis zum Schluss beibehalten. Wer die DDR verlassen wollte, war nach dieser Definition kriminell und wurde auch wie ein Krimineller behandelt. 4 Die Verpflichtung erfolgte ohne Not. Ehrhardt wurde weder erpresst, noch besonders belohnt, sieht man von seiner in Aussicht gestellten MfSKarriere ab Herbst 1990 einmal ab. Die Bereitschaft, auch über Kommilitonen Berichte zu verfassen, wirkt aber nicht weiter verwunderlich, er war, wie sich bei seiner Überprüfung auf IM-Tauglichkeit herausstellte, ein überaus treuer und gläubiger Genosse, der keinerlei Zweifel an der Richtigkeit / Ausgabe 1/2012 / 49 der Parteilinie hegte.
Rezensionen
SchieĂ&#x;befehl und Kakerlaken Roland Mey In diesem reichhaltigen, vielfarbigen BĂźchlein verdichtet sich ein Fluidum von Zorn und Revolution, Diktatur und Aufbegehren, durchschauendem Humor und Scharfsinn – woran man sich stärken kann. Da wird selbst derjenige Leser, der all dies nicht nur als Zuschauer und Zeitzeuge, sondern als Mitstreiter erlebt hat, beim Lesen tief einatmen und aufatmen und merken, was es bedeutet, sich zurĂźckversetzt zu fĂźhlen: Das bewirkt ein Autor, der als konsequenter, rigoroser Demokrat und diplomierter Physiker, gebĂźrtiger ThĂźringer und Wahl-Leipziger, in totalitärem Milieu, das nichts weiter war als ein sowjetisch-deutsches Protektorat, genannt DDR, alles getan hat, um widerstrebend und widerstehend, ohne DemĂźtigung und in aufrechter Haltung zu Ăźberleben – zuletzt als Busfahrer und PfĂśrtner, aus seinem Lehramt hinausgedrängt. Nun also äuĂ&#x;ert sich der Autor der „Humoresken aus der DDR“, die auch hier mit enthalten sind, erneut in seiner originell-burschikosen Art, die von der Klaviatur der feinen wie ätzenden Ironie und aller Schattierungen des Humors, nicht zuletzt des schwarzen, Gebrauch macht – und es ist mehr als spannend. Die Textsammlung, bunt und kontrastreich, beginnt mit dem Paukenschlag einer historischen Recherche zum SchieĂ&#x;befehl am 9. Oktober 1989 in Leipzig, dem Entscheidungstag des Herbstes ´89, vor der groĂ&#x;en Demonstration der 70.000, gegen die die zuständigen „Organe“, Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen voran, wie sich erweisen sollte, schon nichts mehr ausrichten konnten. Da erfährt man – klar und eindeutig, von faksimilierten Zeitdokumenten untermauert, die aus dem Besitz des Autors stammen und die er nun zum ersten Mal Ăśffentlich präsentiert –, wie die Befehlskette fĂźr das Zuschlagen am 9. Oktober in Leipzig vorbereitet wurde, mit psychologisch plumper Erpressung nämlich und massiver Bedrohung der Soldaten. Ohne ZĂśgern von den Maschinengewehren der SchĂźtzenpanzerwagen Gebrauch zu machen, das forderte jener Oberstleutnant der Volkspolizei und Kommandeur Wächtler in Erwartung des obersten SchieĂ&#x;befehls, und rĂźstete seine Bereitschaftspolizei mental fĂźr den alles entscheidenden klassenkämpferischen Feindalarm auf. Dies sollte jeder, nicht nur jeder Leipziger Montagsdemonstrant von 1989 wissen. Denn Roland Mey hatte, beim BĂźrgerkomitee tätig, im FrĂźhjahr 1990 selbst nachgeforscht, auf einen anonymen Brief hin, der ihn auf die 21. VP-Bereitschaft und den oben genannten Kommandeur aufmerksam machte. Oberstleutnant Wächtler, vom Autor zum Gespräch gebeten, bestätigte die Richtigkeit seiner Aufforderung zum „KnĂśpfchendrĂźcken“ am PKT, dem sowjetischen Maschinengewehr im Turm des SchĂźtzenpanzerwagens, und der Drohung mit dem Militärstaatsanwalt bei etwaiger Befehlsverweigerung. Dass am Ende der Befehl von 50 /
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Egon Krenz persĂśnlich, trotz bestens vorbereiteter Befehlskette, ausgeblieben war – aus welchen GrĂźnden auch immer –, mindert nicht die Brisanz. Doch mehr als das wird beleuchtet: Einige Zeit danach entdeckt der Autor zufällig, dass fĂźr den Offizier Wächtler auch im vereinigten Deutschland erstaunlicherweise eine Karriereleiter bereitgestellt war. Und er mischt sich ein. Einige Episoden aus der Zeit des Leipziger BĂźrgerkomitees, wo Roland Mey kraftvoll zupackte, bieten im 2. Kapitel ein StĂźck lebhafter Leipziger Umbruchsgeschichte, das man – immer neugieriger werdend – gern immer wieder liest. Wie viel Sand im Getriebe vor Ort knirschte, mehrfach durch westlichen Unverstand gestreut, das kann man aus manchen Ost-West-Begegnungen, die hier vergegenwärtigt werden, deutlich erkennen. Gleichwohl lernt man in diesem zweiten Kapitel eine Menge dazu – beispielsweise Ăźber Querelen der Erneuerung, so etwa der Leipziger Volkshochschule oder beim Versuch, im Jahr 1990 Betriebsräte in Leipzig und Umgebung gegen den Widerstand der alten FDGBFunktionärsclique aufzubauen. Die Grenzgeschichten – anlässlich eines Sommerurlaubs in und um Leutenberg – bieten die ganze Absurdität eines Regimes, das auf eine Denunziation hin nach dem Autor und seiner Frau als verdächtigen Urlaubern, potenziellen Grenzverletzern fahndete, nur weil sie sich nach einem Aussichtspunkt erkundigt hatten, der Blicke in die Landschaft jenseits der Grenze gestattete. Was daraus fĂźr VerhĂśre und SicherungsmaĂ&#x;nahmen resultierten (zum Beispiel eine polizeiliche Begleitperson auf kĂźnftigen Waldwanderungen), stammt aus dem absurden Theater oder dem Tollhaus und verschafft jenes Grauen mitten in schwarzhumoriger Lächerlichkeit, wie es politischem Wahnwitz sozialistischer Mach(t)art entsprach. Daneben scheinen die anekdotischen Impressionen aus der Busfahrerzeit des Verfassers und die Betrachtungen zur Arbeitsmoral angesichts der „Ruhearbeit“ oder zum geistigen Elend der „Roten Wochen“ als realitätsgesättigtes, heruntergekommenes DDR-Dasein. Darunter Facetten von starker Authentizität – vom Mey’schen Humor gut gewĂźrzt und fĂźrs Weiterreichen präpariert: Daraus sollte bester antinostalgischer ZĂźndstoff zu gewinnen sein! Ebenso wie aus den „Kuriositäten in Leipziger Krankenhäusern“ – drastische Erfahrungen des Autors als Patient, der mitten in der Operation des Beinbruchs vom Materialmangel bedroht wird: Schrauben und Platten der benĂśtigten GrĂśĂ&#x;e waren „nicht vorrätig“. Von Kakerlaken, Ameisen ganz zu schweigen, deren Bekämpfung durch die Patienten und das Pflegepersonal mittels Marmeladenglasfallen und hartnäckiger Jagden nur zu Teilerfolgen fĂźhrte. „Steinzeit-Technologie“ verband sich mit Mangelwirtschaft zu unzumutbaren Bedingungen: Ein quer durch
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Roland Mey: Der SchieĂ&#x;befehl am 9. Oktober 1989. Leipzig: Osiris-Druck, 2011, 138 S., 10,50 â‚Ź
ein Krankenzimmer gespanntes Seil sollte den Absturz eines baufälligen Erkers verhindern, nagelneue Krankenwagen verfĂźgten Ăźber keine Heizung. Daneben bietet der Sprung zurĂźck in eine besonders finstere Episode der Jenaer Universitätsgeschichte – die berĂźchtigte Hetz-Affäre gegen den Mathematiker Walter BrĂśdel, der, in MĂźnchen wohnend, in Jena seine Professur hatte – das Grauen totalitärer Gnadenlosigkeit: Man entledigte sich im Dezember 1961 nicht nur eines beliebten, hochkompetenten Wissenschaftlers und Lehrers auf perfide Art, sondern wollte parallel die Zustimmung der Studenten erpressen, die, im zugeschlossenen HĂśrsaal gefangen, politisch so lange bearbeitet wurden, bis die SED-Ideologen – fälschlicherweise – glaubten, auch den letzten der empĂśrten Studenten ausreichend eingeschĂźchtert zu haben. Gegen Ende gewinnt GutmĂźtigkeit Ăźber die Bissigkeit des Humors die Oberhand. Da gibt es nette familiengeschichtliche Plaudereien, die trotz der ernsten zeitgeschichtlichen Verquickung allerlei mitteilenswerte Ăœberlebensstrategien wahrnehmen lassen. Diesem Autor droht die Gefahr der Verbitterung nicht. Doch was er so Ăźberzeugend vorfĂźhrt, ist auch eine gegen jede Art Resignation gerichtete Prophylaxe – um die man ihn beneiden kann, weil er mit ihrer Hilfe eine erstaunliche Souveränität gewinnt. Das AusmaĂ&#x; an nachhaltigem Missmut, das die unselige sozialistische Diktatur mit ihrer politischen Vergewaltigung erzeugte, lässt sich vielleicht sogar noch im Nachhinein auf solchen Wegen ins halbwegs Erträgliche mindern, ohne dass man der Verharmlosung oder der Resignation anheim fällt. Das letzte Kapitel jedoch – „Der Geist und das Geld in der neuen Welt“ – mĂśchte zweifellos mit grĂźndlicher, sogar wissenschaftlich fundierter kritischer Kenntnisnahme den Blick fĂźr den Widersinn und die Ignoranz schärfen, gegen die man gerade in der besten Demokratie täglich zu kämpfen hat – und es verschafft genĂźgend Kräfte, um sich kritisch zur Wehr zu setzen. Prof. Dr. Gottfried Meinhold em., Institut fĂźr Germanistische Sprachwissenschaft, Jena
Rezensionen
„Kurzer Prozess. Eine Seefahrt in den Stasiknast.“ Fünf Tage nach dem Mauerbau 1961 werden junge Christen Opfer der SED-Diktatur. Der Regisseur Andreas Kuno Richter schickt in seinem Dokumentarfilm fünf Jugendliche, zwei junge Frauen und drei junge Männer, aus der Jungen Gemeinde in Bernitt (Gemeinde im Westen des Landkreises Rostock) auf Spurensuche. Die filmische Zeitreise führt die Spurensucher zurück in das Jahr 1961, als der Mauerbau in Berlin gerade begonnen hatte. Vom Bau der Mauer erfahren Jürgen Wiechert (18), Dietrich Gerloff (25) und ihre Freunde, junge Christen und Mitglieder der Jungen Gemeinde in Berlin-Schmöckwitz, im Sommer während eines Zeltlagers an der Ostsee. Eine frühzeitige Rückkehr nach Berlin wird diskutiert. Die Gruppe entscheidet sich jedoch, den Urlaub fortzusetzen. Geplant ist auch ein Ausflug vor die dänische Küste Bornholms, was sich als verhängnisvolle Seefahrt erweisen wird. Als der Kapitän aufgrund des stürmischen Wetters beschließt umzukehren, kommt Jürgen auf die Idee, einen spaßig gemeinten Zettel mit der „Bitte“ an den Kapitän weiterzureichen, dennoch Kurs auf Bornholm zu halten. Unterzeichnet wird der Zettel von den Jugendlichen auf dem Oberdeck und von „Neptun“ höchst persönlich. Kurze Zeit später eskortiert ein Marineschiff der Küstenwache der DDR das Ausflugsschiff nach Sassnitz, wo die jungen Christen brutal verhaftet werden. Die Reise endet im Stasiknast in Rostock. Nur vier Tage später, am 22. August 1961, stehen Wiechert, Gerloff und die anderen Unterzeichner vor dem Bezirksgericht in Rostock. Die Anklage lautet zunächst „schwer bewaffnete Schiffsentführung“, so Wiechert heute im Zeitzeugengespräch. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, denn niemand habe Waffen besessen. Das MfS konstruiert anhand der „schweren Bewaffnung“ letztlich eine ideologische Waffe. Weitere Anklagepunkte sind: Mitgliedschaft und Söldnertum in der „NATO-Kirche“, das Vorhaben des illegalen Verlassens der DDR und sogar Mordhetze gegen den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Zum Spaß sprachen die Jugendlichen zuvor davon, Ulbricht, den „Spitzbart“, ins Meer zu schmeißen, damit Deutschland endlich frei wird. Das macht sie zu Staatsfeinden. Die Anklage richtet sich damit nicht nur gegen die Jugendlichen selbst, sondern auch gegen die evangelische Kirche. Die Folge ist ein Schauprozess mit gnadenlosem Urteil: Jürgen Wiechert und Dietrich Gerloff werden als „Rädelsführer“ eingesperrt. Sie sollen für acht Jahre ins Zuchthaus. Halt bietet den jungen Christen in dieser schweren Situation vor allem ihr Glaube. Im Oktober 1963 kommt es im Zuge des politischen Häftlingsfreikaufs durch die Bundesrepublik überraschend zur frühzeitigen Haftentlassung der Beiden. Sie gehörten zu den ersten Häftlingen, die seit 1962 freigekauft wurden. Die tragische Bootsfahrt von Wiechert, Ger-
„Kurzer Prozess. Eine Seefahrt in den Stasiknast“, 2011, 48 Minuten, ein Film von Andreas Kuno Richter, produziert von Eikon Nord (Hamburg) im Auftrag von RTL in Zusammenarbeit mit der Stiftung Aufarbeitung u. der evangelischen Kirche in Deutschland.
loff und ihren Freunden wird mit Hilfe der Spurensucher dokumentarisch aufgearbeitet. Die fünf Jugendlichen kleiden sich wie ihre Altersgefährten im Jahr 1961, führen Gespräche mit Zeitzeugen und Fachkundigen, reflektieren ihre Gedanken zum Geschehenen vor der Kamera und stellen verschiedene Situationen von damals nach. So kommen abwechselnd die jungen Menschen von heute und die (damals jungen) Zeitzeugen zu Wort. Sehr einprägsam wirkt die Szene, in der ein Augenzeuge von der brutalen Verhaftung in Sassnitz berichtet. Der Mann verrichtete damals seinen Pflichtdienst als Transportpolizist bei der Bahn, um später Lockführer zu werden. Die Beobachtung der Verhaftung und das unmenschliche Verhalten gegenüber den Jugendlichen veranlassten ihn dazu, über das Grenzregime nachzudenken. Gegenüber seinen Vorgesetzten äußerte er: „Ich werde nie auf deutsche Menschen schießen.“ Daraufhin wurde er aus dem Polizeidienst ausgeschlossen und musste seinen Berufswunsch aufgeben. Die Intention, mit Hilfe der jugendlich-detektivischen Spurensucher ein jüngeres Publikum anzusprechen, wird vor allem während der ersten Hälfte des Films erfüllt. Gespräche und gemeinsame Reisen an Schlüsselorte des Sommers 1961: Der Ostseestrand von Usedom, die Anlegestelle in Sassnitz und der ehemalige Stasiknast in Rostock, heute eine Dokumentations- und Gedenkstätte der BStU. Während der zweiten Hälfte der Dokumentation beschränkt sich das Mitwirken der Spurensucher größtenteils auf das Nachstellen der Szenen sowie die eine oder andere Fragestellung an die Zeitzeugen und Experten. Im Gefängnis und am Filmende finden noch einmal Überlegungen der Jugendlichen statt, bei der eine der Spurensucherinnen ein kurzes Abschlussstatement liefert. Martha Lange, 19 Jahre jung, weiß aus eigener Erfahrung, dass es gerade bei jungen Menschen einen teilweise unreflektierten Blick auf die Vergangenheit gibt, und dies zeige, dass man sich damit intensiver beschäftigen müsse.
Der Dokumentarfilm ist spannend nacherzählt und atmosphärisch stimmig, was nicht zuletzt an der abwechslungsreichen Gestaltung der Szenen liegt, die sich aus Gesprächen mit Beteiligten, nachgestellten Szenen und historischem Bildmaterial zusammensetzt, aber auch an der markanten und eindringlichen Kommentarstimme von Manfred Lehmann hängt. Lediglich die Gedankengänge der fünf Jugendlichen aus Bernitt wirken etwas zu kurz geraten. Bisher war man vom Sender RTL und seines Fernsehstils, der bevorzugt ein jüngeres Publikum anspricht/ansprechen möchte, selten gewohnt, historische Stoffe in ansprechenden Dokumentationen vorzufinden. Es bleibt zu hoffen, dass der Sender den eingeschlagenen Weg weiterführt, die spätabendliche Ausstrahlung wiederholt oder weitere Themen dieses Kalibers filmisch aufarbeiten lässt. Der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, äußerte sich während der Diskussionsveranstaltung zur Uraufführung im Oktober 2011 anerkennend: „Mich hat der Film beeindruckt, weil Menschengeschichten erzählt werden. Gerade der Schluss hat es noch mal deutlich gemacht, welche Schätze in diesen Akten stecken. Dieser kleine Zettel, ist ein kleiner Zettel aus Papier in unserem Archiv. Aber was da alles dran hängt! Stasiakten sind nicht nur Papier, sondern sind zugleich Schicksale von Menschen, und das hat dieser Film deutlich gemacht. Was mir besonders gefallen hat, das ist nicht nur ein Blick zurück, sondern dass sich hier junge Menschen auf die Suche begeben, dass sie sich die Frage stellen: Wie hätte ich mich gefühlt, wenn mir das passiert wäre? Das zieht den Film in die Gegenwart, das zieht die Geschichte in die Gegenwart und es ist, denke ich, ein guter Weg hier eine Brücke zu schlagen, in den Dialog zu kommen mit der jungen Generation.“ Marco Stritzinger, Student der Integrativen Sozialwissenschaft, Kaiserslautern/Jena
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Rezensionen
Vatikanische Ostpolitik und die DDR Roland Cerny -Werner Zur Verbesserung der Lage der katholischen Kirche und ihrer Gläubigen in den ehemaligen Ostblockländern entwickelte der Vatikan diplomatische Bemühungen, die unter dem Terminus „Vatikanische Ostpolitik“ zusammengefasst werden. Eine Untersuchung dieser „Ostpolitik“ ist stets ein außergewöhnlich spannendes, aber auch besonders schwieriges Unterfangen. Allein die Komplexität des Themas und der nur eingeschränkte Zugang zu den Quellen bzw. Akten legen es nahe, sich der Thematik mit verschiedenen Fragestellungen zu nähern. Roland Cerny-Werner beschreibt im vorliegenden Buch die Beziehungen des Vatikans zur DDR mit Schwerpunkt auf den Jahren des Pontifikates Papst Paul VI. (1963-1978). Dabei stützt sich der Autor vor allem auf Dokumente aus dem Privatnachlass von Agostino Kardinal Casaroli, die in Parma und Bedonia aufbewahrt werden. Dieser günstige Umstand, Zugang zu diesen einmaligen und sonst der strengen Sperrfrist unterliegenden Unterlagen zu haben, kann einen neuen Pfad und ebenso neue Sichtweisen auf die „Vatikanische Ostpolitik“, als dessen
„Architekt“ der ehemalige Unterstaatssekretär und Sekretär der Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten unter Paul VI., Agostino Casaroli, bezeichnet wird, erschließen. Ausführlich gelingt es dem Verfasser – nach einer Zusammenfassung der „Ostpolitik“ der Jahre 1917-1963 – unter Hinzuziehung von Konvoluten aus kirchlichen und staatlichen Archiven, die diplomatischen Aktivitäten des Vatikans zum sozialistischen Staat DDR darzulegen, deren Höhepunkt der Besuch Casarolis 1975 in der DDR sein dürfte. Einige noch bestehende Forschungslücken konnten geschlossen werden: Etwa die Darstellung des Verhältnisses der Kardinäle Bengsch und Döpfner in der „heißen Phase“ der „Vatikanischen Ostpolitik“, die realistische Sicht des Vatikans hinsichtlich einer friedlichen Koexistenz mit den Marxisten sowie eine mögliche Planung für einen päpstlichen Legaten in der DDR. Für die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung, näherhin für die Untersuchung der „Ostpolitik des Vatikans“ stellt das vorliegende Buch eine durchaus notwendige Ergänzung dar. Kritisch an
Roland Cerny-Werner Vatikanische Ostpolitik und die DDR, Göttingen: V&R unipress, 2011, 379 S., 49,90 €
zumerken ist lediglich der kaum vorhandene quellenkritische Umgang mit dem Nachlass von Casaroli, was umso schwerer wiegt, da dieser Nachlass in der von Cerny-Werner genutzten Form heute nicht mehr zugänglich ist. Torsten W. Müller, Theologe, Erfurt
„UdF“ und Transit Cornelia Klauß/Frank Böttcher und Jörg Kuhbandner/Jan Oelkner Heimliches und trickreiches Reisen in der Sowjetunion Auch wenn schon schiere Bücherberge über die untergegangene DDR existieren, so gibt es noch immer unerschlossene Themenbereiche. Zwei nun erschienene Werke über heimliche Reisen von abenteuerlustigen, meist jüngeren DDR-Bürgern mit einem Kurzzeit-Transitvisum in die riesige Natur- und Kulturlandschaft der einstigen Sowjetunion, bieten spannenden und ungewöhnlichen Lesestoff. Reisefreiheit war im Herbst 1989 eine zentrale Forderung der Menschen in der DDR. „Visafrei bis Hawaii“ stand damals auf Protestplakaten der Demonstranten. Fürwahr ist die wiedererlangte Reisefreiheit eine kostbare Errungenschaft, die einherging mit dem Ende des DDR-Regimes. Dennoch sind damals mangels Alternativen, viele Individualreisende aus dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ in den Ferien mit Kraxenrucksack samt Alugestell nach Osteuropa bis nach Mittelasien und darüber hinaus aufgebrochen. Hauptsache raus aus dem Alltag der „Zone“ und der lähmenden Monotonie für ein paar Wochen entfliehen. Subventionierte und gelenkte Fahrten mit „Jugendtourist“, dem 1975 gegründeten Reisebüro der FDJ und deren linientreuen Reiseleitern, kamen da nicht in Frage. Und was heute schon wieder einige vergessen haben: Unser sogenanntes „glorreiches Bruderland“, die Sowjetunion, konnte man damals allenfalls stark eingeschränkt und nur 52 /
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mit offizieller Erlaubnis und konkreter Einladung sowie mit gültigem Visum, allein beziehungsweise im Tross einer geführten Reisegruppe, bereisen. Viele Gebiete und Städte waren zudem als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen und durften formal nicht einmal betreten werden. Doch zahlreiche abenteuersuchende Tramper aus der DDR haben es trotzdem gewagt. Es gelang ihnen mit dem Trick und der Hilfe eines sogenannten Transitvisums, dass generell nur bis zu drei Tage, gedacht für die schnelle Durchreise auf dem Weg nach Rumänien oder Bulgarien, galt. Mit diesem speziellen Kurzvisum erkundeten die Abenteurer auf seinerzeit illegalem Wege zum Teil über Wochen hinweg das riesige Sowjetreich von Brest bis Wladiwostok und seinen elf Zeitzonen. Nicht immer gelang es dabei, dem sowjetischen Geheimdienst KGB, den Milizionären oder der absurden Bürokratie zu entkommen. Doch zum Glück, so ist den meisten Schilderungen beider Bücher zu entnehmen, gingen Festnahmen und Vernehmungen der Transitreisenden in der Regel glimpflich aus. Doch die Angst vor den „Tellermützen“, den uniformierten Staatsdienern und Aufpassern und deren Ausweiskontrollen, war bei vielen Transit-Travellern aus der DDR, unterschwellig vorhanden. Ungemein pfiffig sind auch die angewandten Kniffe der Reisenden gewesen, wo etwa selbstgemachte Stempel mit Hilfe
Foto: Uwe Wirthwein
Rezensionen Titelthema
Klauß, Cornelia/ Böttcher, Frank (Hg.): „Unerkannt durch Freundesland – Illegale Reisen durch das Sowjetreich“, Berlin: Lukas-Verlag, 2011, 445 S., 108 Farb- u.183 s/w-Abbildungen, 24,90 €
eines Kinderstempelkastens aus DDR-Produktion hergestellt, die selbstverfassten Delegierungs-Empfehlungsschreiben zum bedeutsamen Reisedokument aufwerteten und in den Sowjetrepubliken für freies Geleit sorgten. Andere „Transitniks“ erzählten den Milizionären und KGB-Aufpassern, dass sie ihre Reisegruppe auf dem langen Weg in den Kaukasus verloren hätten, woraufhin sie manchmal tatsächlich dorthin Plätze im Flugzeug vermittelt bekamen. Das 2011 erschienene Buch „Unerkannt durch Freundesland – Illegale Reisen durch das Sowjetreich“ aus dem Berliner LukasVerlag, dessen Leiter Frank Böttcher selbst als einstiger Transitreisender dort unterwegs war, schloss damit auch eine noch klaffende Forschungslücke. Es ging kürzlich bereits in die dritte Auflage. Ende letzten Jahres war die gleichnamige Ausstellung, mit eindrucksvollen Bild- und Tondokumenten, im Jenaer Stadtspeicher am Markt zu besichtigen. Schon 2006 hatte Mitherausgeberin Cornelia Clauß einen Dokumentarfilm zum gleichen Thema produziert, der den Anstoss für das Buch lieferte. Im Buch enthalten sind 25 spannende Geschichten und ein Anhang mit einem kleinen Wörter-ABC des abseitigen Tourismus in der Sowjetunion, darunter die deutschstämmigen Begriffe „Marschrut“ und „Trinkspruch“. Der im einstigen Grenzgebiet, im südthüringischen Behrungen aufgewachsene Uwe Wirthwein machte bis zum Mauerfall insgesamt sieben Reisen in die Sowjetunion, unter anderem bis in den Zentralkaukasus und nach Sibirien. Im Buch schildert er seine überaus spannenden Erlebnisse vom Winter 1988 am zugefrorenen Baikalsee mit Freunden, allesamt frischgebackene, höchstkreative Jungingenieure. Zunächst überquerten sie die Schneedecke auf einem Teilstück mit einem selbstgebauten Eis-Segler aus Holz und später zu Fuß. Dabei übernachteten sie im Zelt auf der unendlich erscheinenden Eisfläche des größten Süßwasserreservoirs der Welt. Der Diplomingenieur Wirthwein, der heute eine Lehmbaufirma betreibt, beschreibt
im Band seine damaligen Empfindungen so: „Es wurde eine ganz verrückte Nacht: Zwischen mir und den tausend Metern Wasser in der Tiefe befanden sich nur eine vergleichsweise hauchdünne Eisschicht von einem Meter und eine Isomatte. Dazu kam eine wirklich atemberaubende Geräuschkulisse. Ich lag mit dem Ohr auf dem Eis und hörte unheimliche Schläge. Sie kamen von den Ausdehnbewegungen des Eises, es klang wie in einem Geisterfilm. Ich konnte kaum schlafen und wenn, dann hatte ich Alpträume von diesen Geräuschen und dem Zerren des Windes, der immer heftiger wurde und sich in einen Sturm verwandelte, der die ganze Nacht wütete und beinahe unser Zelt zerfetzte.“ Jürgen van Raemdonck, der heute einen großen Hof in Vorpommern ökologisch bewirtschaftet, reflektiert über die absolut wagemutigen Versuche von ihm und seinem Freund Pit, 1986 und 1987 über das Eismeer in Nordostsibirien nach Alaska zum US-Militärstützpunkt Point Hope zu flüchten: „Eine Weltanschauung kommt davon, dass man sich die Welt anschaut, um mit Manfred Krug zu sprechen. Ich war neugierig und wollte in die Welt. (…) Wir sind weder Konsumflüchtlinge noch normale Antragsteller. Wir sind Verrückte, weil wir in der DDR verrückt geworden sind und Verrückte bleiben werden. Es ging uns darum, einen anderen Weg zu finden, etwas Eigenes, Ungewöhnliches.“ Michael Beleites, vielen sicher als der spätere Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen in Sachsen bekannt, reiste zwischen 1985 und 1989 mehrmals ins sowjetische Baltikum. Über Kaunas gelangte er dabei auch auf die Kurische Nehrung, eine schmale Landzunge zwischen Kurischem Haff und der Ostsee. Seit Kriegsende, so Beleites, war diese „für Deutsche unerreichbar im russischen Ostpreußen, eine für Ausländer verbotene Zone.“ Wer unter anderem die imposanten Wanderdünen, die beeindruckende Natur und Vogelwelt der Kurischen Nehrung sowie die Gastfreundschaft der Balten jemals kennenlernen durfte, der kann ermessen, dass solche Reisen Kraft für den Alltag in der DDR und
Kuhbandner, Jörg/ Oelker, Jan (Hg.): „TRANSIT – Illegal durch die Weiten der Sowjetunion“, Erlebnisse, Tagebuchaufzeichnungen, mit zahlreichen Fotos und Karten, Radebeul: Notschriften-Verlag, 2010, 576 S., 29,90 €
die Auseinandersetzung mit dem SED-Regime gaben. Der Thüringer Gernot Friedrich, der viele Jahre als Gemeindepfarrer in Jena und Gera wirkte, bereiste die Sowjetunion bis zum Mauerfall um die zwanzigmal, wobei er vornehmlich christliche Gemeinden von Wolgadeutschen aufsuchte. Er schmuggelte öfters Bibeln in das Land Lenins, weil es dort kaum welche gab. Friedrich reiste meist ganz spartanisch, teilweise nur mit einem Faltbeutel mit dem Notwendigsten, darin zwei Hemden. Oft kam er bei ausgesprochen gastfreundlichen Menschen unter. Bereits 2010 erschien im Notschriften-Verlag Radebeul das ebenso eindrückliche wie reich illustrierte Buch „TRANSIT – Illegal durch die Weiten der Sowjetunion“. Darin berichten achtzehn Autoren, darunter wiederum Uwe Wirthwein, von ihren Touren in die Hochgebirge der zum Teil bis heute touristisch kaum erschlossenen Bergwelten von Fan-Gebirge, Kaukasus und Pamir sowie bis nach Kamtschatka und Tibet. Der Forstwissenschaftler und seit 2006 amtierende Oberbürgermeister von Suhl, Jens Triebel, beschreibt darin die beschwerliche und dennoch erfolgreiche Team-Besteigung des im Pamir-Gebirge gelegenen Pik Korshenewskaja (7105 Meter) im Jahr 1988. Triebel war damals gerade 19 Jahre alt. Offizielle Reisen zu den Bergriesen im Sowjetreich waren bis 1990 meist nur Bergsteiger-Kadern der Nationalmannschaft vorbehalten. Und weil es in der DDR kaum geeignete Bergsteigerausrüstung zu kaufen gab, nähten Triebel und seine Freunde sich die Schlafsäcke, Daunenjacken und Zelte selbst. In seinem Textbeitrag zitiert er einen damaligen Spruch aus einem Gipfelbuch in der Sächsischen Schweiz: „Wir haben zwar den selben Himmel, aber nicht den gleichen Horizont.“ Wenn schon für den normalen DDR-Bürger die Alpen oder der Himalaja nicht zu erreichen waren, dann sollte es wenigstens ein Siebentausender im Pamir sein. Thomas Purschke, Journalist, Steinbach-Hallenberg / Ausgabe 1/2012 / 53
Impressum
17. Jahrgang, Heft 64, Juni 2012 Herausgegeben von der Geschichtswerkstatt Jena e.V. in Zusammenarbeit mit der Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Stadt Jena und dem Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Redaktion dieser Ausgabe: Maria Palme, Daniel Börner, Henning Pietzsch Redaktionsanschrift: Geschichtswerkstatt Jena e.V. Heinrich-Heine-Straße 1 07749 Jena Tel. 0 36 41 / 82 12 35 E-Mail: geschichtswerkstatt.jena@t-online.de Internet: www.gerbergasse18.de Spendenkonto: Sparkasse Jena-Saale-Holzland Konto: 18 000 061 BLZ: 830 530 30 Gestaltung, Layout und Satz: Atelier Kalmanfi Design Lindenhöhe 16 07749 Jena Tel. 0 36 41 / 29 68 15 E-Mail: mail@kalmanfi.de Internet: www.kalmanfi-design.de Druck und Verarbeitung: XXXXXX Druckerei Musterstraße 0, 00000 Ort Telefon: 0 00 00 / 00 00 00 Nachdruck und Vervielfältigung in Medien aller Art nur mit Genehmigung. „Gerbergasse 18“ erscheint vierteljährlich Heftpreis: 3,50 € Jahresabonnement 2012 (drei Ausgaben): 9 € inkl. Versand Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Die Autoren/-innen zeichnen für den Inhalt selbst verantworlich. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Haftung übernommen werden. Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 31. August 2012. Bildnachweise: Titelbild: Quelle: Zentralrat der FDJ (Hg.): Für den Gruppenpionierleiter – Jungpioniere, Abteilung Junge Pioniere, Verlag Junge Welt 1972. Weitere Quellennachweise zu verwendeten Bildern im Innenteil. ISSN 1431-1607
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Gerbergasse 18, von 1975 bis 1989 Sitz der MfS-Kreisdienststelle Jena, infolge der Friedlichen Revolution Anfang Januar 1990 von Jenaer Bürgern besetzt, von 1996 bis 2006 erstes Domizil der Geschichtswerkstatt, im Februar 2007 abgerissen, Namensgeberin unserer Vereinszeitschrift.
Zeitschrift zur kritischen
und
HorcH
Guck
Aufarbeitung
der SED-Diktatur
Die nächsten Themen s chwerpunkte: Vierteljährlich
Juni 2012:
in „Horch und Guck“.
Grauer Nebel und bunte Flüsse. die zerstör te umwelt in der ddr.
Zeitgeschichte für alle. Prägnant und allgemeinverständlich.
September 2012:
Gebauter Sozialismus? Architektur und Städtebau in der ddr.
Geschichten in der Geschichte. Spannende Zeitzeugen.
Dezember 2012:
„Brot – Wohlstand – Schönheit“? Naturwissenschaft und Technik.
Kontroversen und Debatten. Vergleichender Blick nach Osteuropa.
H o r c H u n d G u c k erscheint am 1. März, 1. Juni, 1. September und am 1. dezember. das Abonnement für vier Hefte kostet 20,00 ` (Ausland zzgl. Versand). Es verlängert sich um weitere vier
Hefte, wenn es nicht binnen zwei Wochen nach Erhalt des jeweils vierten Heftes schriftlich gekündigt wurde. Einzelhefte können bei der redaktion zum Preis von 5,90 ` (zzgl. Versand) bestellt werden. HorcH und Guck
• Winsstraße 60, 10405 Berlin • Tel. 030 / 88 552 170 • E-Mail: info@horch-und-guck.info •
w w w. h o r c h - u n d - g u c k . i n f o
Erschienen 2008, erhältlich über die Geschichtswerkstatt oder die TLStU Erfurt, 2,50 €.
Vortragsreihe „Frieden und Gerechtigkeit“ Veranstaltungen des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (www.thueraz.de) in Kooperation mit der Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt und der BStU Außenstelle Erfurt.
Frieden schaffen ohne Waffen Foto: ThürAZ (Sammlung Thalmann)
Vorträge in Jena, Camsdorfer Ufer 17, 07749 Jena 31. Mai 2012 – Friedensbewegung in Jena Stefanie Falkenberg, Historikerin, Jena 19.30 Uhr, ThürAZ 12. Juli 2012 – Friedensbewegung in Erfurt 1978-1983 Ina Metzner, Kulturwissenschaftlerin, Saarbrücken 19.30 Uhr, ThürAZ Vortrag in Erfurt: 27. Juni 2012 – Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung in der DDR Christian Sachse, Politikwissenschaftler/Theologe, Berlin 19.00 Uhr, Kleine Synagoge Erfurt, An der Stadtmünze 4/5
Ökumenischer Friedensgottesdienst Gera, 1979 Foto: ThürAZ (Sammlung Thalmann)
Thälmannpioniere vor dem Denkmal des kleinen Trompeter in Halle [eingeweiht 1958], Quelle: Heimatkunde. Lehrbuch für die Klasse 3, Berlin: Volk und Wissen, 1984, Umschlaginnenseite.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
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