Das Eisen in der Architektur des 19. Jahrhunderts

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Kapitel I Industriegesellschaft und Eisenbau im Kapitalismus Das erstmalige Erschmelzen des Eisens aus dem Erz war gewiß eine der folgenreichsten menschlichen Leistungen. Kaum vorstellbar ist es, daß Produktion und Kultur ohne eiserne Pflugschar, ohne eisernes Werkzeug die heutige Höhe erreicht hätten. So könnten Jahrtausende vom uneingeschränkten Lob des Eisens künden, wenn neben dem lebenfördernden Einsatz des neuen Rohstoffs nicht sogleich der lebenvernichtende getreten wäre. »Das Eisen ist das beste Werkzeug im Leben und zugleich das schlimmste. Mit ihm durchfurchen wir die Erde, pflanzen Bäume, scheren die Hecken und schneiden die Reben; mit ihm bauen wir Wohnungen und behauen die Steine. Zu vielerlei Nützlichem brauchen wir es. Aber auch zum Krieg, zu Raub und Mord, und nicht nur Mann gegen Mann, sondern auch aus der Ferne, zu Wurf und Flug – nach meiner Ansicht die abscheulichste Hinterlist, die der menschliche Geist je ersann.« 1 Als Plinius d. Ä. diese Worte niederschrieb, hatte man das Eisen schon mehrere Jahrhunderte in Gebrauch. Vereinzelte Funde lassen darauf schließen, daß es im 4. Jahrtausend v. u. Z. bekannt war. Wirtschaftliche Bedeutung erhielt es aber erst mit Beginn der »Eisenzeit« an der Wende des 2. zum 1. Jahrtausend v. u. Z. Seitdem ist das Eisen Grundlage der materiellen Kultur der Menschheit. An seiner erregenden Geschichte hat das 19. Jahrhundert wohl das wichtigste Kapitel mitgeschrieben. Plinius spricht davon, daß man Eisen unter anderem zum Hausbau gebrauche. Tatsächlich läßt es sich vielfach im antiken Bauwesen nachweisen, jedoch nur in untergeordneter Funktion als gelegentlich angewendetes Verbindungsmittel. Auch dem Mittelalter und der folgenden Zeit diente es nur zu Verankerungen im Mauerwerksbau, besonders bei den Gewölben und Kuppeln. Erst nach Mitte des 18. Jahrhunderts trat das Eisen in solchem Unfang als selbständiges, Stein oder Holz ersetzendes konstruktives Material auf, daß die Architektur eine neue Grundlage erhielt. Sein Eindringen in die Baukonstruktion fiel mit dem Beginn der industriellen Revolution, jeder tiefgreifenden technischen und sozialökonomischen Umwälzung zusammen, die im Ergebnis zum modernen Kapitalismus führte. Der Eisenbau des 19. Jahrhunderts ist ursächlich mit diesen gesellschaftlichen Prozessen verknüpft.

Die industrielle Revolution 2 Maschinelle Großproduktion Mit dem Begriff »industrielle Revolution« charakterisieren Marx und Engels den Übergang von der Manufaktur zur maschinellen Großproduktion. Im Arbeitsmittel fand diese tiefgreifende Umwälzung der Produktionsweise ihren Ausgangspunkt. Das manuell geführte Handwerkszeug wurde abgelöst durch die Maschine. Nach Marx, der im Kapital Bd 1, Kapitel 13 diesen Prozeß ausführlich darstellt und dem wir hier unter Außerachtlassung der neuzeitlichen terminologischen Diskussionen3 folgen, besteht alle enwickelte Maschinerie aus drei wesentlich verschiedenen Teilen: der Bewegungsmaschine, dem Transmissionsmechanismus und der Werkzeug- oder Arbeitsmaschine. Die ersteren sind nur dazu da, die Werkzeugmaschine in Bewegung zu setzen. »Dieser Teil der Maschinerie, die Werkzeugmaschine, ist es, wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht. Sie bildet noch jeden Tag von neuem den Ausgangspunkt, sooft Handwerksbetrieb oder Manufakturbetrieb in Maschinenantrieb übergeht«. Als Folge davon erhielt auch die Bewegungsmaschine eine »von den Schranken menschlicher Kraft völlig emanzipierte Form.« Aber sie gab nicht den unmittelbaren Anstoß zur Umwälzung der Produktionstechnik. »Die Dampfmaschine selbst […] rief keine industrielle Revolution hervor. Es war vielmehr umgekehrt die Schöpfung der Werkzeugmaschinen, welche die revolutionierende Dampfmaschine notwendig machte.« Marx unterscheidet zwei Stufen der maschinellen Produktion: Kooperation vieler gleichartiger Maschinen und das Maschinensystem. Letzteres erhält durch einen zentralen Antriebsautomaten seine entwickeltste Gestalt. »An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt, und dessen dämonische Kraft, erst Versteckt durch die fast feierlich gemessene Bewegung seiner Riesenglieder, im fiederhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht.« Diese Charakteristik führt nicht nur in faszinierender Weise die neue Qualität des revolutionierten, nunmehr maschinellen Arbeitsmittels vor Augen, sondern deutet auch darauf hin, daß es eine gegenüber früher völlig veränderte Organisation der Produktion bedingt. Die Manufaktur beruht auf handwerklicher Arbeit. Der Einzelarbeiter führt mit seinem

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Plinius, Hist.nat. III,3 u. XXXIV,37–41 u. 43, hier zitiert nach Meyer 1907, S. 13 u. Gottgetreu 1885, S. 2. Vgl. Marx 1953, Kap.13 – Engels 1952, S. 31ff – Engels 1882, S. 99ff – Von neuerer Literatur außer Mottek 1964, S. 65ff besonders Kuczynski 1964, S. 1ff, dort ausführliche Kritik der verschiedenen Auffassungen. In beiden Werken weitere Literaturhinweise. Ausführlich dazu Kuczynski 1964 S. 11–25.

I. Industriegesellschaft und Eisenbau 27


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